Kyriakos Mitsotakis hat die zweite Parlamentswahl vom 25. Juni erwartungsgemäß klar gewonnen. Auch die wiederholte Niederlage der Syriza war keine Überraschung, wohl aber Alexis Tsipras Rückzug, der seine Partei kalt erwischt hat. Unerwartet war auch das Abschneiden der kleinen Parteien mit dem Ergebnis, dass im Parlament nun acht Fraktionen sitzen, und nicht nur fünf wie nach der Wahl vom 21. Mai. Dass drei der Kleinparteien mit rechtsradikalen Parolen im Stimmenpool der Nea Dimokratia (ND) fischen konnten, ist für die zweite Mitsotakis-Regierung ein Warnsignal.
Hier die Stimmenanteile der in der neuen Vouli vertretenen Parteien (in Klammern die Gewinne/Verluste gegenüber der Wahl vom 21. Mai) und die Anzahl der Parlamentssitze:
• ND: 40,55 Prozent (-0,24), 158 Sitze
• Syriza: 17,84 Prozent (-2,22), 48 Sitze
• Pasok: 11,85 Prozent (+0,39), 32 Sitze
• ΚΚΕ: 7,69 Prozent (+0,46), 20 Sitze
• Spartiaten: 4,64 Prozent, 12 Sitze
• EL: 4,44 Prozent (-0,01), 12 Sitze
• Niki: 3,69 Prozent, 10 Sitze
• Plevsi Elevtherias: 3,17 Prozent, 8 Sitze
Die zweite Wahl zum griechischen Parlament erbrachte im wesentlichen das Resultat, das sich bereits fünf Wochen zuvor bei der Wahl vom 21. Mai abgezeichnet hatte. Die konservative ND behauptete ihre Position als weitaus stärkste Partei. Mit ihrem Stimmenanteil von 40,55 Prozent konnte sie sich auch die 50 Bonussitze sichern, die ihr nach dem verstärkten Verhältniswahlrecht zustehen. Damit erreichte Mitsotakis‘ Partei – trotz eines marginalen Rückgangs um 0,24 Prozentpunkte – eine sichere parlamentarische Mehrheit von 158 Sitzen, die sie bei der ersten Wahl – nach dem reinen Verhältniswahlrecht – noch verfehlt hatte.
Von den anderen vier Parteien, die es am 21. Mai ins Parlament geschafft hatten, haben drei ihr prozentuales Ergebnis vom 21. Mai erwartungsgemäß bestätigt. Die sozialdemokratische Pasok als drittstärkste Partei konnte sich um 0,39 Prozentpunkte auf 11,85 Prozent verbessern, die KKE als viertstärkste Kraft um 0,46 Prozentpunkte auf 7,63. Auch die rechtsradikale EL (Elliniki Lysi, also „Griechische Lösung“) behauptete ihre Position mit 4,44 Prozent.
Die große Ausnahme ist die Syriza. Der Linkspartei war bereits bei der ersten Wahl ein Drittel ihres Stimmenpotentials (bezogen auf die Wahl vom Juli 2019) weggebrochen; fünf Wochen später verlor sie weitere 2,22 Prozentpunkte und blieb mit 17,84 Prozent deutlich unter der symbolischen 20-Prozent-Grenze. Zugleich ist der Rückstand gegenüber der ND nochmals angewachsen: auf nunmehr fast 24 Prozentpunkte.
Syriza: Seit 2015 gingen 1,3 Millionen Stimmen verloren
Noch dramatischer wird das Bild für die Syriza, wenn man die Wählerzahlen betrachtet. Insgesamt hat die Linkspartei seit der (verlorenen) Wahl von 2019 rund 850.000 Stimmen eingebüßt; geht man von der (siegreichen) Wahl vom Januar 2015 aus, sind es sogar 1,316 Millionen Stimmen. Damit sind Alexis Tsipras und seiner Partei seit ihrem triumphalen Sieg von 2015 sechs von zehn Wählerinnen und Wählern abhanden gekommen.
Die neuerlichen Verluste lassen sich auch nicht mit der deutlich verminderten Wahlbeteiligung vom 25. Juni zu erklären. Dass diese angesichts des klaren Meinungsbilds vom 21. Mai um 8 Prozentpunkte (auf 52,8 Prozent) sinken würde, war keine Überraschung.(1) Die 930.000 „fehlenden Stimmen“ schlugen bei allen Parteien zu Buche, aber in sehr unterschiedlichem Umfang. Auch der ND gingen 293.000 Stimmen verloren, aber für die Syriza wiegt der Verlust von weiteren 255.000 Stimmen weitaus schwerer.(2)
Der einzige „Erfolg“, den die Linkspartei aus dem Ergebnis der zweiten Wahl herauslesen kann, ist nicht ihr eigenes Verdienst. Da die Pasok nur minimale Zugewinne machte, konnte die Syriza ihre Hegemonie in der linken Hälfte des politischen Spektrums behaupten. Die Pasok hat zwar den Rückstand gegenüber der Syriza von 8,6 auf 6 Prozentpunkte verkürzt, aber die Sozialdemokraten hatten sich auf dem Weg zu ihrem erklärten Ziel, wieder die dominierende linke Kraft zu werden, schnellere Fortschritte versprochen. Die erwartet sie jetzt bei den Kommunal- und Regionalwahlen im Oktober, bei der sie sich bessere Chancen ausrechnet, weil sie organisatorisch auf kommunaler Ebene – vor allem in der Provinz – weit kräftiger verankert ist als die Syriza. Die Pasok und ihr Vorsitzender Nikos Androulakis haben bereits klargestellt, dass sie bei den Kommunalwahlen keinerlei lokale Bündnisse mit ihrem Konkurrenten eingehen wird. Man will in aller Ruhe abwarten, wie die Syriza unter dem Verlust ihrer Leitfigur leidet.
Tsipras: Ein Rücktritt mit Folgen
Der Rücktritt von Alexis Tsipras hat seine Genossinnen und Genossen völlig überrascht. Nach der zweiten Niederlage vom 25. Juni hatte sich der Parteivorsitzende drei Tage völlig zurückgezogen. Über seinen Entschluss, sich im Alter von 49 Jahren auf die Rolle des elder statesman zurückzuziehen, war nur sein allerengster Kreis unterrichtet. Damit machte Tsipras klar, dass er eine sehr persönliche Entscheidung getroffen hat, die durch parteipolitische Erwägungen nicht mehr zu revidieren war.
Für die Syriza hat Tsipras Rücktritt weitreichende Folgen, denn er hat die Krise der Linkspartei nicht nur dramatisch veranschaulicht, sondern noch erheblich vertieft. Der bis zuletzt unangefochtene Vorsitzende war nicht nur der große Stimmenfänger, sondern auch der innerparteiliche Integrator, der die verschiedenen Gruppen und Tendenzen der Syriza zusammengehalten hat. Ohne ihn ist die Regression zu einer marginalen Größe, die viele Kommentatoren schon nach dem 21. Mai prophezeit haben, sehr viel wahrscheinlicher geworden.(3)
Jetzt steht die Partei, die nach ihrem Selbstverständnis die „erste linke Regierung“ Griechenlands stellte, vor einer schwierigen Aufgabe, die man so beschreiben könnte: Eine politische Kraft, die mit und durch die Krise groß geworden ist, muss nun erwachsen werden. Sie muss die Gründe für ihre Niederlage analysieren und ein Konzept entwickeln, das den weiteren Niedergang aufhalten kann. Und das ohne eine allseits akzeptierte Führungsautorität, die diesen Prozess moderieren könnte, der noch schwieriger wird, weil die neue Leitfigur zugleich das „neue Gesicht“ der Syriza personifizieren soll.
Tsipras-Nachfolge: Drei Kandidaten und eine Favoritin
In der Partei entbrannte sogleich ein Streit über die Frage, ob man zuerst die neue Führung wählen oder zuvor die Wahlniederlage aufarbeiten und eine breite programmatische Debatte führen soll. Die Mehrheit in den Führungsgremien tendiert zur Wahl der oder des neuen Parteivorsitzenden im September, also noch vor den Kommunalwahlen im Oktober. Aber es gibt auch Stimmen, die kritisieren, man dürfe den Karren nicht vor das Pferd spannen: Vor der Entscheidung über die neue personelle Führung müsse auf allen Ebenen eine selbstkritische Diskussion stattfinden und das Programm einer „erneuerten“ Syriza“ erarbeitet werden, das auf einem Parteitag im November verabschiedet werden soll. Diese Argumentation geht offensichtlich davon aus, dass die Kommunalwahlen im Oktober ohnehin einen weiteren Rückschlag bringen werden, mit dem man die neue Führung nicht belasten sollte. Dagegen befürchten die Befürworter einer raschen Entscheidung über die Parteiführung (per Urwahl durch die Mitglieder), dass eine kopflose Syriza im Oktober ein komplettes Desaster erleben könnte – etwa unter 10 Prozent fallen könnte.
Nachdem das Politbüro der Syriza am 10. Juli keine Einigung erzielen konnte, beschloss das Zentralkomitees am 15. Juli, dass die Frage der Tsipras-Nachfolge in zwei Wahlgängen am 10. und 16. September entschieden wird. Dabei gibt es mit Efi Achtsioglou eine klare Favoritin. Die ehemalige Arbeitsministerin erfüllt drei wichtige Kriterien: Mit ihren 38 Jahren verkörpert sie eine neue Generation; als Mitglied der Tsipras-loyalen Fraktion steht sie zugleich für Kontinuität; und sie verfügt über eine eigenständige Autorität als kompetente Fachministerin, die von allen Mitgliedern des zweiten Tsipras-Kabinetts die höchsten Popularitätswerte erzielte. Als Kandidat des linken Flügels wird Evkleidis Tsakalotos antreten, der sich als Finanzminister der zweiten Tsipras-Regierung auch auf EU-Ebene – als zäher Verhandlungsführer in einer verlorenen Sache – Respekt verschafft hat. Der dritte Kandidat Nikos Pappas ist ein weiterer Ex-Minister, der zudem ein enger Vertrauter von Alexis Tsipras war. Seine Wahl gilt als sehr unwahrscheinlich, weil er als klassischer Apparatschik gilt, der jenseits der Parteigrenzen äußerst unpopulär ist. Über weitere Namen zu spekulieren, ist derzeit schon deshalb müßig, weil einige Namen von „feindlichen Medien“ ins Spiel gebracht werden, die einen innerparteilichen Zwist goutieren würden.(4)
Das Syriza-Problem: Sozialdemokratisch wider Willen
Was die inhaltliche Auseinandersetzung betrifft, so wird sie das grundsätzliche Dilemma einer Partei thematisieren müssen, die mit einem dezidiert linken Programm auf der Woge der Empörung über die Zumutungen der Troika-Spardiktate an die Macht getragen wurde, um als Regierungspartei in kürzester Zeit auf den Boden der harten Realitäten zu krachen. Damit stand die Partei, als sie merkte, dass sie an der Regierung, aber nicht an der Macht war (wie es Tsipras formulierte) vor einer existentiellen Frage: Soll sie ihr demokratisches Mandat wegen Unerfüllbarkeit ihres zentralen Wahlversprechens zurückgeben – oder soll sie weiter regieren, um aus einer üblen Lage das Beste zu machen? Mit den Wahlen vom September 2015 verschaffte sich Tsipras den demokratischen Auftrag für die zweite Strategie. Damit vollzog er für die Syriza automatisch und ohne es auszusprechen, den ersten, aber nicht mehr umkehrbaren Schritt in Richtung Sozialdemokratie – die ihren Daseinszweck seit langem darin sieht, das Schlimmste zu verhindern (wobei ihr häufig nicht einmal das gelingt).
Tsipras hat auch in den letzten beiden Wahlkämpfen mit verhaltenem Stolz auf die – wenn auch bescheidene – sozialdemokratische „Erfolgsbilanz“ seiner Regierungszeit (2015 bis 2019) verwiesen. Dennoch konnte er sich nicht zu einem pragmatisch-reformistischen Programm bekennen, das im heutigen Griechenland der einzige realistische – und mehrheitsfähige – Gegenentwurf zur fundamentalistisch neoliberalen Agenda der Mitsotakis-ND ist. Dass die Syriza nach ihrer Wahlniederlage von 2019 erst noch das viel größere Desaster von 2023 brauchte, um sich zur ihrer längst vollzogenen Richungsentscheidung zu bekennen, ist ein tragisches Beispiel für die Lehre: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Denn inzwischen hat die neue Pasok wieder gute Chancen, ihre alte Hegemonie auf dem umkämpften Terrain der linken Mitte zurückzugewinnen.
Die Linke und die Rechte: ein düsteres Panorama
Betrachtet man den Zustand und das Potenzial der griechischen Linken aus überparteilicher Perspektive, erscheint das Bild genauso düster wie die Zukunft der Syriza. Zum ersten Mal seit 1977 haben die Parteien der Linken, die eine Regierung via parlamentarischer Mehrheit anstreben, nicht einmal 30 Prozent der abgegebenen Stimmen errungen. Selbst wenn man die KKE dazurechnet, die aber jede Koalition mit anderen Parteien innerhalb des „bürgerlichen Systems“ ablehnt(5), bleibt das linke Spektrum erstmals seit 1977 unter 40 Prozent. Damit verstärkt sich – auch bei diesen Wahlen – die Dominanz der Rechten, die mit knapp 54 Prozent der Wählerstimmen ihren höchsten Stand seit 1977 erreicht hat.
Auf diese Zahl kommt man, wenn man zum Stimmenanteil der rechten Nea Dimokratia die Prozente addiert, die von rechtsradikalen Parteien errungen wurden. Bei der Wahl vom 25. Juni war die Tatsache, dass es gleich drei von ihnen ins Parlament geschafft haben, die einzige wirkliche Überraschung – die auch für Mitsotakis und die ND eine unliebsame war. Der Erfolg dieser rechtsextremistischen Konkurrenz bedeutete, dass die parlamentarische Mehrheit der Nea Dimokratia knapper ausfiel als erhofft. Da in der neuen Vouli statt fünf Parteien (wie nach dem 21. Mai) nunmehr acht vertreten sind, liegt der Anteil der Stimmen, die sich nicht in Parlamentsmandaten auszahlen, nur noch bei 6,5 Prozent. Damit fallen der ND lediglich 158 Sitze zu, während sie bei einem Fünf-Parteien-Parlament mit demselben Wahlergebnis auf 171 Sitze gekommen wäre.
Dass drei weitere Kleinparteien nach dem 25. Juni in der Vouli vertreten sind, hat ebenfalls mit der reduzierten Wahlbeteiligung zu tun. Bei den drei Parteien, die im zweiten Anlauf die 3-Prozent-Hürde geschafft haben, handelt es sich um zwei eindeutig rechtsradikale Gruppierungen und eine Partei, die sich einer klaren Zuordnung entzieht. Diese neuen Parlamentsfraktionen sollen hier kurz vorgestellt werden.
Plevsi Elevtherias: nicht rechts oder links, aber autoritär
Die mit acht Sitzen kleinste neue Fraktion firmiert unter dem Namen „Plevsi Elevtherias“ (Kurs der Freiheit). Die Plevsi schaffte am 25. Juni – trotz Stimmenverlusten gegenüber dem 21. Mai – mit einem Anteil von 3,17 Prozent den Einzug in die Vouli. Die von der ehemaligen Parlamentspräsidentin Zoi Konstantopoulou gegründete Bewegung hat zwar linke Wurzeln, da ihre Vorsitzende einer prominenten linken Familie entstammt und ihre politische Karriere in der Syriza begonnen hat. Auch heute noch vertritt sie gesellschaftspolitisch progressive Positionen und kämpft zum Beispiel für die Rechte der LGBT-Community. Seit ihrem Abgang aus der Linkspartei hat sie jedoch explizit nationalistische Positionen bezogen und in der Mazedonien-Frage die rechtsradikale Rhetorik übernommen, die den von der Tsipras-Regierung mit Skopje ausgehandelten Prespa-Vertrag als „nationalen Ausverkauf“ denunziert.(6)
Zoi Konstantopoulou definiert sich selbst als „weder rechts noch links“ und hält diese Labels ohnehin für antiquiert. Doch mit ihrem selbstherrlichen Führungsstil – der schon 2015 ihre achtmonatige Amtszeit als Parlamentspräsidentin geprägt hat – verhält sich die eloquente Rechtsanwältin wie die Generalbevollmächtigte eines imaginären „Volkswillens“. Nach ihren eigenen Worten hat die Abgeordnete Konstantopoulou hundert Mal mehr Gewicht als jedes andere Parlamentsmitglied, weil durch ihren Mund die Gesellschaft zu Wort komme. Den sieben weiteren Mitgliedern der Plevsi-Fraktion billigt sie lediglich zu 20 Abgeordnete aufzuwiegen. Die Zusammensetzung der Fraktion (fünf männliche und zwei weiblichen Abgeordnete) hat die Parteichefin im Alleingang bestimmt, indem sie nach der (erfolglosen) Wahl vom 21. Mai die Spitzenplätze auf den Wahllisten neu besetzte. Konstantopoulou rechtfertigte diese autoritäre Methode mit dem Argument, als „Coach“ ihres Teams habe sie allein zu bestimmen, wer auf dem Spielfeld steht und wer auf der Ersatzbank sitzt.(7)
Die beiden anderen neuen Parlamentsfraktionen sind eindeutiger zuzuordnen. Die Partei namens Niki („Sieg“), die mit 3,69 Prozent 10 Sitze errungen hat, ist im Grunde eine ultra-religiöse und nationalpopulistische Sekte. Bei den „Spartiaten“ handelt es sich um eine ultranationalistische Gruppierung, die zum Sammelbecken der Stimmen wurde, die bei den Wahlen von 2019 noch der inzwischen verbotenen Neonazi-Partei Chrysi Avgi („Goldene Morgenröte“) zugeflossen waren.
Niki: Patriotische Stimme des orthodoxen Fundamentalismus
Die „Demokratische Patriotische Bewegung Niki“ wurde im Juni 2019 von dem Theologen Dimitris Natsios gegründet, dessen national-religiöse Predigten über einen regionalen TV-Sender der Provinz Zentralmazedonien verbreitet werden. Landesweit bekannt wurde er als Kritiker griechischer Schulbücher, die angeblich die christlich-orthodoxe Identität der Nation und deren heroische Geschichte nicht ausreichend würdigen. Die Gründung der „Niki“ war eine direkte Reaktion auf den von der Tsipras-Regierung ausgehandelten Vertrag, mit dem Griechenland den nördlichen Nachbarstaat unter dem Namen „Nordmazedonien“ anerkannt hat. Für Leute wie Natsios war dieser Vertrag eine „Schmach“, die der Nation von einer Bande „vaterlandsloser Linken“ angetan wurde.
Zu einer ernstzunehmenden Größe wurde die Niki erst drei Wochen vor der Wahl vom 21. Mai, in der sie aber noch knapp an der 3-Prozent-Hürde scheiterte. Nach sicheren Informationen wurde sie von fundamentalistischen Kirchen-Kreisen unterstützt – insbesondere von einigen der Athos-Klöster –, die der Volksmund als „orthodoxe Taliban“ bezeichnet. Im Wahlkampf zeterte die Niki gegen alle System-Parteien – also auch die ND – die „das Vaterland zerstört“ und die „patriotischen Gefühle des griechischen Volkes verschachert“ haben. Mit solchen Parolen schaffte es die Partei bei der zweiten Wahl mit 3,7 Prozent ins Parlament (wobei sie als einzige Partei trotz der geringeren Wahlbeteiligung noch 20.000 Stimmen dazugewinnen konnte).
Die Spartiaten: ein Sammelbecken der Neonazis
Die dritte Partei, die neu in der Vouli vertreten ist, war vor der Mai-Wahl noch gar nicht auf dem demoskopischen Bildschirm. Die „Spartiaten“ (Σπαρτιάτες ) waren bis Mai eine unter mehreren nationalistischen Sekten, deren Gründer Vassilis Stigas zuvor mehrere rechtsradikale Parteien durchlaufen hatte. Ernsthafte Chancen auf Parlamentssitze eröffneten sich für die Spartiaten erst zwei Wochen vor der zweiten Wahl, als sich der prominenteste Neonazi Griechenlands zu ihr bekannte.
Der zu 13 Jahren Gefängnis verurteilte Ilias Kasidiaris, der für die Partei Chrysi Avgi – bis zu deren Verbot als kriminelle Vereinigung – als Sprecher der Parlamentsfraktion agierte hatte, rief seine Anhänger aus dem Knast heraus zur Wahl der „Spartiaten“ auf. Zuvor hatte Kasidiaris zweimal versucht für das Parlament zu kandidieren. Zuerst mittels der Gründung einer Partei namens „Ellines“, dann über eine Liste von 29 „unabhängigen“ Kandidaten. Beide Anläufe wurden von der zuständigen Sonderkammer des Obersten Gerichts gestoppt.(8)
Unmittelbar nach dem zweiten Urteil des Obersten Gerichts vom 8. Juni twitterte Kasiadaris, er werde mit all seinen Kräften die Spartiaten unterstützen, „die auf ewig die vorderste Front der Griechen im Kampf für die Freiheit symbolisieren“. In der Woche vor den Wahlen vom 25. Juni präsentierte die Partei den Neonazi auf ihren Wahlplakaten an der Seite des Parteigründers Vassilis Stigas – quasi als ihren Spitzenkandidaten. Damit wurden die Spartiaten automatisch zum Sammelbecken für die versprengte Chrysi-Avgi-Gefolgschaft. Mit dem Ergebnis, dass die Partei 4,64 Prozent der Stimmen und 12 Parlamentssitze erringen konnte.
Ilias Kasidiaris: Schubkraft für die Spartiaten
In den griechischen Medien werden die Spartiaten seitdem als „Trojanisches Pferd“ bezeichnet, das die Neonazis um Kasidiaris ins griechische Parlament geschmuggelt hätten. Aber das Bild ist schief. Von einem Täuschungsmanöver kann keine Rede sein, denn die politische Identität der Spartiaten offenbarte sich nicht erst auf den Kasidiaris-Plakaten oder in dem devoten Dankeschön des Parteivorsitzenden Stigas.(9) Schon ein Blick auf die Kandidatenliste der Spartiaten zeigt die enge Verflechtung von „Hellenen“ und „Spartiaten“: Von den 60 Wahlkreiskandidaten der Partei hatten 19 der von Kasidiaris gegründeten Formation angehört. Und elf der zwölf Spartiaten, die jetzt in der Vouli sitzen, hatten zuvor bei den Ellines mitgemacht, einer von ihnen war sogar Mitglied der verbotenen Chrysi Avgi. Zur Parlamentsfraktion der Spartiaten gehört als Sprecher auch Charalambos Katsivardas, der im November 2022 auf einer Kundgebung der Ellines gesprochen hatte, bei der eine Video-Botschaft von Kasidiaris eingespielt wurde.(10) Offiziell bestätigt wurde die organisatorische Verbindung der Spartiaten mit Kasidiaris durch den Auftritt des Parteichefs am Tag nach den Wahlen. Dabei dankte Stigas dem verurteilten Neonazi für „die Unterstützung, die er uns gegeben hat, und die der Treibstoff war, der uns die Schubkraft verliehen hat, um unser Ziel zu erreichen“.
Die Affinität der griechischen Neonazis zu den „alten Spartiaten“ hatte sich bereits in der Parteihymne der Chrysi Avgi manifestiert, in der es heißt: „Wir sind die neuen Spartiaten, die mit den mutigen Herzen …“. Eine Publikation der Partei trug den Titel „Nea Sparti“ – mit dem Kürzel „NS“. Ein fester Ritus der Bewegung war auch der jährliche Aufmarsch am Ort der Thermopylen-Schlacht, wo die griechischen Rassisten des Heldentods der alten Spartaner im Kampf gegen die Invasoren aus dem Osten gedenken.
Die Erben der Chrysi Avgi: auch bei der Polizei
Woher kommen die 241.635 Stimmen für die politischen Erben der Chrysi Avgi? Nach Auswertung der exit polls stammen 18 Prozent der Stimmen für die Spartiaten von Leuten, die am 21. Mai nicht gewählt hatten; 27 Prozent hatten für die rechtsradikalen Konkurrenzparteien EL oder Niki gestimmt; 16 Prozent für die ND, 12 Prozent für die Plevsi; und knapp 10 Prozent für eine linke Partei (Syriza, Pasok, KKE). Der Rest kam von Splitterparteien.(11)
Zwei weitere Daten über das Stimmenpotential der Spartiaten sind besonders aufschlussreich. In der Altersgruppe von 17 bis 34 Jahren erzielten sie mit gut 8 Prozent einen fast doppelt so hohen Anteil wie beim gesamten Wählervolk. Hier zeigt sich also das Profil einer Partei „mit Zukunft“. Noch beunruhigender ist das Abschneiden der Partei bei den „Sicherheitskräften“ des Landes. Bei den Wahlen zwischen 2012 und 2015, als die Chrysi Avgi noch legal war, hatten die Neonazis auffällig gut in den Athener Wahllokalen abgeschnitten, in denen die Mitglieder von Polizeieinheiten (insbesondere der kasernierten Bereitschaftspolizei) registriert waren. Dasselbe Muster taucht jetzt bei den Zahlen für die Spartiaten auf: Genau in diesen Wahllokalen wurden bis zu drei Mal mehr Stimmen für die Spartiaten abgegeben als im Athener Durchschnitt. Auf Basis dieser Zahlen gehen Wahlexperten davon aus, dass von diesen (knapp 3000) Polizeikräften zwischen 10 und 20 Prozent die Spartiaten gewählt haben.(12)
Elliniki Lysi: die dritte Kraft der Rechtsradikalen
Die parlamentarische Formation zur Rechten der Regierungspartei wird durch eine dritte Fraktion komplettiert, die in der Vouli schon seit 2019 mit 10 Abgeordneten vertreten war. Nach dem 25. Juni verfügt die Elliniki Lysi (EL) bei einem Stimmenanteil von 4,44 Prozent über 12 Sitze. Die ultranationalistische Partei wurde 2016 von Kyriakos Velopoulos gegründet, der sich als Journalist bezeichnet und einen TV-Kanal besitzt. Bekannt wurde er vor allem durch eine religiöse Telemarketing-Show, in der er seiner Kundschaft Heiltinkturen der Athos-Klöster verkaufte und ihnen zertifizierte Originalbriefe von Jesus Christus andrehte. Velopoulos ist ein Verehrer des ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán und propagiert in Anlehnung an Donald Trump die Parole „Greece First“. Mit ihrer religiös-orthodoxen Orientierung, die sie zum EU-Gegner wie zum Putin-Freund macht, steht die Velopoulos-Partei in direkter Konkurrenz zur „Niki“, die aber noch enger mit ultra-orthodoxen Kreisen verflochten ist.
Dass die rechtsradikalen Formationen ihr Stimmenpotential bei der zweiten Wahl stärker aktivieren konnten als fünf Wochen zuvor, erklärt sich vor allem durch zwei Faktoren: Zum einen ermutigte das Ergebnis der ersten Wahl Zehntausende von ND-Wählern, am 25. Juni rechtsradikal zu wählen, ohne den Wahlsieg von Mitsotakis zu gefährden. Zum anderen aktivierte das Wahlangebot der Spartiaten den harten Kern der Chrysi-Avgi-Anhänger, die am 21. Mai noch zu Hause geblieben waren. Die eindeutig rassistische Ideologie der von Kasiriadis inspirierten und beworbenen Partei macht sie zur „härteren“ Truppe im Lager der Rechtsradikalen, während die beiden religiös eingefärbten Parteien eher einen „altmodischen“ hellenischen Chauvinismus repräsentieren.
Der gemeinsame Nenner: Vaterland, Glaube, Familie
Dennoch gibt es im rechtsradikalen Lager einen gemeinsamen ideologischen Nenner: „patrida-thriskeia-oikojenia“. Die Dreifaltigkeit von Vaterland-Glaube-Familie ist seit 140 Jahren das Feldzeichen der gesamten griechischen Rechten, das von den diktatorischen Regimen (zuletzt von der Militärjunta 1967-1974) zur Staatsdoktrin erhoben wurde.
Die griechischen Rechtsradikalen von heute übersetzen diese Formel auf ihre eigene Weise. Dabei steht der Begriff Vaterland für „Kampf gegen die Migrantenflut“ und den Schutz der „Homogenität der Nation“ gegen „fremdländische“ und insbesondere muslimische Verunreinigungen. Der Begriff Religion steht für die Identität von Orthodoxie und Griechentum, für eine national-religiöse Prägung der schulischen Lehrinhalte, aber auch für die Diskriminierung religiöser Minderheiten. Hinzu kommt – als außenpolitische Dimension – eine pan-orthodoxe Solidarität, vor allem mit Russland und Putin.
Der Begriff Familie schließlich steht für Homophobie und Abwehr aller Forderungen der LGBT-Community, die vor allem mit familienpolitischen Argumenten attackiert wird. Die Stärkung der Nation durch mehr Geburten ist ein zentrales Anliegen aller drei Parteien und insbesondere der Niki, die als Spitzenkandidaten einen Maurermeister präsentierte, der auf neun Kinder und 72 Enkelkinder verweisen kann. Der gemeinsame orthodox-nationalistische Nenner beschwört Verschwörungstheorien, die auch gegen die Corona-Impfungen ins Feld geführt werden und häufig mit antisemitischen Klischees unterfüttert sind.
Rechtsradikale Hochburgen: Nordgriechenland und Mazedonien
Eine Eigenheit des griechischen Rechtsradikalismus ist die ungleiche geografische Verbreitung. Die Hochburgen aller drei Parteien rechts der ND liegen in Nordgriechenland und inbesondere in den beiden Verwaltungsregionen Zentralmazedonien (mit Thessaloniki) und Ostmazedonien und Thrazien. In 11 von 13 Wahlbezirken dieser beiden Regionen erreichten EL, Niki und Spartiaten zusammen einen Anteil von über 15 Prozent, in acht Bezirken lagen sie über 18 Prozent, in zweien sogar bei 20 Prozent und mehr.(13)
Der Erfolg der rechtsradikalen Parteien im griechischen Norden hat drei Hauptgründe. Der offensichtlichste ist die ewige „Mazedonienfrage“ (to makedoniko). Der Namenskompromiss mit dem Nachbarstaat im Norden, den die Tsipras-Regierung mit dem Prespa-Abkommen erreicht hat, empört im griechischen Mazedonien nach wie vor viele Menschen. Wer sich als Alleinerbe der antiken Mazedonier und als Nachkommen des Welteroberers Alexander des Großen fühlt, kann dem Nachbarstaat nicht einmal den Namen „Nordmazedonien“ zugestehen. Die anti-slawischen Ressentiments der griechischen „Mazedonienkämpfer“ sind auch ein historisches Relikt: zum einen der Volkstumskämpfe zwischen gräkophonen und slawophonen Mazedoniern zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in dem die orthodoxe Kirche eine führende und militante Rolle gespielt hatte; zum anderen des griechischen Bürgerkriegs (1947 bis 1950), den die siegreichen Patrioten mit dem Feindbild der „slawophilen Kommunisten“ bestritten.
Diese durch die Kirche und das staatliche Bildungssystem verfestigte Ideologie verdankt ihre Wirkung einem zweiten Faktor: dem Gefühl der Nordgriechen, innerhalb des „Athener Staates“ allenfalls die Bratsche zu spielen. Besonders ausgeprägt ist dieses Ressentiment in der mazedonischen „Hauptstadt“ Thessaloniki, die erst 1912 in den seit 1830 bestehenden neugriechischen Staat integriert wurde und die sich in ihrem bekanntesten Lied als die „große arme Mutter“ besingt. Das Armutsgefälle zwischen dem Norden und dem Süden des Landes ist in und seit der Krisenperiode von 2009 bis 2019 noch gewachsen. Das ist der dritte Faktor – sozusagen die soziale Basis – auf der die rechtsradikalen Parolen und Ideologeme ihre politische Wirkung entfalten können.
Griechische Besonderheit: Rechtsradikales Potential trotz rechter Regierung
Regionale und lokale Hochburgen rechtsradikaler Parteien sind in Europa keine Ausnahme, sondern die Regel (siehe Frankreich, Spanien, Italien und auch Deutschland). Überhaupt scheint das Erstarken der rechtsradikalen Kräfte in Griechenland einem allgemeinen Trend zu entsprechen; im EU-Vergleich nimmt sich das Stimmenpotential von EL plus Niki plus Spartiaten – 13 Prozent auf nationaler und an die 20 Prozent auf regionaler Ebene – sogar noch harmlos aus. Das Besondere am griechischen Wahlergebnis vom 25. Juni ist daher nicht die absolute Stärke der nationalistisch-klerikalen Extremisten. Erklärungsbedürftig ist jedoch deren relative Stärke in einer politischen Landschaft. Denn die klassischen patriotischen Themenfelder werden bereits nahezu komplett von der konservativen ND abgedeckt, die traditionell sehr viel stärker im extremistischen Milieu verankert ist als anderswo. Es gibt in der EU keine andere etablierte Rechtspartei, die „patriotische“ Themen und xenophobe Ängste so systematisch bedient wie die ND – das gilt sowohl für die Ära Mitsotakis als auch für die Zeit davor. Und das nicht nur rhetorisch und symbolpolitisch, sondern konkret und mit drastischen Methoden.
Die Nea Dimokratia ist nicht nur die radikal neoliberal programmierte Partei von Mitsotakis, sondern gleichzeitig die politische Heimat von Radikalpatrioten, die sich auch im Rassemblement National, in der PiS und in der AfD zu Hause fühlen würden. Der heutige Regierungschef ist innerhalb der ND mit Hilfe dieser nationalistischen Kräfte an die Macht gekommen. Und er hat diese Kräfte belohnt und integriert, indem er drei ihrer prominentesten Vertreter – die aus der rechtsradikalen Laos-Partei zur ND übergelaufen waren – mit wichtigen Partei- und Regierungsämtern betraut hat. Vor den Mai-Wahlen konnte Mitsotakis als Stimmenfänger im rechtsradikalen Lager auch den ehemaligen Laos-Vorsitzenden und Rechtsextremisten Karatzaferis gewinnen, der den Regierungschef als großen Staatsmann und Patrioten feierte.
Ein nationales Ersatzthema: der türkische Syriza-Kandidat
Auf das rechte Lager zielt die Mitsotakis-Regierung auch mit ihrer harten Linie gegenüber Migranten und Flüchtlingen: mit einem hermetischen Sperrzaun an der Landgrenze zur Türkei und einer Pushback-Politik in der Ägäis.(14) Stets setzen die griechischen Konservativen auf die nationale Karte – vor allem im ewigen Konflikt mit der Türkei. Deshalb geriet die Regierung im Vorfeld der Mai-Wahlen in Not, als das Erdoğan-Regime während des türkischen Wahlkampfs nicht mehr die gewohnten täglichen Drohungen gegen Griechenland lieferte. Angesichts der Gefahr, dass der Feind verloren geht, musste Mitsotakis deshalb mit systematischer Hilfe der regierungsnahen Medien ein „Ersatzthema“ hochziehen: Drei Wochen vor der Wahl vom 25. Juni eröffnete die ND eine hysterische Kampagne gegen einen turkophonen Parlamentskandidaten der Syriza, der am 21. Mai ein Mandat im Wahlkreis Rhodopen (in Thrazien) erobert hatte. Und zwar angeblich nur deshalb, weil dieser Ferhat Özgür – wie der griechische Geheimdienst EYP erlauscht hatte – vom türkischen Konsulat in Komotini unterstützt wurde.
Diese Kampagne diente nicht etwa dazu, der Syriza ihr letztes Direktmandat abzujagen. Sie zielte vielmehr auf das rechtsradikale Wählerpotential in Nordgriechenland und war eine Reaktion auf die steigenden Umfragezahlen der ultra-orthodoxen Niki. Um diese Konkurrenz von rechts zu stoppen, warf Mitsotakis sämtliche ND-Minister, die aus dem rechtsradikalen Milieu stammten, an die mazedonische Wahlkampffront. Ohne großen Erfolg, wie die Zahlen vom 25. Juni zeigen (siehe oben). Die harten Mazedonien-Kämpfer haben Mitsotakis eben nie verziehen, dass er vor den Wahlen im Juli 2019 noch das verräterische Prespa-Abkommen verurteilt hatte, sofort danach aber als Regierungschef die Realität anerkannt und mit der Regierung in Skopje vernünftige Beziehungen entwickelt hat.
Mitsotakis und die Extremisten: unbequeme Konkurrenz von rechts
Kann man Mitsotakis und die ND für den erstaunlichen Erfolg der Rechtsextremisten verantwortlich machen, wie es einige linke Kommentatoren nach dem 25. Juni getan haben? Dass die rhetorische Pflege rechter Themen rechtsextremistische Positionen hoffähiger macht, trifft irgendwie immer zu. Damit konnte und kann die ND größere Gruppen des rechten Spektrums an sich binden, die anderswo extremistische Parteien wählen würden. Dass jetzt dennoch in der neuen Vouli 34 Abgeordnete sitzen, die Mitsotakis von rechts attackieren, kann dem Wahlsieger also gar nicht gefallen. In den ND-nahen Medien wird bereits gewarnt, diese Konstellation könne für die ND-Regierung bedrohlich werden, wenn diese ihre vollmundigen Versprechen aus den Wahlkämpfen vom Mai und Juni nicht einlösen kann.
Dass es damit erhebliche Schwierigkeiten geben wird, ist bereits absehbar. Mitsotakis selbst hat dies in seiner Regierungserklärung vom 6. Juli eingestanden, wenn auch nur indirekt. Nicht nur hat er die Erfüllung fast aller Vorwahl-Versprechen zeitlich auf die gesamte Amtszeit bis 2027 gestreckt; er hat auch den Generalvorbehalt formuliert, dass die ökonomische Entwicklung die nötigen Voraussetzungen für die angesagten Segnungen schaffen muss – getreu der neoliberalen Trickle-down-Theorie. Die in Aussicht gestellte Erhöhung des Lohnniveaus – bei gleichzeitiger Senkung der Steuern für die Reichen – ist stark von externen Faktoren abhängig: von der Entwicklung der globalen Konjunktur und speziell von den fiskalischen Spielregeln der EU und der Geldpolitik der EZB.
Das große Dilemma: die Finanzierung der Wahlversprechen
Die erste Mitsotakis-Regierung konnte die üppigen Wahlgeschenke, mit deren Hilfe sie sich eine zweite Amtszeit sichern konnte, im wesentlichen aus den üppigen Sonderfonds der EU finanzieren, insbesondere aus dem NGEU-Programm zur Bewältigung der Corona-Krise. Griechenland hat aus den EU-Töpfen seit 2020 mehr als 60 Milliarden Euro bezogen. Aber die Regierung hat diese Gelder nicht nach einem seriösen Plan ausgegeben, der sowohl der sozialen Gerechtigkeit als auch der Förderung nachhaltiger Investitionen dient, sondern zugunsten einer Klientel, die sie beschenkt hat wie keine Regierung zuvor. Darauf hat Kostas Kallitsis in der Kathimerini (vom 30. Juni 2023) hingewiesen, in dem er zugleich das zentrale Dilemma der neuen Regierung aufzeigt.
Die Kalkulation von Mitsotakis kann nicht aufgehen. Man kann nicht die Gehälter im öffentlichen Dienst und die Renten erhöhen, und zugleich die Steuer- und Abgabenbelastung der Unternehmen und der begüterten Klasse noch weiter senken. Zumal noch immer der „Elefant im Raum“ steht, wie Kallitsis die hohe Verschuldung des Landes nennt. Damit meint er nicht nur die Schuldenlast des griechischen Staats, die seit 2019 von 365 auf 400 Milliarden Euro gestiegen ist.(15) Wozu noch 250 Milliarden an privaten Schulden gegenüber Banken kommen, ganz zu schweigen von den Zahlungsrückständen von Unternehmen und Freiberuflern gegenüber dem Fiskus und den Sozialkassen, die auf 108 Milliarden Euro angewachsen sind (EfSyn vom 6. Juli 2023).
Dieses nach wie vor hoch verschuldete Griechenland hat zugleich das ungerechteste Steuersystem aller EU-Staaten: Der größte Teil der Staatseinnahmen stammt aus indirekten Steuern, die bekanntlich die einkommensschwachen Gruppen am stärksten belasten. Während das Verhältnis von direktem zu indirektem Steueraufkommen im EU-Durchschnitt bei etwa 1:1 liegt, kommen in Griechenland auf 1,00 Euro an direkten etwa 1,80 Euro an indirekten Steuern. Und während die Mitsotakis-Regierung jede Reduzierung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel verweigert, hat sie die direkte Steuer auf Dividendengewinne von 10 auf 5 Prozent abgesenkt (das ist der drittniedrigste Prozentsatz innerhalb der EU).
Ein zweites Problem: Wo bleiben die produktiven Investitionen?
Die neoliberale Erzählung hat einen weiteren Schwachpunkt. Die steuerliche Entlastung der Kapitalseite soll ausländische Direktinvestitionen (FDI) anziehen, die einen Wirtschaftsaufschwung bringen und die kläglichen Lohneinkommen dank neuer dauerhafter und qualifizierter Arbeitsplätze anheben soll. Aber Griechenland verzeichnet bislang keinen Investitionsboom, der eine gesteigerte Produktivität zur Folge hätte. Immer noch fließen 73 Prozent der FDIs in bestehende griechische Unternehmen (per Beteiligung oder Aufkauf), sowie in den Erwerb von Immobilien. Dagegen bleiben „Greenfield-Investitionen“, die innovative und produktive Unternehmen schaffen, „wertmäßig auf sehr niedrigen Niveau“.(16) Und die wenigen Leuchtturm-Projekte, auf die Mitsotakis verweist, haben nicht sonderlich viele Arbeitsplätze geschaffen.
Die beschworene Produktivitätssteigerung, auf der die ND-Regierung ein neues „Wirtschaftsmodell“ begründen will, ist bislang ausgeblieben. Das ist auch an dem griechischen Zahlungsbilanzdefizit abzulesen, das 2022 mit 9,7 Prozent des BIP doppelt so hoch lag wie die für die EU definierte „Alarmschwelle“. Dieses Defizit dokumentiert, dass das Land trotz steigender Exporte noch immer nicht genügend international handelbare Güter produziert, um die Importe (insbesondere von Energie und Fertigwaren) auszugleichen. Die strukturelle Umwandlung in das gelobte Land der Innovationen und der weitgespannten Wertschöpfungsketten lässt sich nicht mit windfall-Profiten und dem Verkauf von Immobilien an golden visa– und golden passport-Kunden erreichen, die das Markenzeichen der ersten Mitsotakis-Regierung waren. Und auch nicht mit dem diesjährigen Tourismus-Boom, der bereits die Krankheitssymptome eines „Übertourismus“ entwickelt, der die Zukunft der sogenannten „griechischen Schwerindustrie“ gefährdet.
Was immer die zweite ND-Regierung unternimmt, sie wird auf keinen Fall das neoliberale Credo aufgeben, das auf weitere Privatisierungen setzt, die den Sozialstaat durch ein marktliberales Angebotsmodell ablösen soll. Und das die Ungleichheiten, die in der griechischen Gesellschaft ohnehin strukturell angelegt sind, in den letzten Jahren auf die Spitze getrieben hat. Die Gesellschaft gegen die Fortsetzung dieser Politik zu mobilisieren, wäre die Aufgabe einer linken Opposition. Doch die ist nach dem Wahlergebnis vom 25. Juni erst einmal mit sich selbst beschäftigt.
Anmerkungen
1) Nicht abgestimmt haben vor allem diejenigen, für die eine zweite Wahl mit hohen Reisekosten verbunden war, weil sie ihr Wahlrecht nicht an ihrem Wohnsitz ausüben oder (wie viele Jugendliche) bereits einen Ferienjob im Tourismus-Sektor angetreten hatten.
2) Dieser Verlust entspricht 21,6 Prozent der Syriza-Stimmen vom 25. Mai; die ND verlor nur 12,3 Prozent ihrer Stimmen, die Pasok 8,7 und die KKE 6,1 Prozent (Berechnungen von Manolis Drettakis, EfSyn vom 29. Juni 2023).
3) Siehe meine Analyse der ersten Wahl: „Mitsotakis obenauf, Tsipras am Boden“, LMd, Juni 2023.
4) Das gilt etwa für den großsprecherischen Populisten Pavlos Polakis, der zwar eine lokale Basis in Kreta hat, einen Großteil der Syriza-Wählerschaft aber abschrecken würde.
5) Dass die griechischen Kommunisten konstant zwischen 5 und 8 Prozent der linken Wählerschaft binden, verschafft der griechischen Rechten in der Auseinandersetzung zwischen links und rechts einen permanenten Vorteil.
6) Zur Mazedonien-Frage siehe die Blog-Texte: „Im Land des real existierenden Surrealismus“ vom 16. Februar 2018 und „Die dritte Tsipras-Regierung“ vom 21. Februar 2019.
7) Über die handverlesene Kandidatenliste brachte Konstantopoulou treue Gefolgsleute ins Parlament, darunter auch ihren Lebenspartner. Drei der abgesetzten Kandidatinnen haben die Parteivorsitzende scharf kritisiert und von der Wahl der PE abgeraten.
8) Dabei kam erstmals ein im Februar 2023 verabschiedetes Gesetz zur Anwendung, das die Kandidatur von Personen untersagt, die wegen schwerer Verbrechen verurteilt wurden. Die Regelung ist rechtlich umstritten, da nach diesem Gesetz keine letztinstanzliche Verurteilung erforderlich ist.
9) Siehe das Video bei News 24/7, „The Magazine“ vom 2. Juli; siehe auch EfSyn vom 8. Juli 2023.
10) Ein weiterer Abgeordneter hatte bei der Wahl von 2019 für die ebenfalls rechtsradikale Elliniki Lysi (EL) kandidiert. Die personelle Verflechtung zwischen „Hellenen“ und „Spartiaten“ belegt detailliert ein Artikel von Dimitris Psarras in EfSyn vom 1. Juli 2023.
11) Siehe die Daten in EfSyn vom 25. Juni und in Kathimerini vom 2. Juli, die leicht voneinander abweichen.
12) Bericht in To Vima vom 1. Juli 2023, übernommen von Ta Nea.
13) In den beiden thrazischen Bezirken Xanthi und Rhodopen kamen die Rechtsradikalen nur auf 10,5 bzw. 9,7 Prozent, weil sie für die muslimische Minderheit nicht wählbar waren.
14) Siehe die Texte auf diesem Blog „Die kurzen Beine des Kyriakos Mitsotakis“ vom 23. Dezember 2021 und „Nach Moria: Zur Lage der Flüchtlinge, nicht nur auf Lesbos“ vom 21. Oktober 2020.
15) Der Prozentsatz der Verschuldung ist unter der ND-Regierung nur deshalb von über 200 auf 170 Prozent des BIP gesunken, weil der BIP-Zuwachs durch die Inflation noch zusätzlich aufgeblasen wurde.
16) Zentralbankpräsident Yiannis Stournaras, zitiert nach Kathimerini vom 11. April 2023.
Bildquelle: Chabe01, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons
Erstveröffentlichung in LE MONDE diplomatique, 12. Juli 2023