Die sich hinziehenden Verhandlungen über die Bildung einer Regierung in Berlin und die damit einhergehende Medienaufmerksamkeit verdecken, dass unser politisches System spätestens seit dem Auftauchen der AfD – verstanden als Protest gegen die etablierten Parteien – nicht mehr so funktioniert, wie wir es in der Bonner Republik bzw. in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung gelernt haben. Die Rahmenbedingungen haben sich verändert, das spürt jeder. Und das gegenwärtige Starren der Kaninchen auf die Schlange(n) lenkt davon ab, dass die Entfremdung zwischen Wählern und Gewählten weiter wächst, weil weniger über Inhalte von Politik gestritten, sondern viel mehr über Strategie und Taktik ihrer Umsetzung diskutiert wird. Viel zu wenig wird thematisiert, dass die Unlust bzw. Unfähigkeit der Parteien zur Zusammenarbeit damit zu tun haben könnte, dass sie für die Wähler zur Zeit inhaltlich keine überzeugende Profilierung bzw. erkennbare Orientierung bieten, die den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen in Zeiten der Globalisierung und der Digitalisierung gerecht würde und gleichzeitig die davon massiv tangierten Alltagsanliegen der Menschen in unserem Land versteht.
Die Frage nach den Auswirkungen der Globalisierung und der Digitalisierung auf die Politik und damit auch die Medien wird in politikwissenschaftlichen Diskursen wie auf bildungspolitischen Podien diskutiert, zuletzt im November 2017 auf großer Bühne mit fast 400 Teilnehmern in Berlin. Dabei kann sie nicht beantwortet werden ohne eine Klärung der viel relevanteren Frage, nach welchen Mechanismen die politische Debattenkultur funktioniert und wie der Prozess der Meinungsbildung bei uns organisiert ist. Ein Scheitern der Koalitionsverhandlungen und damit verbundene Neuwahlen wären ohne Zweifel Wasser auf die Mühlen der populistischen Kritiker und Gegner unseres etablierten Parteiensystems. Aber die viel wichtigere Frage ist, wie sich die Politik und damit auch die Medien auf die veränderten Rahmenbedingungen einstellen, und dies ist eng verbunden mit der Frage nach der Arbeitsweise und der Funktionsfähigkeit der Politik im Allgemeinen und der Parteien im Besonderen. Im Kern geht es um die Frage, ob für die Politisierung der Gesellschaft entweder der Weg von unten nach oben – Themen und Anliegen der Menschen werden von der Politik aufgegriffen –, oder von oben nach unten – Politik und Parteien erklären den Menschen, was ihre Themen und Anliegen sind bzw. sein sollten -, der richtige bzw. bessere ist. Erst in diesem Zusammenhang stellt sich dann auch die Frage, welchen Einfluss oder welche Auswirkungen insbesondere die Digitalisierung dabei hat bzw. haben kann.
Die Bedeutung der Digitalisierung für das Funktionieren von Politik kann man also nicht losgelöst vom Funktionieren der Politik an sich betrachten. Anscheinend ist es doch so, dass die Politisierung der Gesellschaft heute bei uns vornehmlich über den Weg von oben nach unten, Top Down, organisiert ist und dieser Weg als normal gilt und weitgehend akzeptiert wird. Die etablierten Medien tragen ihren Teil dazu bei bzw. verstärken dies noch. Die Möglichkeiten der Kommunikation über die sozialen Medien erleichtern es der Politik und den Parteien sogar, mit ihrer Hilfe den Agenda-Setting-Ansatz von oben nach unten noch zu verstärken. Dies umso mehr, als die meisten der nicht von der Politik, sondern tatsächlich von unten angestoßenen politischen Diskussionen im Netz, Bottom Up, bisher so unorganisiert und teilweise chaotisch ablaufen, dass eine Themensetzung auf diesem Weg nicht wirklich zu funktionieren scheint. Aber der traditionelle Weg von oben nach unten funktioniert nicht mehr richtig. Sonst wäre die oft diffuse Unzufriedenheit nicht so greifbar. Die Politik bzw. unsere demokratischen Parteien lassen aber leider bisher nur erste Ansätze einer Einsicht in die hiermit verbundene Problematik erkennen. Dies hat auch damit zu tun, dass die handelnden Personen – Merkel, Schulz, Seehofer – persönlich eher am Ende als noch am Anfang ihrer Karrieren stehen und diese Situation ebenfalls wieder etwas verdeckt, dass es nämlich um mehr als Personen geht. Alle Bemühungen in der Politik, etwas gegen Wutbürger, Lügenpresse, Hasskommentare etc. zu tun, wirken ziemlich hilflos und kurieren an Symptomen. Sie täuschen darüber hinweg, dass man nicht ernsthaft erkannt hat bzw. nicht wirklich bereit ist, der verbreiteten Unzufriedenheit über eine Veränderung der Abläufe der Prozesse der Politisierung entgegenzuwirken.
Um auf den Punkt zu bringen, um was es geht, hilft ein Blick in das Grundgesetz. Dort steht der schöne Satz, dass die Parteien an der Willensbildung des Volkes mitwirken. Die demokratischen Parteien der Bundesrepublik haben in der deutschen Nachkriegsgeschichte von Anfang an versucht, die Rolle der Parteien für die politische Meinungsbildung eben nicht in diesem Sinne, also von unten nach oben, sondern genau anders herum, von oben nach unten auszufüllen. Dies ist Ihnen weitestgehend auch gelungen – und erklärt zu einem guten Teil die Unzufriedenheit, die Enttäuschung, den Protest, der Ihnen in zunehmendem Maße entgegenschlägt. Man stelle sich vor, das Grundgesetz postuliere, dass das Volk an der Willensbildung der Parteien mitwirkt! Ein solcher Satz würde, nicht zuletzt bei den Parteien selbst, zu Recht mit Abscheu und Empörung zurückgewiesen. Aber vielleicht hilft es sich einzugestehen, dass der Satz nicht ganz falsch ist, ja mehr der Realität entspricht, als es die Väter des Grundgesetz angedacht hatten.
Die Frage, welche Auswirkungen die Digitalisierung auf die Meinungsbildung hat, geht also nicht tief genug. Ihre Beantwortung hängt davon ab, welche Mechanismen der Politisierung der Gesellschaft zugrunde liegen bzw. welche man anwenden will. Für einen Top-Down-Ansatz ist das Netz bereits jetzt ein nützliches Instrument. Für einen Bottom-Up-Ansatz wäre es sicher auch hervorragend nutzbar, aber eben ganz anders. Auf der Suche danach, was zu tun wäre, um die erwünschte Politisierung zu bewirken, kann und sollte man zwar auch über die Förderung der Medienkompetenz reden, – um die Auswirkungen der Digitalisierung zu durchschauen -, aber viel mehr geht es doch um eine Einsicht in die Notwendigkeit und den grundgesetzlichen Auftrag, die Themen und Anliegen der Menschen von unten nach oben zu transportieren. Dies ist ein Thema der politischen Bildung und der Förderung der politischen Kompetenz. Erst daran anschließend kann und sollte man über die Wirkung und die Möglichkeiten der Digitalisierung reden bzw. die Veränderungen, die sie für unser politisches System mit sich bringt. Medien und Politik sind durch die Digitalisierung im Wandel, ja, aber die Politik macht es sich zu einfach, wenn sie die Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen sucht, ohne ihre eigene Funktionsweise und ihre Mechanismen auf den Prüfstand zu stellen.
Bildquelle: Wikipedia, Von Kevin MoosTamara-Celine JochumKlaus Fabian Berend – Computer, CC-BY 4.0,