Nein, überraschend oder gar sensationell ist die Nachricht nun wirklich nicht: CDU-Chef Friedrich Merz tritt als Kanzlerkandidat der Union an. Das gab der zuletzt einzig verbliebene Merz-Kontrahent, CSU-Chef Markus Söder am Dienstag um 12 Uhr – „High Noon“ – bekannt. An seiner Seite bei der breitbeinig und anscheinend so selbstlos vorgetragenen Verkündigung: Friedrich Merz halt. Man wurde den Eindruck nicht los: Merz – Kandidat von Söders Gnaden.
Alles klar nun bei der Union? Noch ist gut ein Jahr Zeit bis zur kommenden Bundestagswahl. Wird die Union diese Zeit nutzen, geschlossen anzutreten – ohne Gezänk in den eigenen Reihen? Wer Markus Söder kennt, kann sich kaum vorstellen, dass der als Stänkerer gefürchtete Söder seinen unfreiwilligen Rückzug so lange Zeit klaglos hinnehmen wird. Dass er, der bis zuletzt seinen Machtwillen betont hatte, jede Gelegenheit nutzen wird, gegen seinen Kontrahenten zu sticheln, ist so klar wie das Amen in den bayerischen Barock-Kirchen. Da kann Söder noch so oft und in albernem Neudeutsch sagen, er sei „fein“ mit der Entscheidung für Merz. Dass er nicht unter Merz nach Berlin gehen will und stattdessen „Chef“ in Bayern bleibt, ist da ebenso logisch wie gefährlich für den CDU-Vorsitzenden.
Eigentlich hatten sich Merz und Söder ja darauf geeinigt, erst nach der Wahl in Brandenburg am kommenden Sonntag eine Entscheidung bekanntzugeben. Doch mit seinem „Verzicht“ auf eine eigene Kandidatur und seinem Votum für Merz hatte NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst die Kontrahenten am Vortag unter Druck gesetzt.
Dass sich die Union letztlich für den erzkonservativen Sauerländer Merz als Kanzlerkandidaten entscheiden würde, schien schon länger klar. Nur ein grober politischer Schnitzer im Sommer oder ein katastrophales Abschneiden der CDU bei den Wahlen in Ostdeutschland hätten dem nicht weniger rechtskonservativen CSU-Chef Söder noch eine Chance geboten.
Was für ein Rechtsruck der CDU! Nach den langen Jahren unter Angela Merkel hatte sich die Partei beim letzten Mal noch für den „Liberalen“ Armin Laschet als Kandidat ausgesprochen. Doch der war letztlich vor allem auch den ständigen Attacken von „Stinkstiefel“ Söder nicht gewachsen. Die Konsequenz: SPD-Kandidat Olaf Scholz wurde Kanzler.
Sein Trauma: Von Merkel gedemütigt
Nun also Friedrich Merz. Endlich kann der innerparteilich so oft unterlegene Sauerländer sein Trauma nun – zumindest teilweise – überwinden. Unvergessen, wie sehr Angela Merkel als CDU-Chefin und Kanzlerin den Kontrahenten Merz ihre Abneigung, ja Verachtung spüren ließ. Wie sie den Überheblichen und von sich doch so sehr Überzeugten auch ohne öffentliche Attacken demütigte. Darunter leidet der sauerländische Macho bis heute.
Merz und seine CDU haben – Stand heute – gute Chancen, die nächste Bundesregierung anzuführen. Merz als Kanzler – was würde das bedeuten?
Das wäre eine schlechte Nachricht für:
- die Frauen: Das Gesellschaftsbild des konservativen Teils der Union stammt noch aus der Nachkriegszeit. Die Frau als Hausfrau und Mutter, der Vater als Ernährer, die Kinder brav. Das spukt bis heute in vielen Köpfen herum. Emanzipation, Frauenquote und Frauenförderung in Verwaltung und Unternehmen gelten vielen Konservativen als unnütz, ja schädlich. Getreu dem Motto: Das ging doch früher auch ohne.
- die Arbeitnehmer: Die Mindestlöhne – vor allem deren Höhe – werden vom Merz-nahen wirtschaftsliberalen Flügel der Union als ökonomisch schädlich angesehen. Mühsam erkämpfte Sozialstandards werden unter einem Kanzler Merz in Frage gestellt werden. Da müssen sich die Arbeitnehmer und die Gewerkschaften warm anziehen.
- die Ärmeren: Wer sieht, wie beim Thema „Bürgergeld“ von Neoliberalen in FDP und Union gegen die Bedürftigen in der Gesellschaft gehetzt wird, muss hier Schlimmes befürchten. Unter dem Deckmantel, es gebe „kein Recht auf Faulheit“ und man wolle doch nur etwas gegen die „Totalverweigerer“ tun, werden hier alle Armen und Hilfsbedürftigen diskriminiert und stigmatisiert.
- die Zuwanderer: Der Wahlkampf wird sich vermutlich brutal auf das Thema Zuwanderung konzentrieren. Und hier hat längst die AfD den Ton gesetzt. Merz hat das Thema mit Sprüchen zusätzlich befeuert – wie die von den „kleinen Paschas“ und den Flüchtlingen, die „uns“ die Zahnarzt-Termine wegnehmen. Statt nüchtern zu prüfen, wie man die so dringend nötige Zuwanderung besser ordnen kann, wie man endlich dafür sorgt, dass Migranten ohne bürokratische Hürden die Arbeit aufnehmen können und – ja – wie man Islamisten wirksamer bekämpft, wird auch von der Union das Schreckensszenario eines von Fremden überfluteten Landes genährt. Fakt ist: Deutschland braucht – schon rein ökonomisch – mehr statt weniger Einwanderung. Doch das zu betonen, wagt in der Union in der hysterisch aufgeladenen Debatte niemand mehr.
- die Minderheiten: In vielen ostdeutschen Städten trauen sich Schwule, Trans-Menschen und andere Minderheiten nur noch unter massivem Polizeischutz auf die Straße. Ein gewaltbereiter Neonazi-Mob bedroht die Menschen. Gegen diese Menschenverachtung ist eine klare politische Haltung der Politik nötig. Ist die aus konservativer Ecke, von Friedrich Merz, zu erwarten? Eher nicht. Die Konservativen setzen da lieber selbst auf einen Kulturkampf gegen alternative Lebensweisen und Ansichten.
- die Umwelt: Keinen Zweifel lassen führende Unions-Vertreter daran, dass sie viele Umwelt-Vorschriften – etwa in der Landwirtschaft – für „grünen Unsinn“ und eine „bürokratische Überreglementierung“ halten. Der Verbrenner-Motor und das Auto generell werden nach wie vor gefeiert: Freie Fahrt für freie Bürger! Die 70er Jahre lassen grüßen,
Was bedeutet das alles für den Wahlkampf?
Die Union unter dem Kanzlerkandidaten Merz wird sich – wie beschrieben – im Wahlkampf eindeutig rechts positionieren. Merz wird das damit begründen, man dürfe den Extremisten der AfD das Feld nicht allein überlassen. Dass er mit der Übernahme der AfD-Agenda gerade diesen Extremisten in die Hände spielt, wird der CDU-Chef strikt und empört von sich weisen. Wenn man die politische Debatte nach den furchtbaren Solingen-Morden beobachtet, hat man den Eindruck, es gebe in Deutschland nur noch ein Problem: die Migranten. Ein „Ausländer raus“-Klima macht sich breit – und die Parteien der Mitte tun nichts, um sich dem entgegenzustellen. Im Gegenteil. Das lässt für das kommende Jahr Schlimmes befürchten. Es lässt den linken und grünen Parteien andererseits genügend Platz und Gelegenheit, sich endlich klar gegen diese Politik zu positionieren.
Unions-Kandidat Merz bietet da reichlich Angriffsfläche. Politisch und persönlich. Das zumindest hat SPD-Kanzler Olaf Scholz längst erkannt. Ihm sei Merz recht, kommentierte er am Dienstag spontan im fernen Kasachstan. Schon früher hatte Scholz sich Merz als Kontrahenten bei der Union gewünscht. Einen Vorgeschmack auf das künftige Duell brachte schon die Bundestagsdebatte über Migration in der vergangenen Woche. Scholz warf Merz ungewohnt temperamentvoll „Schauspielerei“ vor, weil der CDU-Chef trotz aller Beteuerungen niemals vorgehabt habe, mit der Ampel-Regierung ernsthaft über das Thema Migration zu sprechen. Um dann die Gespräche – wie erwartet – theatralisch abzubrechen. Selbst in der konservativen Presse wurde die plumpe Merz-Taktik als Fehler dargestellt.
Auch dass Merz jahrelang für den als „Finanzkrake“ kritisierten US-Vermögensverwalter BlackRock gearbeitet hat und bis heute eine neoliberale Politik für die Reichen vertritt, dürfte den Sozialdemokraten genügend Angriffspunkte bieten. Sie müssen sich nur trauen, offensiv gegen diese Politik anzutreten. Dazu gehört, sich als Sozialdemokraten nicht in den schmutzigen Überbietungs-Wettbewerb um Abschottung und Abschiebung von Ausländern hineinziehen zu lassen. Denn hier wird nur die AfD gewinnen. Gegen deren Hetze hat nicht einmal der Rechtskonservative Friedrich Merz eine Chance. Es sei denn, er übernähme komplett deren Positionen. Fraglich, ob der CDU-Chef dieser Versuchung widerstehen kann. Die letzten Wochen lassen da die Zweifel wachsen.
Bildquelle: Screenshot X bzw. Twitter des Accounts von Markus Söder