Steinwürfe und Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte sind keine entschuldbaren Verstöße gegen eine angebliche „Willkommenskultur“. Sie sind Vorstufen von Mordversuchen.
Am Anfang stehen Pöbeleien und Sprechchöre gegen Ausländer, es folgen Aufmärsche und Hassreden gegen Migranten, daraus wachsen Prügel und Überfälle, am Ende stehen Hetzjagden und Totschlag. Die 202 im ersten Halbjahr 2015 gezählten Attacken auf Gebäude, in denen Flüchtlinge untergebracht sind oder werden, sind Untaten einer rassistisch grundierten deutschen Bevölkerung.
Daneben ist unübersehbar: Es gibt auch eine weit verbreitete Hilfsbereitschaft. Nachbarn werden Paten für verzweifelte Geflüchtete. Sie spenden Kleidung und Nahrung und Grundbedarf, geben Deutschunterricht, begleiten die Erwachsenen zu Ämtern und die Kinder zu Ärzten. Unternehmer bieten Ausbildungs- und Arbeitsplätze an. An etlichen Orten schlägt Mitleid in Herzlichkeit um. Es bildet sich eine humanistische demokratische Gesellschaft. Nicht nur das Erinnern an die im und nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat Vertriebenen, auch die aktuellen Bilder vom Mittelmeer, aus dem Nahen Osten, vom Balkan und aus weiten Teilen Afrikas erzeugen ihre Wirkungen.
Mehr Schutz für die schutzlosen Flüchtlinge wird jetzt gefordert. Als ob es nicht scheußlich genug wäre, dass jüdische Kindergärten und Synagogen von Polizisten bewacht werden müssen. Wie soll denn obendrein auch noch auf Turnhallen, Zeltstädte, Containersiedlungen oder leerstehende Hotels aufgepasst werden, von denen immer mehr dringend gebraucht werden? So viele Wachleute gibt es gar nicht – abgesehen davon, dass die Gemeinden dafür kein Geld übrig hätten.
Es ist keine einfache Lösung absehbar für diese Schande, die mit Schrecken und Entsetzen enden wird. Die einen werden sagen: „So etwas konnten wir nicht ahnen.“ Die anderen: „Wir haben es immer gewusst.“ Auf jeden Fall werden es „die anderen“ gewesen sein.
Parteipolitiker könnten immerhin vorsorgen, indem sie eine gemeinsame Sprache finden und alles unterlassen, was die schon vorhandenen Stimmungen ausnutzt oder anheizt. Es fehlen Konzepte zur Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus, dessen Grenzen zum Rechtsextremismus, zum Rassismus und zum Antisemitismus fließend sind. Auch konkreten Szenen wie Burschenschaften oder Fußballrowdies muss etwas entgegnet werden. Wegsehen oder auf den Verfassungsschutz warten reicht nicht. Stattdessen müssen die beispielhaften Engagements von Bürgern, Kirchen, Gewerkschaften und Kommunen stärker beachtet und herausgestellt werden.
Wer von Asylschwemme, Flüchtlingsstrom, Zuwanderungswelle, massenhaftem Missbrauch, Migranteninvasion und Überfremdung schwafelt, wer „scharfkantige“ Rezepte verlangt oder „Auffanglager“ empfiehlt für Ankömmlinge aus bestimmten Ländern, die als „sicher“ gelten, aber unsicher sind, macht sich mitverantwortlich. Und wird mitschuldig an der Beihilfe zu Verbrechen. Wer radikale Vokabeln benutzt oder ihnen nicht widerspricht, wer provozierend nur über Mühen, Probleme, Risiken und Gefahren spricht, ist Mittäter der Brandstiftung.
Tage der offenen Tür in umzäunten Flüchtlingswohnstätten, die fälschlich „Heime“ genannt werden, sind sinnvoll, um die Leute aufzuklären. Sie sollen nicht nur sehen, in welch lausige Enge die Zuflucht Suchenden gepfercht werden. Sie sollen erleben, in welcher Umgebung Erwachsene, Jugendliche und Kinder aufwachsen müssen, die einmal mit uns leben werden. Sie müssen lernen zu erkennen, welche Wege zur Eingliederung führen. Nicht Abschreckung und nicht Abwehr. Nicht Steine und keine Brandsätze. Sondern offene Türen.