Die Vorwürfe aus Frankreich, Italien und anderen EU-Ländern sind nicht neu, werden jedoch immer heftiger: Deutschland spart zu sehr und dringt darauf, dass auch in anderen Staaten ein strikter Sparkurs von der Politik gefahren wird, um die Neuverschuldung zu verringern und die außerordentlich hohen Berge der Staatsschulden abzutragen. Die Vorgaben dafür sind einst von allen Mitgliedern des Euro-Systems festgelegt worden: Maximal sollten es 3 % des Bruttoinlandsproduktes sein, die an neuen Krediten aufgenommen werden dürfen, maximal sollte die gesamte Staatsverschuldung bei 60 % des Bruttoinlandsproduktes liegen.
Gegen diese Maastricht-Kriterien haben in der Vergangenheit nahezu alle Euro-Staaten verstoßen – auch Deutschland, das allzu gerne die Rolle des Stabilitätsapostels spielt. Nach dem heftigen Schock, den die gerade einmal 5 Jahre zurückliegende Finanz- und Bankenkrise verursachte, wurden alle Super-Schuldner – von Griechenland über Irland bis hin zu Italien, Spanien, Portugal und Zypern – mit vielen hundert Milliarden vor dem finanziellen Kollaps gerettet und damit auch das Euro-System stabilisiert. Die wirklichen Ursachen für diese gefährliche Krise sind bislang von den meisten Regierungen in ihren Ländern jedoch nicht energisch genug beseitigt worden. In Deutschland gelang es immerhin die Neuverschuldung im Staatenhaushalt deutlich zu reduzieren; wenn alles nach Schäubles Finanzplan läuft, wird der Bund 2015 einen ausgeglichen Haushalt haben. Allerdings trägt dazu das Sparen nur recht wenig bei; vielmehr sind es die kräftig sprudelnden Steuereinnahmen und die riesige Entlastung beim Schuldendienst durch die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank, die den Bundesfinanzminister beglücken.
Ausgaben zu 80% per Gesetz vorgegeben
Gewiss ist Sparen immer noch eine Tugend – nicht nur in privaten, sondern auch in öffentlichen Haushalten. Je höher die Einnahmen sind, umso besser ist das für’s Sparen.
Kaum eine Regierung wird jedoch im Staatshaushalt so viel sparen können, wie sie durch Stagnation oder Schrumpfung ihrer Volkswirtschaft verliert. Die Ausgaben sind zumeist zu 80 % oder mehr per Gesetz vorgegeben und steigen in der Rezession zudem für Zahlungen an mehr Arbeitslose, für Sozialhilfen und in die Sozialsysteme. Was dadurch an Einnahmen ausfällt, dass die Wirtschaft nicht wächst, wird in kaum einem Staatshaushalt durch Einschnitte und Kürzungen, kurzum durch Sparaktionen, ausgeglichen werden können. In Deutschland beschert nur 1 % mehr Wachstum ein Plus beim Sozialprodukt von etwa 27 Mrd. €; bei einer Steuerquote von gut 23 % bringt dies rund 6 Mrd. € mehr an Einnahmen für den Fiskus, bei einer Sozialquote von etwa 20 % weitere 5,5 Mrd. € für die Sozialsysteme. Dieses Beispiel zeigt nur zu deutlich, wie wichtig wirtschaftliches Wachstum ist – zum einen für positive Impulse auf dem Arbeitsmarkt, zum anderen zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzen.
Neue Schulden machen bringt nicht automatisch mehr Wachstum und Beschäftigung. Die meisten Regierungen der EU hätten dies längst erkennen müssen, denn in der Vergangenheit sind sie mit immer neuen Krediten wahrscheinlich in die Vollen gegangen, doch ihre Wirtschaft stürzte ab, die Arbeitslosigkeit erreichte immer neue Rekorde – vor allem mit Raten von 20, 30 und 50 % bei der Jugendarbeitslosigkeit –, die Staatsverschuldung stieg auf 100 % des Bruttoinlandsproduktes und darüber. Der wirtschaftlichen und sozialen Verschlechterung folgte nicht selten die politische Instabilität wie etwa ganz aktuell in Frankreich, immerhin unser wichtigster Partner.
Soziale Wohltaten auf Pump schwächen die ökonomischen Kräfte
Nicht wenige Mitgliedsstaaten der EU haben sich in der Vergangenheit zu Gefälligkeitsdemokratien entwickelt, in denen von den regierenden Politikern stets mehr verteilt wurde, als zuvor erarbeitet wurde. Das allzu Soziale wurde zum unsozialen Bumerang mit bitteren Konsequenzen, denn soziale Wohltaten auf Pump fordern ihren Tribut, führen zur Schwächung der ökonomischen Kräfte und zu Verlusten bei der notwendigen internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Jedes Unternehmen und jeder Arbeitsplatz hier in europäischen Ländern stehen in unserer globalisierten Welt in Konkurrenz mit China, Indien, Brasilien, USA und anderen Volkswirtschaften.
Wachstum resultiert insbesondere aus technischem Fortschritt, Innovationen, neuen Produkten und Dienstleistungen, hoher Produktivität sowie großen Anstrengungen von Unternehmen und Arbeitnehmern. Es ist fast wie bei Weltmeisterschaften im Sport: Medaillen gewinnen nur die, die zuvor sehr hart trainieren, die mit neuen Techniken, Kombinationen, Aufstellungen und Systemen in der internationalen Arena auftreten. Mit immer weiteren Verkürzungen der Wochen – oder Lebensarbeitszeit, mit zu hohen Lohnstückkosten, mit zu geringen Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung, mit einer maroden Infrastruktur, mit zu hohen Belastungen durch Steuern und Sozialabgaben, mit zu langen und komplizierten Genehmigungsverfahren sowie schlechten Rahmenbedingungen haben sich einige unserer europäischen Partner die ökonomische Schwindsucht geholt. Diese Krankheit ist nicht mit neuen Schulden, sondern nur durch schnelle, gewiss schmerzliche Operationen zu heilen. Danach sind kräftige Reha-Maßnahmen notwendig – auch wenn mit neuen Krediten, die für produktive Investitionen und Arbeitsplätze eingesetzt werden und dann auch ein „return of investment“, eine Rendite mit mehr Wachstum, Beschäftigung, Einnahmen usw. bringen.
Milliarden-Investitionen in die Infrastruktur
Gemeinsam sollten sich die EU-Staaten auf den schärfer werdenden Wettbewerb in der globalisierten Welt einstellen. Milliarden-Investitionen müssen in die Infrastruktur gehen – in Straßen-, Schienen- und digitale Netze. Milliarden-Investitionen sind notwendig, um damit eine gemeinsame Energie- und Umweltpolitik in der EU schnell zu realisieren, um Forschung und Entwicklung von Innovationen zu optimieren, um Bildung und Ausbildung zu fördern und um mit guter Qualifizierung junger Menschen das „Humankapital“ zukunftsorientiert in Europa zu nutzen und auf den internationalen Wettlauf vorzubereiten. Die EU und ihre Mitglieder neigen bislang eher zum pathologischen Lernen und Handeln, während sich das Tempo in der globalisierten Welt ständig erhöht. Europa muss deshalb schneller, besser, effizienter, leistungsbereiter und -fähiger werden. Es ist wie das Rudern gegen den Strom: Wer aufhört zu rudern, wird zurückgetrieben; nur wer mit seiner Schlagkraft zulegt, wird schneller vorankommen und vorne dabei sein.
Der frühere Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller hat bereits vor Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass eine auf Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand ausgerichtete Wirtschaftspolitik eine Strategie des „Säens und Jätens“ verfolgen muss. Das bedeutet, dass investiert werden muss und dafür auch Schulden für das Saatgut gemacht werden können, die später eine Rendite für alle Bürger abwerfen und somit eine gute Zukunft für die nächsten Generationen sichern. Das heißt indessen auch, dass dort gespart werden muss, wo die staatliche Administration zu „fett“ geworden ist, wo der Sozialkonsum der Gegenwart zu sehr ausufert, wo das Saatgut für zukünftige Ernten schon in der Gegenwart verfrühstückt wird, wo vieles auf Pump zulasten der Kinder und Enkelkinder verzehrt wird. Nachhaltigkeit ist gefordert – im Umgang mit der Umwelt, mit allen Ressourcen und vor allem auch in der Finanzpolitik.
Frankreich braucht eine Agenda 2020
Frankreichs Staatsausgaben haben inzwischen die Rekordhöhe von mehr als 1.200 Mrd. Euro erreicht. Der Staatsapparat ist aufgebläht mit viel zu vielen Beamten, der Arbeitsmarkt ist überreguliert, die Sozialkassen sind marode und müssen immer mehr kreditfinanziert werden, das Steuersystem stranguliert die Unternehmen und Leistungsträger, viele Bereiche sind überreguliert und vom Staat vor dem Wettbewerb auf freien Märkten geschützt. Das Land dümpelt im Sumpf einer Rezession dahin – mit immer mehr Arbeitslosen und einer jungen Generation, die wenig Hoffnung auf eine bessere Zukunft hat. Das wirtschaftliche Desaster droht zu einem politischen Inferno zu werden, wenn Präsident Hollande und seine nochmals neu formierte Regierung nicht schnell mit verschiedenen Kraftakten die Wende einleiten – etwa mit einer Agenda 2020 nach dem Muster von Gerhard Schröder.
Die richtige Doppel-Strategie muss verfolgt werden: Sparen bei vielen Ausgaben im aufgeblähten Staatsapparat, Beseitigung der zu teuren Regulierungen, mehr Flexibilität in vielen Bereichen und Kürzung vieler allzu lieb gewordener Subventionen, Verstärkung zukunftsorientierter Investitionen – zum Teil auch über eine Kreditfinanzierung, um so die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und Arbeitsplätzen wiederzuerlangen, mit der das Land international bestehen kann.
Deutschland kann als wichtigstes Partnerland gewiss helfen und seinen Wirtschaftsmotor für die gesamte EU auf höhere PS-Kraft trimmen – auch mit dringend notwendigen Zukunftsinvestitionen. Allerdings hilft es wenig, einfach mehr staatliche Schulden zu machen oder neue Milliarden-Kredite in französische oder italienische Fässer zu kippen.