Nein, einen Grund zum Feiern haben wir wirklich nicht, wenn wir an den 8. Mai 1945 denken. So hat es uns Deutschen der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker ins Stammbuch geschrieben, der stattdessen vom Tag der Befreiung sprach. Befreiung von der Nazi-Diktatur durch die Alliierten, einer Diktatur, die wir selber gewählt hatten. Denn der 8. Mai hängt nun mal eng mit der Übernahme der Macht durch Hitler im Jahr 1933 zusammen. Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht das ähnlich. Und zu dieser Befreiung haben die Soldaten der Roten Armee wesentlich beigetragen, sie haben den größten Blutzoll zahlen müssen mit geschätzten 27 Millionen Toten. Deshalb ist Merkel am 10. Mai in Moskau und legt zusammen mit dem russischen Präsidenten Putin am Grabmal des unbekannten Soldaten einen Kranz nieder.
Diese Verbeugung der Kanzlerin zu Ehren der Millionen russischen Opfer ist ein eher stiller, diplomatischer Akt Merkels, der in Russland gewürdigt wird. Merkel hatte wegen Russlands Haltung im Ukraine-Konflikt und der Annexion der Krim auf die Teilnahme an der großen Militärparade in Moskau verzichtet.
Wer jemals in diesen Tagen in Russland war, wird dies nicht vergessen. Wir waren mit einem Kreis von Journalisten-Ehepaaren vor Jahren in Sankt Petersburg und konnten beobachten, wie die Russen diesen Tag begehen. Der frühere Chefredakteur des ZDF, Reinhard Appel, hatte mit seinen Kontakten Treffen organisiert. Reinhard Appel war gegen Ende des Kriegs selber Hitler-Junge. Wie die Familien, angeführt vom Großvater in einer Parade-Uniform und geschmückt mit sämtlichen Orden, mit den Kindern und Enkeln zum Friedhof gehen, dort Blumen niederlegen und in Gedanken an die schlimmen Jahre des Weltkriegs verweilen, jene Jahre, in denen sie sich verteidigten gegen die Nazi-Angreifer aus Deutschland, die große Teile ihres Vaterlands vernichtet und viele ihrer Freunde und Nachbarn umgebracht hatten. Am Ende hatten sie gewonnen und die Invasoren aus ihrem Land verjagt, sie hatten sie dann verfolgt, bis sie in Berlin angelangt waren. All das unter großen, riesengroßen Opfern.
Dieser Großvater erzählte von seinen Erlebnissen im Krieg, man hatte den Eindruck, als habe er noch jede einzelne Kugel im Gedächtnis, die er damals im vaterländischen Krieg abgefeuert hatte. Der Mann schwärme von Stalin, weil dieser es geschafft hatte, die Invasoren aus seinem geliebten Vaterland zu vertreiben. Da staunten wir nicht schlecht, aber so war seine Erinnerung. Stalins Verbrechen im eigenen Land, an den eigenen Landsleuten, das war kein Thema für den früheren Soldaten, zumindest nicht an diesem Tag, an dem Russland des Sieges über Nazi-Deutschland gedachte und dies feierte.
Ähnlich die Schilderungen einer Frau, die in Leningrad- Putins Geburtsstadt- die Schrecken des Kriegs und die Einkesselung durch die Wehrmacht erlebt und überlebt hatte. Während sie erzählte, wie sie die Kinder damals durchbrachte, wie sie sie am Leben erhielt, sich selbst und die Nachbarn und Freunde, wie sie es geschafft hatten, 900 Tage zu überleben, Lebensmittel zu besorgen und sich immer wieder vor Angriffen durch die Wehrmacht zu schützen. Fast andächtig hörten wir dieser Frau zu, wagten kaum ein Wort zu sagen oder eine Frage zu stellen. Und als sie sich, die Frau und der einstige Soldat, nach einigen Stunden von uns verabschiedeten, gaben sie uns freundlich lächelnd die Hand. Wie Freunde das tun zum Abschied.
Kein böses Wort hörten wir damals über die Deutschen. Und sie hätten weiß Gott viele Gründe gehabt, Deutschland zu kritisieren, auch uns, den Nachkommen einiges an den Kopf zu werfen. Sie taten es nicht, sondern das Gegenteil. Sie waren freundlich zu uns. Das haben wir sehr genossen.
Dass die Beziehungen der EU und Deutschlands zu Russland wegen des Konflikts um die Ukraine schwieriger geworden sind, um es höflich auszudrücken, hält deutsche Politiker nicht davon ab, auf ihre Weise den Kontakt zu ihren russischen Kollegen zu pflegen und ihn nicht abreißen zu lassen. So praktiziert es auch der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der sich vor wenigen Tagen mit seinem russischen Amtskollegen Lawrow in Wolgograd traf, einem Ort, der im Grunde auf Trümmern und Toten aufgebaut worden ist. Wolgograd, das einstige Stalingrad. Dort musste sich die 6. Deutsche Armee unter Generalfeldmarschall Paulus im Jahr 1943 ergeben. Millionen Tote hatte die Schlacht in Stalingrad auf beiden Seiten gekostet. Sie brachte die Wende in diesem Krieg zu Gunsten der Roten Armee, von dieser Niederlage erholte sich die Wehrmacht nicht mehr.
55 Millionen Tote, darunter 26 Millionen tote Russen, eine Million russische Juden. Die Zahl der Opfer ist geschätzt, sie könnte auch viel höher liegen. Allein diese Zahlen lassen einen schweigen, wenn man als Deutscher in diesen Tagen in Russland weilt. Wir dürfen nie vergessen, dass Nazi-Deutschland diesen Krieg angefangen hat, dass die Wehrmacht Russland überfallen hat. Es ist zwar richtig, dass auch die Deutschen viele Opfer während und nach dem Krieg zu beklagen hatten, dass auch wir Deutsche Unrecht erfuhren, auch durch die Sowjets.
Aber wir dürfen die Geschichte nicht verfälschen. Die Deutschen waren in erster Linie Täter.
Wer je in diesen Tagen mal in Russland weilte, wird dankbar sein, dass die Russen mit uns reden, dass sie uns die Hand geben, uns als Freunde sehen. Sie werden die Schrecken des Kriegs und des Überfalls ihres geliebten Landes durch Hitlers Soldaten nie vergessen, aber sie haben sich längst mit uns versöhnt.
Der Historiker Heinrich-August Winkler hat in seiner beeindruckenden Rede im Deutschen Bundestag die internationale Verantwortung der Deutschen herausgestrichen. Sie gilt auch in besonderem Maße für Russland.
Russland ist kein Feind der EU- bei allen Problemen, die der eine oder andere mit Putin hat. Putin ist der Präsident des großen Russland und niemand weiß, wer oder was danach kommt.
70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bedeuten zugleich, dass- mit wenigen regionalen Ausnahmen wie dem damals zerfallenden Jugoslawien oder der Ukraine- 70 Jahre kein Krieg mehr geführt wurde in Europa. Das Deutsche, Franzosen und Briten überall dort freundlich und friedlich miteinander verkehren, wo sie sich früher die Köpfe eingeschlagen haben. Die Polen müssen keine Angst mehr haben vor den Deutschen.
Dass Russland, dass Putin diesen Tag mit großem militärischen Gepränge begeht, findet nicht den ungeteilten Beifall im Westen. Zeremonien dieser Art sind uns fremd geworden. Gut so. Aber in Russland ist dieser 8. Mai stärker präsent als bei uns. Das hat Gründe. In einer Beilage der Süddeutschen Zeitung war zu lesen, dass es Melodien sowjetischer Kriegslieder als Klingeltöne gibt. In jeder russischen Familie gab es Opfer, allein in Moskau leben heute noch 115 000 Veteranen. Für viele Russen ist es, wie es einst Michail Gorbatschow ausgedrückt hat, ein „Feiertag mit Tränen in den Augen.“
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