Angst, Verzweiflung, Erlösung oder Tod. In „Marseille 1940, Massenflucht der deutschen Literatur“ zieht der Autor Uwe Wittstock seine Leser in eine Achterbahn der Emotionen. Mehr als achtzig Jahre nach dem verzweifelten Versuch, den Nazis im besetzten Frankreich per Schiff oder auf Schmugglerpfaden über die Pyrenäen zu entkommen, sind die Leser durch ungezählte Tagebuchnotizen hautnah dabei, wie sich verfolgte Schriftsteller, Maler, Wissenschaftler und Journalisten dem Zugriff der Hitler-Diktatur entziehen wollten. Juden, Systemgegner – zu Tausenden irren sie durch Frankreich, um ein Schlupfloch in die Freiheit zu finden.
Heinrich und Golo Mann, Anna Seghers mit ihren Kindern, Lion Feuchtwanger, Walter Benjamin, Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel, Max Ernst oder Hannah Arendt. Um nur einige zu nennen. Sie alle in einem existentiellen Versteckspiel vor der heranziehenden deutschen Armee und der Gleichgültigkeit der französischen Vichy-Regierung.
Dass es auf der anderen Seite des Ozeans mit dem Journalisten und Wissenschaftler Varian Fry einen Mann gibt, der mit gleicher Verzweiflung nach Wegen sucht, um Ikonen deutscher und europäischer Kultur vor der Vernichtung zu retten, wissen sie lange nicht. Während sie in Internierungslagern vor sich hin vegetieren oder ziellos durch den Süden des besetzten Landes irren, sammelt Fry in den USA Geld, um die große Flucht zu finanzieren und sie später selbst vor Ort in Marseille zu organisieren. Mehr als 2000 Intellektuelle können er und seine Organisation „Emergency Rescue Comittee“ retten – trotz des Unbehagens der US-Regierung, unter ihnen auch Kommunisten aufnehmen zu müssen.
Schicksale wie im Film
Wittstocks große Kunst ist es, dass er die Schicksale wie in kurzen Filmszenen mit großer Spannung zusammenfügt, den Lesern keine Chance lässt, sich der Dramatik zu entziehen. Er raubt damit dem Begriff „Flucht“ jegliche Sterilität. Flucht als Massenbewegung? Der Autor macht mit seinem Rückgriff auf die privaten, oft sehr intimen Notizen der Fliehenden deutlich, dass der einzelne das bittere Schicksal von Entwurzelung immer ganz individuell ertragen muss.
Dass dieses Buch erst in diesen Tagen für so große Aufmerksamkeit sorgt, dass erst jetzt die teils herzzerreißenden Zeugnisse der Erniedrigung und der Entmenschlichung aus den Archiven hervorgezaubert werden, sagt viel aus über das Unverständnis, mit dem die junge Bundesrepublik dem Schicksal der Emigranten begegnete. Als sie zurückkehrten in das Land, aus dem sie in Lebensgefahr fliehen mussten, waren sie keineswegs hochwillkommen. Für die Literaten der „Gruppe 47“ war nicht die Flucht und Emigration nach draußen das Maß aller Dinge. Richtschnur für Anstand und Moral eines Großteils von ihnen war es, den Nazis in der „inneren Emigration“ stand gehalten zu haben. Wenige der Geflohenen wurden in der jungen Bundesrepublik nach der Rückkehr so anerkannt oder gar verehrt wie der ohnehin privilegierte und früh in die USA ausgewanderte Literaturnobelpreisträger Thomas Mann, der – in der Schweiz lebend – mit Ehrungen des deutschen Literaturbetriebs überschüttet wurde.
Auf Rückkehrer nicht erpicht
Dass auch die Wissenschaft nicht unbedingt erpicht war, Rückkehrer anerkennend aufzunehmen, erfuhr Thomas Manns Sohn Golo. Dem Historiker, der durch seine Flucht vor den Nazis eine untadelige Vergangenheit hatte, wurde es – laut seinem Biograph Tilmann Lahme – durch die „Platzhirsche“ der Frankfurter Schule, Theodor Adorno und Max Horkheimer versagt, eine Professur an der Frankfurter Universität zu erhalten.
Nicht nur den Geflohenen, auch ihrem Retter blieb die Anerkennung lange versagt. Fry, der eigenwillige, aber hochkarätige Journalist, musste sich den Lebensunterhalt nach dem Krieg teilweise als Werbetexter für Coca Cola verdienen. Wie groß seine Leistung war, das würdigte die israelische Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem erst vor wenigen Jahren, als sie ihn endlich in die Reihe der „Gerechten der Völker“ aufnahm.
„Marseille 1940“ ist mehr als eine spannend geschriebene Geschichte über eine dunkle Zeit. Das Buch ist die längst notwendige Rehabilitation all derer, die in großer Lebensgefahr den mühsamen, teils tödlichen Weg der Flucht auf sich nehmen mussten. Und es ist die bittere Erkenntnis, dass Emigration kein Davonstehlen, sondern eine bittere Strategie ums nackte Überleben war.