„Charakter zeigt sich bei Gegenwind“, hat Herbert Wehner einmal die politische Standfestigkeit in stürmischen Zeiten bewertet. Diese Beschreibung einer Grundhaltung durch den einstigen legendären SPD-Fraktionsvorsitzenden im Deutschen Bundestag ist keinesfalls auf Starrsinn gemünzt, sondern verlangt die Durchsetzung eigener politischer Überzeugung auch gegen harte Widerstände. Für die Koalition von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP bedeutet das schlicht und einfach, Regierungsverantwortung in schwierigen Zeiten zu beweisen. Das erwarten die Menschen, dafür haben sie diese Koalition gewählt. Und deshalb haben die drei Parteien ihren Koalitionsvertrag ja auch unter die Überschrift „Mehr Fortschritt wagen“ gestellt.
Selbstverständlich ist die Übersetzung von wohlklingenden politischen Zielen in pragmatisches Regierungshandeln nicht störungsfrei. Und ebenso selbstverständlich reagieren die drei Koalitionsparteien auf lautstarke Kritik von Opposition, Lobbyisten und Medien ganz unterschiedlich, nicht selten führt ihre jeweilige Reaktion dann auch zu heftigen Diskussionen innerhalb der Koalition. Das ist zwar schweißtreibend, auch hier und da nervenaufreibend, aber am Ende zwingt es zur Verständigung, zum Kompromiss, zum Ergebnis. „Entscheidend ist, was hinten rauskommt“, pflegte Helmut Kohl solche Prozesse zu beschreiben. Oder wie Gerhard Schröder öffentliche Stimmungsschwankungen mit einer niedersächsischen Redewendung abtat: „Hinten sind die Enten fett.“
Nach fast drei Jahren Regierungspolitik muss die Fortschrittskoalition allerdings feststellen, dass die Mehrheit der Menschen mit ihrer Arbeit nicht zufrieden ist. Auch der Kanzler trifft auf Ablehnung mit seiner Art und Weise des politischen Handelns und seiner Zurückhaltung, dies den Menschen öffentlich und offensiv zu erklären. Gleichzeitig ist die Zustimmung zur rechtsextremen AfD erschreckend hoch. Das sind Alarmzeichen, die den Koalitionsparteien mehr als nur zu denken geben müssen. Selbstverständlich sind Meinungsumfragen noch keine Wahlergebnisse, aber die Stimmungslage, die diesen Umfragen zugrunde liegt, kann sich festsetzen. Und diese Stimmungslage sieht für keine der Koalitionsparteien gut aus, für die FDP ist sie existenzbedrohend. Dennoch ist das kein Grund, hektisch zu werden, gar die Koalition in Frage zu stellen. Fluchtpläne sind nicht förderlich, sondern verunsichern Koalition und Öffentlichkeit zusätzlich. Stattdessen sollten sich Regierung und Fraktionen auf die großen Aufgaben konzentrieren und Lösungen präsentieren:
- Wirtschaftliche Entwicklung und wettbewerbsfähige Industrieproduktion voranbringen,
- Soziale Sicherheit im Wandel und gute persönliche Zukunftschancen vor allem für die jungen und älteren Menschen organisieren,
- Äußere und innere Sicherheit und engagierte Beteiligung in der Europäischen Union, der NATO und den Vereinten Nationen gewährleisten,
- Weltoffenes und humanitäres Land mit klaren Regeln für Einwanderung und schutzsuchende geflüchtete Menschen absichern,
- Deutschlands Rolle in der Welt als demokratischer Partner und wichtiger Akteur in der Entwicklungszusammenarbeit stärken.
Das verlangt Disziplin und Vertrauen in die gemeinsame Gestaltungskraft, also nicht mehr, aber auch nicht weniger als das, was die drei Parteien in ihren Koalitionsvertrag geschrieben und sich gegenseitig versprochen haben. Die Hoffnung auf mehr öffentliche Zustimmung ist jedenfalls nicht unbegründet, denn das enttäuschte und teilweise frustrierte Publikum wartet immer noch darauf, dass die Ampel-Koalition sich am Riemen reißt und weiterhin die Alltagsprobleme der Menschen löst und Zukunftschancen eröffnet. Politische Kompromisse in einer Regierungskoalition seien meist besser als die vorher gefassten jeweiligen Parteitagsbeschlüsse, stellt Franz Müntefering im Rückblick auf seine langjährige politische Arbeit kurz und knapp fest. Darin steckt viel Lebenserfahrung.
Unterm Strich bietet die Koalition also mit ihrem politischen Angebot der drei Parteien ein so breites Spektrum im parlamentarischen Wettbewerb an, auf das noch keine Regierung vor ihr verweisen konnte. Normalerweise müsste dieses Angebot auch für die nötige Wahl-Unterstützung reichen, um weiter regieren zu können. Auf ein späteres Bündnis mit den Unionsparteien zu setzen, wäre ein Vabanquespiel. Besonders für die FDP wäre eine solche Vorgehensweise nicht nur mit einem hohen Risiko verbunden, sondern könnte sie auch ins parlamentarische Aus befördern. Denn was sollen Wählerinnen und Wähler von einer Partei halten, die eine eingegangene Koalition von innen heraus destabilisieren und das Fremdgehen zur Tugend hochstilisieren will?!
Gemeinsames Selbstbewusstsein jedenfalls könnten alle drei Parteien aus ihrer bisherigen Politik tanken, weil auf der Strecke weit mehr gelungen als misslungen ist. Durch die großen Krisen sind Land und Leute alles in allem gut gesteuert worden. Da lässt sich vieles nennen, was den Menschen in schwierigen Zeiten geholfen und gutgetan hat. Deutlich höherer Mindestlohn, mehr Kindergeld, 49-Euro-Ticket, 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr, neues Einwanderungs- und Staatsbürgerrecht, Hilfen für die Familien, Strompreisbremse, steuer- und abgabenfreie Tariferhöhungen bis zu 3000 Euro, Finanzhilfen für Betriebe und Unternehmen, spürbare Entlastungen in der Lohn- und Einkommensteuer, Finanzhilfen für Schulen, Finanzhilfen für Kommunen bei der Unterbringung und Versorgung von geflüchteten Menschen sind einige Stichworte. Allerdings ist das alles in unserer schnelllebigen Zeit zwar willkommen aufgenommen, dann aber auch abgehakt und schnell vergessen worden.
Hinzu kommt, dass die an sich gute Arbeit von den Koalitionären selbst geschmälert worden ist – durch unnötige Streitereien in aller Öffentlichkeit oder schludrige und fehlerhafte Vorbereitung von wichtigen gesetzlichen Maßnahmen. Kindergrundsicherung und Heizungsgesetz lassen grüßen. Auch das Verhalten in der Europäischen Union bei Verbrennungsmotoren und Lieferkettengesetz sind kein Ruhmesblatt. Die durch diese Unzulänglichkeiten aufgedeckten Schwachpunkte lassen sich jedoch bei etwas gutem Willen zukünftig vermeiden. In diesem Zusammenhang braucht es umsichtige und gute Arbeit im Kanzleramt. Dabei geht es weniger um die viel zu häufig strapazierte Forderung nach Führung durch den Kanzler, sondern mehr um strukturierte und planvolle Zusammenarbeit in der Regierung und mit den Fraktionen. Wenn das Kanzleramt seine dienende und kooperierende Funktion als Schaltzentrale für die gesamte Regierung und die Koalitionsfraktionen entschieden wahrnimmt, ist schon viel gewonnen. Dann ließen sich wohl auch die egozentrischen Fliehkräfte in der Koalition eindämmen. Dass diese frei floaten und zur Nachahmung anreizen, kann jedenfalls nicht im Sinne des Kanzlers sein.
Überhaupt bietet die Drei-Parteien-Koalition durchaus neue Chancen für die parlamentarische Demokratie. Jedenfalls sind früher übliche Zwei-Parteien-Koalitionen im Deutschen Bundestag zukünftig kaum noch zu erwarten. Und längst ist noch nicht ausgeschlossen, dass diese Koalition auch nach der nächsten Bundestagswahl weitermachen kann. Ein pfleglicher Umgang untereinander wäre jedenfalls auch ganz im Sinne der großen Mehrheit der Wählerinnen und Wähler, die kaum Verständnis für parteipolitisches Kleinklein und halsstarrige Rechthaberei aufbringt. Mehr Kompromisse wagen, könnte die große Leitlinie für die Dreier-Koalition auf der weiteren Wegstrecke sein, die zum Erfolg führt und von den Menschen anerkannt wird. Unserer Demokratie würde damit jedenfalls sehr geholfen.