Der Druck zur Wiedereinführung einer Sperrklausel bei den Kommunalwahlen in NRW wächst. Nach SPD und CDU streben nun auch die Grünen eine prozentuale Hürde an, die vor dem Einzug in Gemeinderäte und Kreistage zu überwinden ist. Kleinstgruppierungen, die seit der Wahl im Mai 2014 in vielen Räten zahlreich vertreten sind, sollen wieder draußen bleiben. Doch das Unterfangen ist schwierig. Die Gleichheit der Wahl, wie sie im Grundgesetz garantiert wird, ist berührt.
Mehr Demokratie wagen. Diese mehr als vier Jahrzehnte alte Aufforderung von Willy Brandt schien sich zu erfüllen, als der Verfassungsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen in Münster (VerfGH NRW) per Urteil vom 6. Juli 1999 die Sperrklausel bei der Wahl zu den Räten und Kreistagen in NRW faktisch aufhob. Der Landtag in Düsseldorf, so die richterliche Begründung, habe das Recht auf Chancengleichheit der Parteien und auf Gleichheit der Wahl dadurch verletzt, dass er 1998 bei der Änderung des Kommunalwahlgesetzes die Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht aufgehoben oder abgemildert hatte. Die Ansicht des Landtags, bei einem Wegfall der Sperrklausel könnten vermehrt Splitterparteien in die Kommunalvertretungen einziehen und deren Funktionsfähigkeit beeinträchtigen, ließ das Gericht als Argument nicht gelten.
Bunter, vielfältiger, lebendiger
Die Räte würden also, so die Erwartung, bunter, vielfältiger, lebendiger werden. Doch inzwischen werden die Warnungen lauter, dass der Wegfall der Sperrklausel die Demokratie nicht belebt, sondern lähmt. Die „Funktions- und Regierungsfähigkeit“ der Kommunalvertretungen sei „gefährdet“, zeigte eine empirische Untersuchung von Bochumer Sozialwissenschaftlern um Professor Jörg Bogumil schon 2009. Die Anzahl der Ratsfraktionen sei von rund vier auf durchschnittlich acht gestiegen, die Ratssitzungen hätten sich deutlich verlängert und: „Die starke Fragmentierung führt zu besonders ausgeprägten Problemen bei der Mehrheitsbildung und Regierungsfähigkeit.“
Die Erkenntnisse der Bochumer Wissenschaftler widersprachen einer zentralen juristischen Begründung für die Abschaffung der Sperrklausel, dass nämlich durch die Direktwahl der Bürgermeister die Regierungsbildung unabhängig von der Funktionsfähigkeit der Kommunalvertretung gesichert sei. Die Forscher sahen „unmittelbaren Handlungsbedarf“ für den Landesgesetzgeber und empfahlen eine einheitliche gesetzliche Sperrklausel von 2,5 Prozent.
Demokratie darf mühsam sein
Doch das ist leichter gesagt als getan. Der Verfassungsgerichtshof verwarf bereits eine von der früheren schwarz-gelben Landesregierung vorgeschlagene Mini-Sperrklausel von einem Prozent. Das Grundgesetz schreibt in Artikel 28 für alle Bundesländer verbindlich vor, dass die Vertretungen der Kreise und Gemeinden aus gleichen Wahlen hervorgehen, und einen Eingriff in diese Wahlgleichheit, wie eine Sperrklausel ihn darstellt, werden Verfassungsrichter nur bei hinreichender Rechtfertigung akzeptieren. Bloße Erschwernisse bei Beschlussfassung und Willensbildung sind eben nicht hinreichend. Demokratie darf mühsam sein. Aus juristischer Sicht genügt auch nicht eine nur theoretische Möglichkeit, dass die Funktionsfähigkeit der kommunalen Vertretungsorgane beeinträchtigt wird. Hier sind belastbare Fakten gefragt, also die nachweislich konkrete Gefährdung der Funktionsfähigkeit.
Jörg Bogumil erforscht das Thema weiter, versucht zu ermitteln, wie sich die Arbeitsabläufe in Räten, Kreistagen, Ausschüssen verändert haben, wie sich die Nutzung von Rede- und Antragsrechten in der Praxis auswirkt, kurz: Wie es in den Städten um die Demokratie bestellt ist. Seltsame Bündnisse, die zwischen politischen Gegnern allein zum Zweck der Fraktionsbildung geschlossen werden, gehören zu den Entwicklungen. Da gehen ein Pirat und ein AfDler zusammen, da zerbricht eine zweiköpfige Linkenfraktion, und der Einzelvertreter der Piraten springt umgehend in die Bresche… Hinzu kommen ganz praktische Auswirkungen bei der Ausstattung der Fraktionen und der Größe der Ausschüsse.
„Wir dürfen uns nicht von Kleinstgruppen unsere kommunale Demokratie kaputt machen lassen“, sagte der Chef der SPD-Landtagsfraktion, Norbert Römer, als er eine Initiative für eine Drei-Prozent-Hürde ankündigte. Doch ob der vorgeschlagene Weg über die Änderung der Landesverfassung tatsächlich ans Ziel führt, ist fraglich. Der Düsseldorfer Jurist Johannes Dietlein äußert Bedenken. Verfassungsgesetzgebung in den Ländern sei keine ungebundene Freiheit, sondern an die gesamtstaatliche Ordnung gebunden. Deshalb habe sich das Grundgesetz gerade die Wahrung einheitlicher demokratischer Legitimationsgrundlagen zur zentralen Aufgabe gemacht. Dietlein verweist auf Artikel 28 des Grundgesetzes. Daran können Grüne, SPD und CDU in NRW nicht vorbei, auch wenn sie sich in der Sache einig sind.