DAS war damals eine emotional aufgeladene Situation. Sollte das, was mit der sozialliberalen Koalition 1969 begonnen hatte, abrupt abgebrochen werden? Es war eine entscheidende Weichenstellung im Nachkriegsdeutschland. Es ging um zwei Projekte der neuen Koalition: die neue Deutschland-und Ostpolitik und um die inneren Reformen.
Die von Brandt und Scheel eingeleitete neue Ost und Deutschlandpolitik hatte zum Ziel, die durch den Angriffskrieg der Nazis geschaffene Situation anzuerkennen. Das hiess: Abkehr von jeder Form von Revanchismus. Schlüssel dazu war die Anerkennung der Oder-Neisse Grenze als Westgrenze Polens. Wir hatten als Jugendorganisation der FDP, ich war damals einige Jahre ihr Vorsitzender, jahrelang dafür gekämpft und dazu beigetragen, dass die Rechtskonservativen in der FDP in die Defensive und zur Resignation gebracht wurden. Ebenso für Aufregung hat die Anerkennung der DDR, dem Hauptfeind im „Kalten Krieg“, gesorgt. Wir wollten die Normalisierung der Beziehungen. Es dauerte bis 1973, bis beide deutschen Staaten in die UNO aufgenommen wurden Wir waren damals schon der Meinung, dass diese Politik der einzigeWeg war, eines Tages die Befreiung der DDR und Osteuropas zu erreichen. Allerdings wussten wir nicht, wann dies geschehen würde.
Wir Liberale haben das nach unserer Wahlniederlage von 1969 gewagt. Wir haben unsere Existenz aufs Spiel gesetzt. Wir verloren viele Wähler und waren auf neue angewiesen. Ohne diesen mutigen Schritt wären weder Brandt noch Schmidt Kanzler geworden. Wir haben auf den mit Bahr gemeinsam konzipierten Prozess entscheidend Einfluss genommen. Ohne den „Brief zur deutschen Einheit“, den wir veranlasst hatten, wären wir beim Bundesverfassungsgericht nicht durchgekommen. Ohne die gefestigte Bindung zu den Demokratien des Westens wäre diese Politik gescheitert. Die CDU/CSU Opposition hat massiv gegen uns mobilisiert. Ein Deutschland, das sich den Kommunisten ausliefert, wurde zum Schreckgespenst gemacht. Später hat die Koalition Kohl-Genscher die Früchte geerntet. Noch hatte die Union die wegweisenden Ergebnisse der Helsinki Konferenz von 1975 abgelehnt-als einzige politische Gruppierung Europas neben der KP Albaniens.
Das alles stand mit dem Misstrauensvotum auf dem Spiel. Wandel durch Annäherung bedeutete damals, dass auch wir uns entscheidend wandeln mussten und das war für viele sehr schmerzlich. Es ist absurd, Brandt heute für eine verfehlte Politik gegenüber Russland in Anspruch zu nehmen Er wäre schon vor dem Überfall auf Distanz zum Machtstreben Putins gegangen. Dass sich 10 Jahre später, im Rahmen des Koalitionsbruches von 1982 ,die SPD von dieser Politik des engen Schulterschlusses mit dem Westen abwenden würde, das war noch nicht erkennbar. Ich meine die Ablehnung des NATO Doppelbeschlusses, der Abrüstung durch Aufrüstung zum Ziel hatte und zum Zusammenbruch der Sowjetunion wesentlich beigetragen hat. Schmidt hatte damals nicht mehr die Unterstützung seiner Partei., die sich in Teilen einer Feindschaft gegenüber der NATO und einem Antiamerikanismus verschrieb.
Aber noch viel mehr stand mit dem Misstrauensvotum auf dem Spiel: die gesamte Reformpolitik der sozialliberalen Koalition , angestossen durch die Jugendbewegung der der sogenannten 68 er Generation. Wir, die SPD und die FDP, wollten die Republik nach der Erstarrung der Adenauer-Zeit, reformieren. Es war eine Reformkoalition. Wir wollten das Grundgesetz zum Leben erwecken durch tiefgreifende Reformen . Allein die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau in allen Lebensbereichen war ein Jahrhundertprojekt. Bildung für alle, eine Bildungs- und Hochschulreform, die Strafrechtsreformen, die Demokratisierung der Arbeitswelt durch überbetriebliche Mitbestimmung, zum ersten Mal durch Genscher eine Umweltpolitik, dieses Wort gab es vorher gar nicht, all dies stand auf der Agenda. Hinzu kam die schonungslose Auseinandersetzung mit Ursachen und Folgen der Nazibarbarei. Wir kämpften gegen eine „Schlußstrichmentalität“. Wir wollten Lehren ziehen aus der Geschichte und tun das ja bis heute.
Was wäre aus der Republik geworden ohne diesen Reformelan? Er setzte sich durch gegen alle möglichen radikalen freiheitsfeindlichen Strömungen, die es in der Jugend damals auch gab. Wir kanalisierten auf demokratische Weise diesen von Veränderungswillen geprägten Prozess und nahmen ihm die Spitze. Die RAF blieb erfolglos.
Eine persönliche Erinnerung zum Schluss. Ich war in Köln ein bekannter FDP-Politiker. Ich erinnere mich, dass man mir auf der Straße, mir dem „Kommunistenfreund“ wiederholt Prügel angedroht hatte. Ganz anders nach dem Scheitern des Mißtrauenantrags: Ich trat aus dem Rathaus, wo ich Stadtverordneter war. Die dort Versammelten erhielten die Nachricht vom Scheitern. Man jubelte und ganz fremde Menschen fielen sich in die Arme. Manche heutigen Auseinandersetzungen verblassen hinter der emotionalen Intensität der damaligen polarisierenden Meinungsverschiedenheiten.
Über den Autor: Gerhart Rudolf Baum ist ein deutscher Politiker (FDP) und Rechtsanwalt. Er war von 1978-1982 Bundesinnenminister in der sozial-liberalen Koalition unter Kanzler Helmut Schmidt.