Der erste vom Bundestag beschlossene Bürgerrat ist eröffnet. „Ich freue mich, dass es jetzt endlich losgeht“, sagte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) und riet den 160 Mitgliedern: „Sagen Sie, was sie denken. Und reden Sie, wie Sie immer reden. Genau dafür ist der Bürgerrat da.“
Das Thema, zu dem nun „die Menschen zu Wort kommen, die sich sonst nicht von selbst melden oder lautstark ihre Meinung kundtun“, wie Bas formulierte, lautet: „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“. Die Parlamentspräsidentin versprach: „Wir werden uns sehr ernsthaft mit ihren Vorschlägen auseinandersetzen.“ Was aber übernommen werde, sei „am Ende die Entscheidung des Bundestags“.
Das beschreibt die Bandbreite der Möglichkeiten, die mit den Bürgerräten ins politische Geschehen kommen. Erfüllt sich ein Stück von Willy Brandts mehr als 50 Jahre alter Vision „mehr Demokratie wagen“, erfährt die Demokratie in Zeiten schwerer Bedrängnis eine Stärkung, oder handelt es sich bei dem Unterfangen um eine Alibiveranstaltung, die nur der Imagepflege dient? Die Antwort wird sich aus dem gesetzgeberischen Umgang mit den Empfehlungen ergeben, die der Bürgerrat in den fünf Monaten bis Februar 2024 erarbeiten wird.
Die Demokratie ist unter Druck. Weltweit sind autoritäre Bewegungen auf dem Vormarsch und auch in Deutschland sinkt die Akzeptanz der aktuellen Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge. Theoretisch halten die Menschen die Demokratie zwar für die beste Staatsform, mit der gelebten Praxis aber sind sie zunehmend unzufrieden und fühlen sich von den Regierenden nicht vertreten.
Mehr Bürgerdialog haben SPD, Grüne und FDP in ihren Koalitionsvertrag geschrieben. Das dokumentiert Einsicht in Defizite. Vom Bürgerrat erhofft sich das Parlament einen Einblick in die Stimmung und Meinungen der Menschen im Land. Konkret geht es darum, welche Maßnahmen für eine gesündere und nachhaltigere Ernährung gewünscht werden und welche Beiträge die Menschen dafür zu leisten bereit sind. Dazu sollen neun Empfehlungen der Mehrheit des Rats gebündelt und auch Minderheitspositionen erkennbar gemacht werden.
Kritiker wenden ein, dass Bürgernähe eine Aufgabe der Abgeordneten sei und 160 zufällig ausgeloste Bürgerratsmitglieder nicht den Bürgerwillen repräsentieren. Sie sehen auch die Gefahr, dass die gewählten Abgeordneten sich mit dem Instrument „heiße Eisen“ vom Hals schaffen wollen, bei denen unpopuläre Entscheidungen anstehen. Außerdem ist das Vorhaben in parteipolitischen Streit geraten. Die Union, deren früherer Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble die Bürgerräte noch gefördert hatte, stimmte dem zum Thema Ernährung nicht zu.
Die Themenwahl spielt natürlich eine bedeutende Rolle. Zur Ernährung könne jeder etwas aus der eigenen Erfahrung beitragen, hieß es dazu. Außerdem wurde das Aufregerpotenzial ins Feld geführt, das bei Initiativen zu vegetarischen Tagen oder dem Streichen von Schnitzeln aus dem Kantinenessen in medialer Empörung seinen Niederschlag fand.
In anderen Ländern, zum Beispiel Österreich, Spanien und Irland sind Bürgerräte lange aktiv. Auch in Baden-Württemberg gibt es seit dem Debakel um Stuttgart 21 diese Mitwirkungsmöglichkeit. In Irland wird die Liberalisierung des Abtreibungsrechts dem Engagement der Bevölkerung zugute geschrieben, also die Befriedung eines jahrzehntelangen Streits mit der katholischen Kirche, den die Politik aus eigener Kraft nicht hatte lösen können.
Um Fragen des politischen Handlungsspielraums geht es auch bei dem Vorschlag der Bundestagspräsidentin, die Wahlperiode von vier auf fünf Jahre zu verlängern. Das soll dem Gesetzgeber mehr Möglichkeiten geben, zwischen zwei Wahlen auch schwierige Themen anzugehen. Allerdings ginge es mit einem Verlust an demokratischer Mitwirkung einher, wenn der Wähler erst nach fünf Jahren neu entscheiden könnte.
Schließlich darf bei allen Bemühungen um die Stärkung der Demokratie nicht übersehen werden, dass die Bereitschaft der Menschen, sich einzubringen und zu beteiligen, nachlässt. Die im Haushalt 2024 vorgesehenen Mittelkürzungen im Bereich der politischen Bildung sind da kontraproduktiv.