Hundert prominente Künstler, mit und ohne Migrationshintergrund, schreiben an Angela Merkel einen offenen Brief. Darin wird die Kanzlerin erinnert, mit welcher Regierung sie es in Ankara zu tun hat. Ja, alles richtig, was darin zu lesen ist. Die Hoffnung der Briefschreiber ist, dass Frau Merkel ihre Sorgen über die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei zur Sprache bringt, wenn heute die halbe Regierung aus Ankara zu Konsultationen in Berlin weilt.
Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit sind gegenwärtig in der türkischen Innenpolitik nicht gefragt. Dies alles war der EU bekannt, als die europäischen Spitzenpolitiker vor wenigen Wochen den türkischen Regierungschef Ahmet Davutoglu zu Gast hatten. Aber die Türkei hat ein Unterpfand, das unabweisbar scheint. Gut zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien und Irak, die diesseits der türkischen Grenze ausharren. Davon geschätzt 200 000 in Lagern, der Rest kampiert auf Straßen und Plätzen im Innern des Landes.
Hoffnungen nicht erfüllt
Dass dies eine Belastung für die Türkei bedeutet, ist gewiss und wird nicht bestritten. Die Hoffnung allerdings, dass sie in der Lage wäre, ihre Grenzen zur Europäischen Union zu schließen und den Strom der Menschen, die über das Mittelmeer auf kaum schwimmfähigen Booten nach Griechenland und in die EU sickern, und dort Asyl erhoffen, hat sich bislang nicht erfüllt. Die Türkei behauptet für Flüchtlinge bislang neun Milliarden Euro aufgebracht zu haben. Daher die Erwartung, dass die EU ihr Angebot von drei Milliarden Euro Flüchtlingshilfe aufstockt. Bislang ist allerdings nicht einmal das Drei-Milliarden-Angebot finanziert. Erneut gingen die EU-Finanzminister kürzlich ohne Beschluss auseinander. Möglicherweise muss Deutschland hier in Vorkasse gehen
Alles deutet zudem darauf hin, dass die Türkei weiter Transitland für gewaltbereite Islamisten aus Europa ist, und dass bestenfalls Stichproben stattfinden an den Grenzübergängen zu Syrien. Der zögerlichen Bereitschaft, sich in die Koalition der Willigen gegen den IS und seine Landnahme in Syrien und den Irak einzureihen, steht die brutale Verfolgung der Kurden im Südosten des Landes gegenüber. Für die Türkei sind die Flüchtlinge im Land das Pfund, mit dem sie wuchert.
Flüchtlinge in türkischer Geiselhaft
Nachdem klar ist, dass mit einer freiwilligen Beteiligung vor allem der osteuropäischen EU-Mitglieder weder bei der Übernahme von Flüchtlingskontingenten, noch bei der Finanzierung der Offerte für die Türkei zu rechnen ist, wird sich erneut herausstellen, dass Deutschland ziemlich allein steht. Die Flüchtlinge in der Türkei sind quasi in Geiselhaft. Dahinter steht die Drohung, es liege an Berlin, und seiner Zahlungsbereitschaft, ob die Türkei die Schleusen wieder öffnet. Ganz nebenbei rächt sich die harte Haltung Berlins, als Griechenland und der europäische Süden sich unter der harten finanzpolitischen Knute der Deutschen ducken mussten.
Angela Merkel aber braucht das Signal einer spürbaren Verminderung der Zahl der Flüchtlinge, um politisch zu überleben. Dafür braucht sie die Türkei. Mehr denn je sind dafür auch Erfolge notwendig, die ein Ende der Kampfhandlungen im Nahen Osten signalisieren. Ein Job, um den Außenminister Frank-Walter Steinmeier nicht zu beneiden ist. Erst mit einem Erfolg seiner Politik hartnäckiger Diplomatie wäre ein Stopp der Fluchtbewegung denkbar. Bis dahin ist eine Änderung der harten Haltung der meisten EU-Mitgliedsländer wohl nicht zu erwarten.
In soweit ist auch nicht damit zu rechnen, dass sich Frau Merkel über Gebühr mit der türkischen Innenpolitik beschäftigen wird. Das wäre ein nicht kalkulierbares Risiko für eine spürbare Senkung der Zahl der Flüchtlinge, die über die Balkanroute oder über Griechenland aus der Türkei nach Deutschland drängen. Aber nicht nur die Türkei, auch die arabischen Anrainer am persischen Golf, Saudi Arabien, Oman oder Katar sind wenig verlässlich, nicht minder robust im Umgang mit Menschenrechten wie der IS, wie sie im Offenen Brief der Kulturschaffenden aufgelistet sind. Keinem dieser merkwürdigen Bündnispartner dürfte daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt der offene Brief der Künstler zur Kenntnis gebracht werden. Denn es könnte die empfindlich Koalition im Nahen Osten stören und damit das, was derzeit im Kanzleramt unter Realpolitik verstanden wird.