Neun Monate nach der Regierungsbildung schält sich die reale Politik der Mitte-Rechts Regierung Italiens deutlich heraus, zumal vor dem Ferien-Exodus noch im Schnellverfahren viele Pflöcke für neue Maßnahmen eingeschlagen wurden, zusätzlich zu den schon ausgestalteten und verabschiedeten.
Es handelt sich nach innen – wie angekündigt – um eine illiberale gesellschaftspolitische Restauration bei populärliberaler Wirtschaftspolitik zugunsten der Mittelklasse, besonders der Selbständigen, und Abkehr von der Sozialpolitik der einstigen Rechten. In der Außenpolitik hingegen setzt Giorgia Meloni die westorientierten und EU-konstruktiven Politik des Vorgängers Draghi fort, als Chefsache und entgegen der vorherigen antieuropäischen Positionen von zweien der drei Haupt-Partnern. Giorgia Meloni hat die Ministerriege im Griff, wobei sie wenig eingreift und wenn, dann kurz und deutlich. Sie lässt MinisterInnen zunächst dabei gewähren, ihre Lieblingsthemen voranzutreiben, und beschneidet deren Gesetzespakete erst in der Schlussphase vor der Verabschiedung, wenn und wo sie ihr zu weitgehend scheinen. Sie lässt auch die anhaltende Kakophonie der verbalen Fehltritte von Regierungsmitgliedern und anderen Amtsträgern ihrer Koalition möglichst kommentarlos vorbeiziehen, und stellt sich erst dann vor oder hinter diejenigen, wenn Gefahr besteht, dass jemand z.B. per Misstrauensantrag aus der Riege herausgerissen wird.
Im Innern zieht die Regierung die Restauration durch und dreht in sozialen Entwicklungen das Rad zurück.
So hat in der Gesellschaftspolitik die Regierungs-Mehrheit die Leihmutterschaft unter Strafe gestellt, auch wenn Italiener sie im Ausland organisieren. Dazu passt, dass nach einer Gerichtsentscheidung es weiterhin illegal ist, dass gleichgeschlechtliche Paare Kinder in kommunale Einwohnerregister eintragen lassen. Einige Gemeinden hatten sich über das Verbot hinweggesetzt. Der Bürgermeister von Mailand will das auch weiterhin tun. Die Christopher-Street-Day Paraden dieses Sommers werden von regionalen und kommunalen Mitte-Rechts Regierungen nicht mehr unterstützt. Zur Einschränkung des Abtreibungsrechts, die Meloni im Wahlprogramm hatte, gibt es noch keine konkrete Gesetzesinitiative, wohl aber Kundgebungen.
In der Sozialpolitik ist die erfolgte Abschaffung des Bürgergeldes „Reddito di Cittadinanza“, vergleichbar mit dem deutschen Arbeitslosengeld II, die auffälligste Maßnahme. Eine neue Form der Sozialleistung gibt es nur noch für „Nicht-Beschäftigbare“, die durch gesundheitliche oder familiäre Gründe nicht am Arbeitsmarkt teilnehmen können. Die sogenannten Beschäftigbaren sollen nur noch eine zeitbeschränkte Unterstützung erhalten und währenddessen vermittelt werden, auch in entferntere oder weniger qualifizierte Jobs. Diese Neuregelung wurde zum 01. August 2023 eingeführt und per SMS den ungefähr 170 Tausend „Beschäftigbaren“ mitgeteilt. Diese, in der weit überwiegenden Zahl im Süden des Landes beheimatet, sahen sich unvermittelt einer Kürzung des Haushaltsbudgets gegenüber, wenden sich an die überforderten Kommunen und protestieren. Diese brutale Kommunikation kommt umso mehr in die Kritik, da noch gar nicht klar ist, wie die Jobvermittlungen und die zeitbeschränkte Stütze funktionieren werden. Die technisch zuständige Arbeits- und Sozialministerin muss Rede und Antwort stehen, während die eigentlichen Betreiber dieser Politik in den Kulissen bleiben.
Mindestlohn
Ein anderes sozial- und wirtschaftspolitisches Großthema ist der Mindestlohn, zu dem von Parteien der Opposition eine Initiative auf die Tagesordnung des Parlaments gesetzt wurde. Nach erster Ablehnung durch die Mehrheit zeigte sich die Ministerpräsidentin geschmeidiger und lud die Oppositionsführer kurzfristig zu einem Gespräch dazu ein. Dabei hat sie Thema dann an den Consiglio Nazionale dell’Economia e del Lavoro (CNEL) zur Erarbeitung eines Vorschlags zu delegieren, dem Rat für Wirtschaft und Arbeit, einem vielköpfigen Beratungsgremium für Exekutive und Legislative mit Verfassungsrang, dem der mehrfache Minister für öffentliche Verwaltung vorsitzt. Die Opposition charakterisiert das damit, dass sie „den Ball in die Tribünen geschossen“ hat. Italien ist eines der wenigen EU-Länder, das keinen Mindestlohn kennt, bei einer Vielzahl von schwach koordinierten Gewerkschaften, die mit Arbeitgebern Tarifabschlüsse tätigen. Das Haupt-Argument gegen den gesetzlichen Mindestlohn ist die These, dass dieser dann de facto das Lohnniveau bestimmt und manche Löhne sogar nach unten treibt. Außer Meloni und anderen benutzt sogar der christliche Gewerkschaftsbund im Gegensatz zu den anderen Gewerkschaften dieses Argument.
In der Wirtschafts- und Finanzpolitik steht eine vielgestaltige Steuerreform an, für die das Parlament noch in letzter Stunde vor den Ferien einen Auftrag zur Ausarbeitung an die Regierung gegeben hat. In der Hauptsache soll sie Steuer-Vereinfachung und -Senkung bringen, allerdings wesentlich ausgeprägter für die höheren Einkommen. Die derzeit vier Steuersätze sollen nach und nach auf mittelfristig eine „flat-tax“ reduziert werden, die deutlich unter dem heutigen Spitzensteuersatz liegt. Die Einnahmenausfälle sollen durch Abschaffung von diversen Ausnahmen und Steuerbegünstigungen kompensiert werden, was aber im Detail und im Effekt noch ungeklärt ist. Gleichzeitig sind Straferlasse für die meist selbstständigen Schuldner von Steuern und Ordnungstrafen – vorgesehen, sowie eine steuerlich begünstigte straffreie Öffnung für die Rückführung von Schwalbenkapital und dessen Investitionen im Inland. Die abhängig Beschäftigten, die wenig Ausweichmöglichkeiten haben und die für den weit größten Teil der Einkommensteuer aufkommen, können nur auf niedrigere Steuersätze hoffen.
Führende Regierungsvertreter haben noch kürzlich die Ressentiments gegen das Finanzamt („Agencia de Entrate“) bedient. Nachdem selbst Giorgia Meloni ein systemgefährdendes Wortspiel (Steuern als „pizzo“ d.h. Schutzgeld des Staates) in einer Wahlrede ausgerechnet in Sizilien gebraucht hatte, hat die Leitung der Agencia sich selbst klärend zu Wort gemeldet, damit das Vertrauen dieser Schlüsselinstitution des Staates nicht weiter untergraben wird. Regierungsvertreter haben sich dann beeilt, klarzustellen, dass die großen Steuersünder nicht begünstigt werden sollen. Offensichtlich zielen die Regierungsparteien, namentlich die Lega, auf die klein- und mittleren Unternehmer und Selbständigen als Wählerpotential ab, hier wie auf anderen Feldern.
Winter-Olympiade
Dazu passt, dass eine Initiative zur Erhöhung der Taxilizenzen schnell wieder einkassiert wurde, als die Taxiunternehmer drohten, mitten in der Urlaubsaison zu streiken. Die Wartezeiten an Bahnhöfen und Flughäfen sind sehr lang. Angesichts der kommenden Winterolympiade und anderer Großveranstaltungen wird eine Verschlimmerung befürchtet. Eine mögliche Rolle von Fahrdiensten wie Uber ist nicht geklärt.
Solche Schritte wie andere unterlassene Reformen führen immer wieder zu Diskussionen mit der EU-Kommission über die Einhaltung von EU-Regeln allgemeiner Art oder solcher für die Bereitstellung der Next Generation EU-Mittel für den Nationalen Plan für Aufbau und Resilienz (PNRR). Ein fortwährender Stein des Anstoßes ist dabei die Durchsetzung von Wettbewerb und Marktzugang. Ein Dauerbrenner, schon von Draghi auf die lange Bank geschoben, ist das Thema der Strandkonzessionen, die häufig ohne Ausschreibung vergeben und verlängert werden, wobei den Gemeinden Konzessionseinnahmen entgehen bzw. Korruption vermutet wird. Die meist mittelständischen Inhaber der Konzessionen gehen massiv gegen die Pflicht zu Ausschreibungen an und werden dabei von Politikern unterstützt bzw. nicht in die Schranken gewiesen. Das Thema ist angesichts der Vielzahl von Konzessionen an Italiens tausende Kilometer Küste nicht unbedeutend. Da sehr viele Italiener im Sommer Gäste der Strandkonzessionäre sind, ist das ein wahlrelevantes Thema.
Überraschend hat die Regierung kurz am Vorabend der Sommerpause eine Übergewinnbesteuerung der Banken angekündigt. Die hat sie dann angesichts der hohen Kursverluste an der Börse am nächsten Tag mit Angaben zu Details wieder stark verwässert.
In der Klimapolitik passiert entgegen der emotionalen Einlassungen des zuständigen Ministers wenig. Italien stellt sich in der EU gegen Verbrennerverbote mit nicht tragfähigen Hinweisen auf Biotreibstoffe und künftige synthetische Treibstoffe. Der Verkehrsminister und Vize-Ministerpräsident Matteo Salvini geht so weit, menschengemachten Klimawandel in Frage zu stellen, um den Urlaubern und Motorradfahrern auf den Alpenpässen das schlechte Gewissen zu nehmen, zu der sichtbaren Gletscherschmelze beizutragen. Dies geschieht zur gleichen Zeit, als Staatspräsident Mattarella mit anderen Staatoberhäuptern Südeuropas angesichts der Verwüstungen der letzten Monate dringend zu ernsthaften Anstrengungen aufruft.
Es ist kein strategisches Zukunfts-Konzept in der Nachhaltigkeitspolitik zu erkennen. Es gibt auch keine Priorisierung für Anpassungen an den Klimawandel, obwohl der den so wichtigen Tourismus gefährdet. Die zuständige Ministerin beschwichtigt, und zeigt sich flamboyant am Strand. Aus dem PNRR für Italien hat die Regierung hydrogeologischen Projekte herausgenommen mit dem Hinweis, sie anderweitig zu finanzieren. Die betroffenen Regionalpräsidenten und Bürgermeister fragen vergeblich nach dem wie und woher. Die Regierung präferenziert, wieder unter Protagonismus von Matteo Salvini, umstrittene Groß-Projekte wie die Brücke nach Sizilien.
Währenddessen setzt der seit Monaten sehr agile Justizminister Carlo Nordio seine Änderungsagenda fort, obwohl er immer wieder nach gewagten Vorgehen Schritte zurück machen muss, auch weil die Ministerpräsidentin ihn dazu nötigt. Die Linie, die Staatsanwaltschaften zu schwächen und sogar Untersuchungen gegen diejenigen einzuleiten, die er für zu politisch hält, setzt er weiter fort, unter dem Beifall der Berlusconi-Epigonen und Matteo Renzi, der sich wie Berlusconi als Justizverfolgter geriert. Besonders verwundert die kürzliche Neuerung, dass Personen, gegen die eine Untersuchung eingeleitet wird, frühzeitig darüber informiert werden müssen. Die beabsichtigten Einschränkungen des in Italien gegen kriminelle Clans üblichen Abhörens hat der Justizminister allerdings zurückgenommen, den Maulkorb für die Medien bei beginnenden Verfahren aber nicht. Nicht durchsetzen konnte er, auch da Giorgia Meloni intervenierte, die Abschaffung des strafbewehrten Tatbestands der externen Beteiligung an einer mafiösen Vereinigung („concorso externo“), wenn z.B. bei öffentlichen Aufträgen mit einer Mafia-Gruppierung kooperiert wird.
Seine neue Stoßrichtung ist die Wiedereinrichtung von Verjährungen, die in der ersten Conte-Regierung abgeschafft wurden. Auch hiermit findet er den Beifall von PolitikerInnen, gegen die Verfahren eingeleitet werden. Unter Draghi hatte dessen Justizministerin schon Reformen veranlasst, um die Zahl der laufenden Strafverfahren zu verringern. Einige haben sich aber als nicht praxisgerecht erwiesen.
Bei manchen strafrechtlichen Reformen erhält der Justizminister auch die Unterstützung eines großen Teils der Bürgermeister, auch aus den Reihen der Parteien, die in Rom in der Opposition sind. Offenbar ist es in Italien schwierig, als kommunaler Amtsträger nicht verklagt zu werden. Viele Verfahren werden eingeleitet nicht nur wegen Verstößen gegen Vergaberegeln, die im Kampf gegen die Korruption verschärft wurden. Es gibt auch viele Anklagen wegen der Haftung bei öffentlichen Veranstaltungen, sowie nach Unglücken und Unfällen.
Die Gemeinden klagen über schwer einzuhaltende Vergabebestimmungen bei Aufträgen, was bei Verstößen Staatsanwaltschaften auf den Plan ruft. Die Regierung hat diese in einem radikalen Schritt bei Aufträgen unter 500 Tausend Euro für kleine Gemeinden stark vereinfacht. Dabei haben die Vergabeprobleme auch mit Umweltauflagen zu tun, die Bieter ungern ausfüllen und den Gemeinden Schwierigkeiten bereiten, nachzuvollziehen.
Noch vor der Pause hat die Regierung zu erkennen gegeben, dass sie an zwei Verfassungs-Reformen festhält: eine Änderung zur Direktwahl des Staatspräsidenten („Presidenzialismo“) sowie eine tiefgreifende Änderung der Autonomierechte der Regionen. Bei Ersterem hofft die Meloni-Partei Fratelli d’Italia, dass sie dadurch bessere Chancen bekommt, da es den Mitte-Links-Gruppierungen bei dem derzeitigen Verfahren immer wieder gelingt ,ihren Kandidaten durchzubringen.
Die sogenannte differenzierte Autonomie ist ein Lieblingsprojekt der Lega, noch aus ihrer Nord-Prägung. Demnach sollen die (südlichen) Regionen vom Zentralstaat nur noch so viel Unterstützung bekommen, dass sie Minimalstandards bei staatlichen Leistungen wie Gesundheits- und Erziehungswesen einhalten können. Diese Standards sollen bald definiert werden. Die Gegner befürchten ein weiteres Auseinanderdriften.
Interessant ist im Zusammenhang mit der Verfassung daran zu erinnern, dass Italien eines der EU-Länder ist, das keine Briefwahl erlaubt. So kommt es bei Wahlen zu massiven teilsubventionierten Reiseaktivitäten in Richtung Gemeinde des ersten Wohnsitzes, aber auch zu einer erhöhten Abstinenz. Die Mitte-Rechts-Regierung befürchtet bei Briefwahl offenbar strukturell Stimmengewinne der anderen Seite und stellt sich gegen eine Reform.
Einstweilen hat die Regierung die Interessen der Koalitionäre in der Besetzung der Leitungsstellen bei öffentlich-rechtlichen Medien durchgesetzt, namentlich beim Rundfunk- und Fernsehkoloss RAI und deren Nachrichtenredaktionen. Das ist nicht unüblich bei Regierungswechseln, hat allerdings diesmal krasse Folgen. So fallen jetzt auch populäre Sendungen aus. Einige angesehene Moderatoren beliebter Talkshows haben sich freiwillig anderweitig orientiert. Eklatant ist der Fall des abgelösten RAI- Generaldirektors, für den ein Platz als Generalintendant des Opernhauses von Neapel freigemacht wurde. Den wiederum musste der bisherige Intendant des renommierten Teatro di San Carlo aufgrund seines Alters räumen. Das Gesetz mit der Altersbegrenzung wurde von der Meloni-Regierung eigens für diesen Fall geschaffen.
Die EU- und Außenpolitik hat Giorgia Meloni zur Chefsache gemacht, und sie verfolgt eine unerwartet kontinuierliche Linie zu der des Vorgängers Draghi; das gilt auch in der Politik gegenüber Ukraine und Russland. Hier steht sie fest an der Seite der NATO.
Selbst in der Migrationspolitik unterstützt sie die Einigung auf der EU-Ebene, und versucht die EU-Parlaments-Fraktionsfreunde aus Ungarn und Polen davon zu überzeugen, dem auch zuzustimmen. Angesichts des erneuten Migrations-Ansturms verfolgt sie eine gemeinsame Linie mit der EU-Kommission gegenüber Nordafrika. Auch unternimmt ihr Innenminister nunmehr eine Abstimmung, anstatt der monatelangen Behinderung, mit den Nichtregierungs-Hilfs-Schiffen, da alle Hände zur Rettung Schiffbrüchiger benötigt werden.
Zukunfts.Investitionen
Es hat sich in der Koalition die Erkenntnis durchgesetzt, dass die EU und ihre Programme fundamental für die Finanzierung von Zukunftsinvestitionen in Italien sind. Frau Meloni hat die Zuständigkeit für Verhandlungen mit Brüssel zum Empfang der PNRR-Mittel und die Umsetzung des PNRR bei sich in der Staatskanzlei angesiedelt, wobei die Abstimmung mit dem Europaminister und Parteifreund Raffaele Fitto reibungslos läuft.
So wird die Regierung irgendwann auch die Modifikation des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ratifizieren, den Melonis eigene Partei und die Lega Salvinis lange verteufelt haben. Damit liegt die Regierung eher auf der Linie des Vize-Ministerpräsidenten und EU-Freundes Antonio Tajani, der mittlerweile auch Nachfolger Berlusconis als Vorsitzender der Forza Italia ist. Nichtsdestoweniger wirkt Tajani eher wie ein Staatssekretär, der sich um die Sicherheit italienischer Staatsbürger in Krisengebieten kümmern muss, aber nicht die Ministerpräsidentin zu wichtigen Staatsbesuchen begleitet – und als Außenminister selbst keine macht.
Das Durchziehen der Agenda funktioniert anscheinend nach dem Prinzip, dass die Parteien ihre jeweiligen Lieblingsthemen vorantreiben können, wenn die anderen Parteien nichts Wesentliches dagegen haben. In manchen Fällen lässt man den jeweiligen Protagonisten und die andere Partei nahezu kommentarlos machen, solange jene sich nicht in die eigenen Prioritäten einmischt. Das gilt beispielsweise auch für die Autonomie-Initiative der Lega einerseits und die Präsidenten-Direktwahl-Initiative der FdI, die gerade parallel betrieben werden. In anderen Fällen befürworten Vertreter anderer Parteien eine Initiative ausdrücklich, sogar mehr als die eigene, z.B. gefällt die vom Fratelli d‘Italia-Justizminisiter betriebene Schwächung der Staatsanwaltschaften besonders der FI Berlusconis.
Das hängt auch damit zusammen, dass es quer durch die Regierungsparteien ideologische Gemeinsamkeiten gibt. So ist nicht nur die Kleinpartei „Wir Moderaten“ im Katholizismus verankert, auch der Parlamentspräsident Fontana von der Lega gilt als traditionell-katholisch, und in der Forza Italia sind Elemente der Democrazia Christiana aufgenommen wie der einflussreichen Maurizio Gasparri. Salvini hat die Lega zu einer nationalistischen Partei gemacht und steht den Nationalisten der FdI darin in Nichts nach. Schließlich hat bereits Berlusconi die Postfaschisten der Allianza Nazionale (AN) vor der Gründung der Nachfolgepartei FdI salonfähig gemacht, mit der Beteiligung an diversen Regierungen, eine ganz breite Koalition einschließlich Lega und EX- DC und sogar mit zeitweise gemeinsamer Partei, dem Popolo della Liberta. Bei der erneuten Trennung sind außer ehemaligen AN-Mitgliedern auch neue Leute wie Nordio und Verteidigungsminister Guido Crosetto zu den FdI gestoßen.
Wenn es im Parlament (Senat oder Abgeordnetenhaus) auf Mehrheiten ankommt, steht man fest zusammen, auch zur Abwehr von Initiativen der Opposition, wie dem Misstrauensantrag gegen die Tourismusministerin Daniela Santanche.
Über allem thront Giorgia Meloni. Abgesehen von ihrer Fähigkeit, die diversen Politiker abwechselnd vorangehen zu lassen und im Rahmen zu halten, zeigt sie Geschick angesichts der misstönigen Begleitmusik. Die besteht aus immer neuen Äußerungen von Amtsträgern der Koalitionsparteien, die von Mangel an Kultur oder lächerlicher Wichtigtuerei zeugen, bei unbewusstem – oder bewusstem – Gebrauch faschistischer Terminologie, unter Leugnung menschlicher Verursachung des Klimawandels, mit Festhalten an falschen Narrativen aus fachlicher Inkompetenz, Interessenkonflikten etc. Meloni hört scheinbar nicht auf das Durcheinander. Im äußersten Fall kommentiert sie knapp und abschließend: übersetzt: „ich bin nicht erpressbar“ selbst gegenüber Berlusconi; „ist kein politisches Subjekt“ gegenüber Berlusconis Tochter „Ich würde mich auf andere Prioritäten konzentrieren“, „Mir scheint, dass ich mich damit nicht beschäftigen sollte“ und so ähnlich. Auch die täglichen Springteufel- Auftritte des Vize Salvini übergeht sie schweigend, selbst wenn der auf die Zusammenarbeit mit Le Pen im EU-Parlament drängt. Meloni ist hingegen auf eine Annäherung mit der EVP, in der Tajanis FI affiliiert ist. .
Außer dem Kreis der engsten Mitarbeiter aus Partei und Familie kann Meloni sich auch auf jemanden wie Giancarlo Giorgetti stützen, der stoisch wie schon bei Draghi und bei Conte I seine Aufgaben wahrnimmt. Der Superminister für Wirtschaft und Finanzen äußert sich auch nicht zu den aufmerksamkeitsheischenden Ankündigungen seines Parteichefs Salvini, selbst wenn es um sein Ressort geht.
Nach den Wahlumfragen zu urteilen sehen die Italiener keinen Anlass zu großen Veränderungen. Seit Monaten sind die Anteile bei den Präferenzen stabil, mit Melonis FdI bei fast 30%. Die Juniorpartner Lega und FI bleiben jeweils unter 10%, was sie davon abhalten dürfte, aus der Koalition auszubrechen, da viele der überproportional vielen Abgeordnete bei Neuwahlen ihren Sitz verlieren würden. Es sieht also nach einer stabilen Regierung aus, auch wenn die soziale Entwicklung für die niedrigen Einkommensschichten und den Mezzogiorno eher negativ ist und die Mittelschichten keine rosigen Aussichten haben, selbst wenn dies zu einer Verschiebung in den Wahlpräferenzen zugunsten der PD und der M5S führen würde.
Neuwahlen sind daher erst einmal eher unwahrscheinlich. Nicht ausgeschlossen, dass Mitte-Rechts noch mehrere Jahre seine Politik durchzieht.