Die ersten Konturen einer künftigen Koalition zwischen den Unionsparteien CDU und CSU mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands sind nach den Sondierungsgesprächen und den schriftlich festgehaltenen Ergebnissen erkennbar geworden. Dabei wird es nicht nur darauf ankommen, was später in den einzelnen Kapiteln der Koalitionsvereinbarung vereinbart worden ist, sondern vor allem ist es wichtig, dass der Grundgedanke einer in der Sondierung angedachten Gemeinsamkeit durchgetragen wird. Es geht schlicht und einfach darum, dass nach den unsäglichen Streitereien am Ende der abgewählten Ampel-Koalition die neue schwarz-rote Regierung mehr gemeinsame Politik wagt. Darauf wartet die große Mehrheit der Menschen in Deutschland, das ist ihre Hoffnung und die darf nicht enttäuscht werden.
Mit den Beschlüssen des Deutschen Bundestages kurz vor Ende seiner Wahlperiode zu den Grundgesetzänderungen ist eine solide finanzielle Basis für die anstehenden großen Herausforderungen, vor denen Deutschland und Europa stehen, gelegt. Mit der Lockerung der sogenannten Schuldenbremse und dem 500 Milliarden schweren Investitionspaket haben der höchstwahrscheinlich nächste Bundeskanzler Friedrich Merz und die Unionsparteien CDU und CSU zwar in Windeseile einen Teil ihrer Wahlversprechen zu den Akten gelegt, aber sie haben damit gleichzeitig auch bewiesen, wie schnell sie lernfähig sind und sich der Realität anpassen können. Die Zustimmung des Bundesrates hat mit dazu beigetragen, dass eine starke politische Unterstützung für diese Finanzierung der Zukunftsaufgaben durchaus vorhanden ist. Die harte Kritik wegen gebrochener Wahlversprechen müssen Merz und die Union ertragen. Vor allem dürfen sie sich davon nicht übermäßig beeindrucken lassen und in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD nur noch knallharte Unionspolitik durchsetzen zu versuchen, weil enttäuschte Hardliner in und außerhalb der Union das lautstark fordern. Merz sollte wissen, dass er auf diese Koalition angewiesen ist, wenn er Kanzler werden will und dass es sie nicht zum Nulltarif geben kann, wenn die SPD-Mitglieder zustimmen sollen. Koalitionen müssen auf Kompromisse gebaut werden, wenn sie funktionieren sollen und erfolgreich sein wollen. Oder anders: Ohne Kompromisse gelingt keine gute Politik, schon gar nicht in einer Koalition. Lindner lässt grüßen.
In den nächsten Tagen wird sich zeigen, ob und wieviel Merz und seine Union aus den letzten Tagen vor der Bundestagsabstimmung gelernt haben. Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat jedenfalls ein beeindruckendes Lehrstück aufgeführt. Sie hat enorme staatspolitische Verantwortung bewiesen, obwohl das großspurige und bisweilen auch großkotzige Auftreten von Merz, Söder und vielen anderen in der Union vor der Wahl und sogar noch nach der Wahl gegenüber den Grünen für Entsetzen und Empörung in deren Reihen gesorgt hat. Noch in der abschließenden Bundestagsdebatte vor der Abstimmung war der Auftritt von Merz alles andere als kanzlerlike. Wenn er mit seinen Reden, wenn er mit seinen Argumenten mehr als die eigene Fraktion, die eigene Partei ansprechen, erreichen, sogar überzeugen will, dann braucht er noch viel Coaching. Da ist noch viel Luft nach oben und da darf gehofft werden, dass seine Lernkurve längst nicht beendet ist. Olaf Scholz hat zwar zuletzt selbst eingeräumt, dass er als Kanzler zu viel moderiert und zu wenig persönlich durchgesetzt habe, dennoch sollte Friedrich Merz sich mehr zurücknehmen und sich einiges von der ausgleichenden und oft wohlüberlegten Handlungsweise des scheidenden Kanzlers abgucken.
Für die anstehende schwarz-rote Koalition muss jedenfalls von Beginn an klar sein, dass nicht gegeneinander, sondern nur miteinander regiert werden darf. Deshalb darf in den Koalitionsverhandlungen auch nicht schwarz pur gegen rot pur ausgekämpft werden. Vielmehr muss die ganze Verhandlungskraft darauf konzentriert werden, die Gemeinsamkeiten in den jeweiligen Politikbereichen herauszuarbeiten und dann für die zukünftige Politik festzulegen. Das erwartet auch die weit überwiegende Mehrheit der Menschen in Deutschland nach der Hampelei in der Ampel-Koalition. Es geht diesmal um viel bei der Regierungsbildung. Unsere Gesellschaft ist wundgerieben von den Zumutungen und Herausforderungen durch die Corona-Pandemie, die wirtschaftlichen und finanzpolitischen Beeinträchtigungen durch Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, die anhaltenden Folgen der Migration, die Schwäche unserer Exporte mit den Wachstumshemmnissen für Unternehmen und Arbeitsplätze, den Rückgang der industriellen Produktion, den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, die Sorge vor wirtschaftlichem und sozialem Abstieg, die Angst, dass unsere demokratischen Institutionen den brachialen Angriffen der Rechtsextremisten und Faschisten, den Verfassungsfeinden in der AfD nicht standhalten und dass es den Kindern und Enkeln mal schlechter gehen kann, die Sorge, dass Europa untergeht bei den Angriffen aus den USA, Russland und China und dass die militärische und zivile Verteidigungsfähigkeit in Deutschland und Europa nicht schnell genug erreicht wird. Deshalb braucht es jetzt unverzüglich politische Entscheidungen, die diesen Ängsten und Sorgen nachhaltig begegnen und damit für neue Hoffnung und Zuversicht sorgen. Ja, selten war die Politik, war unsere Gesellschaft solch epochalen Weichenstellungen ausgesetzt wie heute. Kleinkarierte politische Geländegewinne verbieten sich deshalb in diesen wichtigen Koalitionsverhandlungen.
Dass die 17 fachpolitischen Arbeitsgruppen die Ergebnisse ihrer Verhandlungen und Textvorschläge für die Koalitionsvereinbarung bereits nach wenigen Tagen vorgelegt haben, ist ein gutes Zeichen für eine konzentrierte und zielorientierte Herangehensweise. Dass damit aber längst nicht alle streitigen Punkte erledigt und alle Probleme beseitigt sind, war zu erwarten. Jetzt kommt es darauf an, dass die politischen Führungsteams nach den fachpolitischen Vorarbeiten die Einzelteile zu einem konsensualen Ganzen zusammenfügen. Kompromissfähigkeit ist jetzt gefragt, nicht parteipolitisches Kleinklein. Politische Führung beweist sich in solchen Zeiten, wenn es gelingt, sich in die Lage der jeweils anderen Seite hineinzuversetzen und ihre Argumente für die Lösung von Problemen aufzunehmen und ernst zu nehmen. Das erleichtert die Arbeit und ebnet den Weg zu Kompromissen. Die Weisheit hat schließlich keine Partei für sich gepachtet und den Anspruch auf die alleinige Wahrheit sollten alle schnell beiseitelegen. Parteitagsbeschlüsse sind sicher hilfreich für die eigene Orientierung, dogmatische Hürden für Verständigung dürfen sie aber nicht sein. Auch hilft es nicht, aus den Wahlergebnissen abzuleiten zu versuchen, dass größere Prozentanteile immer auch größere Anteile bei der Durchsetzung politischer Ziele in einer Koalition bedeuten müssen. Politische Erfahrung lehrt: Keiner muss sich strecken oder bücken, um dem anderen auf Augenhöhe zu begegnen. Wenn Union und SPD das alles beherzigen und sich ihrer besonderen Verantwortung für das Große und Ganze in Deutschland und Europa bewusst sind, dann kann auch Gutes gelingen. Und dann wird es auch nach und nach Zustimmung bei der großen Mehrheit der Menschen in Deutschland geben.
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