In Deutschland leben rund 4 Mio. Menschen mit einem muslimischen Glaubenshintergrund. Die überwältigende Mehrheit von ihnen hat mit einem islamistisch-politischen Islam nichts zu tun. Sie fühlt sich bei Terroranschlägen jedoch stets in Haftung genommen – und nicht nur dann. Immer wieder wird diese Migrantengruppe von Außenstehenden auf ihren Glauben angesprochen; oft genug heißt es also, sich gegen unsinnige Vorurteile verteidigen zu müssen. Besonders männliche Jugendliche kämpfen mit Anfeindungen, fühlen sich vielfach aufgrund ihrer Religion ausgeschlossen und benachteiligt sowie von Begriffen wie „Islamfeindlichkeit“ oder „Islamophobie“ von der Öffentlichkeit diskriminiert und gehetzt.
Fehlende Identität
Jüngst wurde zu diesem Themenkreis unter der Federführung von Prof. Dr. Michele Gelfand (University of Maryland, USA) und Prof. Dr. Klaus Boehnke (Jacobs University, Bremen) die Studie „Der Kampf um Zugehörigkeit: Die Marginalisierung von Immigranten und das Risiko einer hausgemachten Radikalisierung“ erstellt. Die Befragung von 464 Muslimen, davon 204 in Deutschland, betrifft den Zeitraum von Dezember 2013 bis Juni 2014. Befragt wurden gezielt gut gebildete junge Muslime; etwa die Hälfte waren Studierende. Eine der zentralen Fragen war, weshalb junge Menschen, die in Europa geboren und aufgewachsen sind, sich als Kämpfer dem so genannten Heiligen Krieg (Dschihad) verschreiben und im Namen Allahs Attentate planen und ausführen.
Nach Auskunft der Teilnehmer an dieser Studie ist die kulturelle Zugehörigkeit einer der Schlüsselfaktoren für das Abgleiten von muslimischen Immigranten in die Radikalität. Als besonders gefährdet stufen sie diejenigen Heranwachsenden ein, die kulturell heimatlos sind, sich weder mit der Kultur ihrer Herkunftsländer noch mit der ihrer Ankunftsländer identifizieren. Das Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit und Nicht-Zusammengehörigkeit würde die jungen Menschen emotional zutiefst kränken. Dieser Prozess der Marginalisierung verschärfe sich, je mehr sich diese Personen ausgegrenzt und diskriminiert fühlen und damit einen Verlust an persönlicher Bedeutung erführen. Radikale Gruppen sind für diesen Personenkreis auch deshalb attraktiv, weil sie ein klares Freund-Feind-Schema vermitteln.
Ein Teil von Deutschland, aber gegen Assimilierung
Von den Befragten selbst gaben 89 % an, sich als ein Teil der deutschen Gesellschaft zu fühlen. Gleichzeitig herrschte jedoch der Eindruck vor, dass die Deutschen von ihnen eine Assimilierung erwarten, die die Migranten aber mehrheitlich ablehnen. 77 % stimmten der Aussage zu, in Deutschland gebe es ein nicht unerhebliches Ausmaß an Islamophobie. Wobei weniger als 10 % selbst Opfer von Diskriminierung aufgrund ihrer Religion oder Kultur geworden sind. Auffällig ist: Je stärker sich auch Menschen mit Migrationshintergrund diskriminiert fühlen, desto weniger sind sie bereit, die Werte ihrer Herkunftsländer zugunsten der „Leitkultur“ ihrer neuen Heimat zurückzustellen oder gar aufzugeben.
Hybride Identitäten – Chance und Herausforderung
Im Prozess der sukzessiven Entfremdung zwischen gefährdeten muslimischen Migranten und der Mehrheitsgesellschaft können Menschen, die sich unterschiedlichen Kulturräumen zugehörig fühlen, auch als Vermittler agieren. Sie haben eine sogenannte „hybride Identität“; das bedeutet, dass sie sich zwei oder mehr ethnisch-religiösen Wertegemeinschaften zugehörig fühlen.
Eine Untersuchung der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), auf Personen mit muslimischem Migrationshintergrund fokussiert, bestätigt diese Annahme. Das dürfte insofern optimistisch stimmen, als „Mehrheimische“ als Teil der Lebenskultur westlicher Einwanderungsländer immer selbstverständlicher werden. Diese Menschen bringen nach Europa weit mehr mit als gutes Essen, Mode und tolle Musik. Sie haben oftmals auch ein intensiveres Verständnis von Familie und Freundschaft, können Konflikte anders lösen, reiten nicht auf Kleinigkeiten herum, brechen spontan die Anonymität in der Großstadt und bilden dann doch diese für uns so befremdlichen Parallelgesellschaften, die im Worst-Case-Szenario in den „Dschihad“ führen können. Es gibt also zwei Seiten ein und derselben Medaille, und das bedeutet Chance und Herausforderung gleichermaßen.
Für eine interkulturelle Öffnung
Wenn der Prozess der Identitätsfindung im Wechselspiel zwischen dem Selbstbild, das der Einzelne von sich entwirft, und dem Bild, das sich soziale Handlungspartner von ihm machen, missglückt, kommt es zur Herausbildung negativer Identitäten. Vor allem Migranten, die sich sehr weit vom Heimatkontext entfernt haben, im Aufnahmeland aber nicht verankert sind, durchleben häufig eine Selbstfindungskrise, die als „Nachgeborenenphänomen“ bezeichnet wird. Denn Identitätsverlust führt nicht selten zu Selbstverachtung und Aggressionen gegenüber der Außenwelt. Nur durch den Rückgriff auf die tradierten Muster einer bereits imaginierten Herkunftskultur und deren Verklärung erlangen die Betroffenen ein vermeintliches Selbstbewusstsein. So entstehen dramatische Identitäten, die sich aus der überhöhten Vorstellung einer heilen Heimat und einer jetzt kalten Lebensrealität generieren. Es entwickeln sich verquere Persönlichkeitsbilder, die ihr Heil in längst vergangenen Zeiten suchen. Und die fatalste Konsequenz von Nicht-Anerkennung und Enttäuschung ist dann der IS.
An und für sich sind das gar nicht so schlechte Karten für eine bessere Integration. Denn es gilt, mehr Teilhabe zuzulassen und das Gefühl der Anerkennung zu vermitteln. Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund – zum Teil bereits in der zweiten und dritten Generation – gehören längst zu unserer Wirtschaft und Gesellschaft, sind also keine Fremden in Deutschland. Mit einer gezielten interkulturellen Öffnung der Strukturen sind sie für Deutschland, für dessen Werte und Leitkultur zu gewinnen, ohne dass sie gleich alle anderen Sensibilitäten und Vorstellungen vollends aufgeben.
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