Maurer und Polizisten sieht Ursula von Kardorff, die SZ-Reporterin, als sie am 19. August 1961 die Berliner Mauer das erste Mal live vor Augen hat. Sie ist mit dem Flugzeug von München in die Frontstadt, wie Berlin damals hieß, geflogen. Maurer und Polizisten, die Reporterin fröstelt bei dem Gedanken, dass sie dieses Bild schon einmal gesehen hat- in einem Film über das Warschauer Getto. Ich erinnere mich an diesen Film und das Bild. Sie geht an die Maurer, steckt einen Finger in den Mörtel, er ist noch weich. Und schon herrscht sie ein Volkspolizist an: „Treten Sie zurück, hier ist der demokratische Sektor.“ Der Mann ist klein, vielleicht 19 Jahre alt, sein „R“ rollt mecklenburgisch, am Gewehr hat er ein aufgepflanztes Bajonett. „Was ist denn hier los, was soll denn diese Mauer mitten in Berlin?“ Fragt die Reporterin. Arbeiter laden weiter Betonplatten vom Wagen. Sie grinsen. Die SZ-Reporterin ruft ihnen und den Vopos zu: „Was tut ihr bloß hier?“ Und erhält in unverfälschtem Sächsisch die Antwort: „Wir schützen unsere friedliebenden Brüder vor dem Westberliner Frontstadtsumpf, vor den Bonner Ultras, den Kopfjägern, den Kindsräubern, den Achtgroschenjungen und den Diversanten“.
Nachzulesen im „Berliner Tagebuch“ der Autorin in dem feinen Sammelband der „Süddeutschen Zeitung“, herausgegeben aus Anlass des 75jährigen Bestehens des Blattes.
Die Geschichte, die Ursula von Kardorff in dem Band erzählt, geht noch weiter. Heute lachen wir darüber, dass ein Vopo ihr über die Mauer, die noch nicht die letzte Höhe erreicht hatte, zurief.“ Ihr da drüben müsst ja hungern“. Was einen neben ihr stehenden Westdeutschen zur Gegenrede provozierte: „Wat? Ihr seid wohl dußlig? Wer schickte denn die Pakete mit Kaffee und Kakao, ihr oder wir? Is doch alles Kacke, Mann. Laßt doch den ganzen Parteiquatsch, kommt rüber, hier habt ihr´s besser.“ Von der anderen Seite der Mauer kommt Gelächter, dann meldet sich wieder ein Vopo und hebt sein Gewehr: „Ich schlitze euch den Bauch auf.“ Worauf es aus dem westlichen Teil die Antwort gibt: „Mensch, halt die Klappe. Bist ja bloß´n Kopp größer als´n Hund, Kleener.“ Alltag im geteilten Deutschland im August 1961, erzählt von Ursula von Kardorff.
Ätzende Kontrollen an der Grenze
Ja, so war´s damals. Ich studierte an der Freien Universität 1965, wohnte bei einer Familie, die vom Alex kam und in Dahlem eine Wohnung hatte. Der Rest der Familie war drüben geblieben, im Osten der Stadt, in der Gegend des Alexanderplatzes. Bei Geburtstagen und vor Weihnachten sollte ich dann Geschenke rüberbringen aus dem Westen: Kaffee, Zigaretten, Schokolade, Seidenstrümpfe. Als Bürger der BRD, wie man in Ostberlin die Bundesrepublik abkürzte, durfte ich nach Ostberlin. Über die Friedrichstraße. Die Kontrollen waren ätzend. Dass man sich nicht ausziehen musste, war alles. Man wurde gefilzt. Und einmal kontrollierten sie auch den Inhalt meiner Geschenk-Tüte, fragten, für wen das sei, wo ich wohnte usw. Und dann nahmen sie mir die Tüte ab. Ich durfte zwar passieren, kam aber bei den Verwandten meiner Dahlemer Vermieter mit leeren Händen an. Die Enttäuschung war groß. Als ich am Abend wieder zurückfuhr in den Westen, wurde mir die Tüte ausgehändigt, mit Zigaretten und Kaffee usw.
Mit der Schulklasse waren wir zuvor in Berlin gewesen, mit dem Bus, wir übernachteten irgendwo im Westen- ich meine in der Nähe des Olympiastadions- und waren dann mehrfach in den Ostteil gefahren. Mit dem Bus. Das war wegen der Mauer eine ziemliche Kurverei. Das Bild, das sich uns im Osten bot, war eine graue Kulisse, unfreundlich, dazu die Mauer, die den Bahnhof Friedrichstraße verunstaltete wie andere Teile der Stadt, die sie trennte. Und überall trafen wir auf Uniformierte. Ich kannte das Brandenburger Tor noch aus der Zeit ohne Mauer, als man mit dem Bus einfach durchs Tor fahren konnte.
Jahre später war ich beruflich öfter in Berlin, passierte die Mauer zu Fuß oder fuhr mit dem Berliner CDU-Politiker Eberhard Diepgen, lange Regierender Bürgermeister der Stadt, an die Mauer und er erklärte mir die Sprüche, die Jugendliche an das schäbigste Bauwerk gesprayt hatten, das ich je gesehen hatte. Inzwischen war die Mauer gewachsen, man musste auf Holztreppen steigen, wollte man rüberschauen. Dazu all die Befestigungen, Hundestaffeln, Türme, Panzerstraßen. Furchtbar. „Momentaufnahme des perfekten Polizeistaates.“ Beschreibt Ursula von Kardorff ihre Eindrücke des Berlin-Besuchs.
Zwischen 327 und 650 Todesopfer
Die SED und ihr Staat mit Stasi, ohne Presse- und Meinungsfreiheit, ohne freie und geheime Wahl, abgeschirmt von der freien westlichen Welt durch Mauer und Stacheldraht, mit Schießbefehl, dem viele, die fliehen wollten, zum Opfer fielen. Nach einer Studie der Freien Universität Berlin kam 327 Menschen beim Versuch, über die Mauer in den Westen zu fliehen, um. Die Stiftung Berliner Mauer geht aber von mindestens 650 Todesopfern aus. Bereits vor dem Bau der Berliner Mauer kamen in der Zeit zwischen 1948 und 1961 mindestens 39 Menschen an der Sektorengrenze zwischen Ost- Westberlin ums Leben.
Das heutige Gesamt-Berlin kann man mit dem geteilten Berlin nicht vergleichen. Der Osten war eingesperrt, die Kriegsschäden waren noch Jahrzehnte später zu sehen, allein das Nikolai-Viertel war herausgeputzt worden. Der Westteil boomte. Klar, er war ja auch der Vorzeige-Teil, das Aushängeschild des kapitalistischen Westens. Mit vollen Schaufenstern und einem teils üppigen Leben. Hier die freie Welt, dort das Gefängnis. Reisen waren für DDR-Bürger nur innerhalb des Ostblocks möglich. Wer in den Westen wollte, brauchte Sonder-Genehmigungen. Man darf den Kudamm nicht mit der Straße Unter den Linden damals vergleichen. Der Kurfürstendamm war voller Menschen, Touristen, Geschäfte, Kneipen, da war was los. Die Linden dagegen war vor dem Fall der Mauer oft menschenleer. Das „Brandenburger Tor lag in einer Zone des Schweigens“.(Ursula von Kardorff) Wo das Adlon war, war nichts als Gras, der Pariser Platz, heute eine der teuersten Adressen Berlins, war ein Platz der Trostlosigkeit.
„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“. Sagte einst Walter Ulbricht auf einer internationalen Pressekonferenz am 15. Juni 1961. Eine Reporterin hatte den SED-Chef auf Gerüchte angesprochen und der SED-Gewaltige hatte mit seiner typischen Fistelstimme geantwortet: „Ich verstehe Ihre Frage so, dass es in Westdeutschland Menschen gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR dazu mobilisieren, eine Mauer aufzurichten. Mir ist nicht bekannt, dass eine solche Absicht besteht. Die Bauarbeiter unserer Hauptstadt beschäftigen sich hauptsächlich mit Wohnungsbau, und ihre Arbeitskraft wird dafür voll eingesetzt.“ Eine glatte Lüge, wie sich später herausstellte.
Berlin war geteilt, das Ergebnis des verlorenen Krieges, angezettelt von wahnsinnigen Nazis. Franzosen, Engländer, Amerikaner-der westliche Teil- und Sowjets-mit Ostberlin- teilten sich die Stadt, wie es vereinbart war. Aber die Entwicklung lief auseinander, der westliche Teil
blühte auf, gepampert von den USA, der Marschallplan zeigte auch hier seine Wirkung. Die Bonner Regierung unterstützte Westberlin, wo es nur ging. Tausende und Abertausende flohen von Ost- nach Westberlin, was einfach war ohne Mauer. Man ging einfach über die Straße oder fuhr mit der S-Bahn in den Westen. Die Fluchtbewegung-allein in den ersten zwölf Augusttagen 1961 verließen 47000 Ostdeutsche ihre Heimat- nahm ein solches Ausmaß an, dass die SED mit Walter Ulbricht zu dem Gewalt-Mittel griff, was niemand für möglich gehalten hätte: eine Mauer mitten durch Berlin zu bauen und den Ostteil quasi abzuriegeln. Die Alliierten ließen es geschehen, weil sie keinen 3. Weltkrieg riskieren wollten.
Aus zunächst provisorischen Stacheldraht- und Betonbarrieren wurde ein scharf bewachtes Grenzsystem mit Todesstreifen, Wachhunden, zwei gestaffelten, knapp vier Meter hohen Betonmauern, Selbstschussanlagen, Minenfeldern, Beobachtungstürmen. Und genauso wurde die 1400 Kilometer lange Grenze zur BRD ausgebaut. Schrecklich.
Man wartete 15 Jahre auf ein Auto
Das geteilte Deutschland wurde durch die Mauer zementiert. Aber der Spruch von Ulbricht-Nachfolger Erich Honecker sollte sich nicht bewahrheiten: „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.“ Der SED-Generalsekretär hatte diesen Satz aus dem Archiv gekramt und ihn am 14. August 1989 gesagt, als der 32-bit-Speicherchip des Erfurter Mikroelektronikwerks „Karl Marx“ der Öffentlichkeit präsentiert wurde, ein Riesen-Erfolg der DDR-Elektronik, aber das politische und wirtschaftliche System hatte sich längst selbst ausgehöhlt, die Zeitläufe hatten die alte Garde der SED-Spitze überholt. Es war genug der Gängelungen, der Unzufriedenheit über Versorgungsmängel. „Wer 15 Jahre auf einen Neuwagen warten musste, dem reichte es irgendwann“, urteilte der Evangelische Pressedienst.
Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin machte am 8. August 1989 ihre Türen für 130 Besucher aus der DDR auf. Die Besucher wollten das Haus an der Hannoverschen Straße in Berlin nicht mehr verlassen. Ähnlich die Entwicklung wenige Tage später in der deutschen Botschaft in Budapest, es folgten die Botschaften in Prag und in Warschau.
Dazu kam, dass Ungarn den Stacheldraht an der West-Grenze abgebaut hatte. Ungarn trat der Genfer Flüchtlingskonvention bei, nach der Flüchtlinge nicht mehr in ihr Heimatland abgeschoben werden durften. Dazu war Ungarn vorher gegenüber der DDR verpflichtet gewesen. Und vergessen wir nicht Michail Gorbatschow, seine Politik von Glasnost und Perestroika. Und seinen Satz: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. Als die Bürger der DDR mit Kerzen demonstrierten gegen die SED-Staatsmacht, war diese zwar bewaffnet, aber nicht mehr in der Lage, diese Freiheitsbewegung in ihrem Lauf aufzuhalten. Die Mauer fiel, auch weil Gorbatschow die sowjetischen Panzer in den Kasernen ließ. Die Breschnew-Doktrin war Geschichte. Sie besagte, dass die Interessen und die Souveränität einzelner sozialistischer Staaten ihre Grenzen finden, wo die Interessen und die Sicherheit des gesamten sozialistischen Systems berührt sind. Diese Doktrin aus dem November 1968 lieferte Moskau nachträglich die Rechtfertigung für die Invasion der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei am 21. August 1968.
US-Präsident Ronald Reagan hatte am 12. Juni 1987 beim Besuch der Mauer seinem sowjetischen Gegenüber zugerufen: „Mr. Gorbatschow, tear down this wall.“ Es sollte noch zwei Jahre dauern, bis dieses furchtbare Bauwerk zuerst geöffnet und dann abgerissen wurde. Nach 28 Jahren. Eine Mauer, die Menschen getötet, getrennt hatte, die vielen Leid zugefügt hatte. Den Verlauf der Mauer kann man auf Berliner Straßen heute verfolgen an Hand von Steinen, die in die Straße eingelassen sind. Ebenso gilt das für die Panzerstraße entlang der Mauer, ich bin ihn 2004/5 mit dem Rad abgefahren.
Die Mauer ist weg. Das ist das Werk der Ostdeutschen.
Bildquelle: Bundesarchiv, Bild 173-1321 / Helmut J. Wolf / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons