Zu den bekanntesten „sozialen Brennpunkten“ Deutschlands zählt Duisburg- Hochfeld. Oft wurde es – wie der nahegelegene Stadtteil Marxloh – beschrieben als Ort des Grauens, als Brutstätte von Kriminalität und vielleicht sogar Terrorismus.
Aber viele Menschen, die dort leben, erzählen auch von einem lebendigen, „warmen“ Alltag in dem alten Arbeiterviertel am Rand der Duisburger Innenstadt. Längst nicht alle haben hier den Wunsch wegzuziehen.
Meral Karakoç, türkisch-kurdischer Herkunft, wohnte mit ihrer Tochter Gülara zehn Jahre in Hochfeld. Die frühere Verkäuferin – eine eher kleine Frau mit schönen Gesichtszügen und leuchtenden Augen – war lange arbeitslos.
Nicht heruntergekommene Häuser, nicht Kleinkriminalität sind das zentrale Problem für viele, sondern die schwierige Situation für Kinder: überforderte Schulen, unzulängliche Freizeitangebote, zerrüttete Familien, manchmal eine geradezu greifbare Stimmung der Hoffnungslosigkeit … Manche Eltern scheinen – vor Verzweiflung oder unter dem Einfluss von Drogen – ihre Kinder fast zu vergessen.
Das Gefühl, Verlierer zu sein, ist teilweise schon bei Acht- oder Zehnjährigen zu spüren.
Herrscht in Stadtteilen wie Hochfeld eine „explosive“ Stimmung ? Politischen Protest gibt es kaum. Eher vorstellbar sind Ausbrüche zielloser Gewalt wie schon in vielen westeuropäischen Großstädten.
MERAL KARAKOÇ
Die Menschen sind in Hochfeld ganz toll – nicht alle. Die ich kenne, die sind alle toll. Wenn man durch die Straßen geht – da ist eine warme Atmosphäre. Man sieht mehr Leute lachen … auch wenn die arbeitslos sind. Irgendwie ist das wie eine Familie.
Man läutet irgendwo, man geht rein, setzt sich hin, da ist man schnell im Gespräch. Woanders – man muss sich anmelden. Heute kann ich nicht, morgen kann ich nicht, übermorgen kann ich nicht … In Hochfeld ist das nicht so – vielleicht durch die Arbeitslosigkeit, die Leute haben mehr Zeit. Was hat meine Tochter da gesehen ?
Positive Sachen ! Ich verstehe gar nicht, warum die Leute Hochfeld so schlecht machen. Hochfeld – das ist kinderlieb. Wir haben uns untereinander geholfen.
Es wird gegessen, getrunken auf der Straße. Die Leute rufen lauter, die reden lauter. Viel südländisches Feeling ist da. Man hat gedacht, man ist in Italien oder der Türkei. Da sind sehr schöne Restaurants. „Café Behrens“ gibt es, das ist eine Eisdiele – die Leute kommen manchmal von ganz woanders, um da Eis zu essen. Dann gibt es den großen Rheinpark …
Viele Menschen fahren ins Ausland, damit die so was erleben, dieses freie, lockere Gefühl … Eigentlich könnte man hierher fahren … Richtig schön ist es da …
Andererseits: in Hochfeld sind die Straßen dreckig, die Leute werfen ihren Müll auf den Boden. Seit Jahren wurde an dem Spielplatz nichts gemacht. Wir kehren selber und versuchen da ein bisschen Ordnung zu halten. An Spielgeräten ist leider nicht viel vorhanden.
Die Kinder, die beschimpfen sich untereinander. Die können mit Konflikten gar nicht umgehen, weil die das nie gelernt haben. In deren Leben gibt es keine Struktur.
Viele Eltern kümmern sich nicht um die Kinder. Die sehen keine Zukunft, weil die lange Zeit arbeitslos sind. Die sind mit sich selber beschäftigt – Drogen, Verzweiflung. Die Mutter kann kein Deutsch, der Vater geht arbeiten für wenig Geld, hat Depressionen …
Mein Vater, der lebt seit 1970 in Deutschland. Dann ist meine Mutter dazu gekommen. Mein Vater war in einer Metallfirma, als Former. Meine Mutter hat auch in einer Metallfirma gearbeitet. Ende 72 bin ich geboren. Dann sind wir nach Krefeld gezogen, da bin ich groß geworden. Meine Eltern konnten kein Wort Deutsch sprechen, als ich in der Schule war. Und trotzdem hab ich Deutsch gelernt. Meine Eltern haben mich vor allem mit deutschen Kindern spielen lassen. Dann bin ich in der Hauptschule gewesen. Die Lehrer haben sich nicht für mich eingesetzt.
Eine Ausbildung als Steuerfachgehilfin hab ich angefangen. Mein Chef, der hat mich nur kopieren lassen ein Jahr lang, dann hab ich das abgebrochen.
Dann bin ich mit etwas Glück ins Kaufhaus reingekommen. Die Abteilungsleiterin hat mich gefördert, ich hab die Kosmetikschule besucht – und war dann elf Jahre in der Parfümerie tätig.
Dann hab ich Gülaras Vater kennengelernt, war schwanger, hab sie dann bekommen. Und die Erziehung war mir sehr, sehr wichtig. Also hab ich mich von meinem Arbeitsleben verabschiedet.
Dann haben wir uns für Duisburg entschieden, 1999. Hochfeld war niedrig von den Mieten her, die Wohnung war saniert.
Gülara: ich hab sie im Kindergarten angemeldet. Und ich hab versucht, eine Halbtagsstelle zu finden. Das war sehr schwer. Dann hab ich hier und da gejobbt, auf dem Markt Blumen verkauft, Obst verkauft. Wir waren „Hartz IV“-Empfänger, mit meiner Tochter – oder wir sind es immer noch. Ich habe das immer wieder so gemacht, dass ich bei Lebensmitteln gespart habe – und sie trotzdem zum Ballett geschickt habe, zum Englischkurs, zum Sport. Die war in der Musikschule gewesen – Früherziehung – und im Schwimmkurs war sie auch.
Und doch: immer dieses „Nein, können wir nicht „. Wenn wir irgendwo waren – „Kann ich das machen, Mama“ – „Nein, ich hab kein Geld“.
Sie kann damit gut umgehen. Ich musste meinen Groschen zehnmal umdrehen. Wir sind seit elf Jahren nicht in Urlaub gewesen. Das ist die größte Einschränkung.
Man darf sich nie aufgeben – in den Jahren, wo ich arbeitslos war, hab ich mich selber nie aufgegeben.
Beim Arbeitsamt war ich gewesen – und die waren nicht begeistert von der Umschulung. Dann haben die mir das genehmigt. „Doch – wir können das bei Ihnen auch machen. Sie waren so lange arbeitslos, einen abgeschlossenen Beruf haben Sie auch nicht“.
Jetzt bin ich in der Schule – und das ist ein ganz großer Schritt für mich. Ich denke, das wäre in Zukunft was für mich, mit Kindern, mit Behinderten zu arbeiten. Da würde ich in Familien reingehen, die Kinder mit Behinderungen haben,
Migrationshintergrund – und Armut. Also „Hartz IV-Kinder“. Diese Eltern, die wissen gar nicht, was ihnen zusteht. Denen würde ich gern unter die Arme greifen. Ich war immer mit dem Gedanken beschäftigt, dass ich vielleicht studieren werde … Vielleicht kann ich in ein paar Jahren studieren. Jetzt bin ich für die Hochfelder Außenseiter. Ich entwickle mich, ich hab Zukunftsperspektiven. Die in Hochfeld, die haben das ja nicht.
Kinder in Hochfeld ? Es ist wie in einem Haus. Wenn man ohne Fundament baut, kippt das Haus um. So geht es den Kindern auch – dann kippen die auch um. Die haben keinen Halt im Leben.
Wie ein Kreislauf ist das. Kommt der Mann nach Hause, schlägt er seine Frau – die kennt das nicht anders. Dann schlägt er sein Kind – das Kind geht raus und schlägt seine Freunde.
Das hab ich auch gemerkt: Gülara mit ihren Freundinnen – die wollten sich verabreden. Die Eltern wussten, ich wohne in Hochfeld – da war eine Blockade. Die haben das nicht zugelassen – die wollten nicht, dass die Kinder nach Hochfeld zu Besuch kamen.
Hier in Hochfeld wollte ich meine Tochter nicht zur Schule schicken – in eine Grundschule, wo unter 24 Schülern nur zwei Deutsche sind. Wir leben in Deutschland – und sie soll perfektes Deutsch sprechen können.
Das wollte ich meiner Tochter nicht antun, dass sie Schimpfwörter lernt … Das Kind schaut sich das ab. Ich hatte Angst, dass sie auch so wird – schreien, schimpfen, schlagen. Und „kein Bock“, Hausaufgaben zu machen – „Nein, mach ich nicht“. Da ärgert sie sich doch, wenn in der Klasse 15 Kinder keine Hausaufgaben gemacht haben. Irgendwann zieht sie mit. Was soll die lernen, wenn ganz viele Kinder kein Deutsch können. Da ist sie unterfordert.
Deswegen hab ich sie in Duissern angemeldet. Duissern ist ganz anders im Vergleich zu Hochfeld – ruhiger.
Protest in Hochfeld: in Paragraf I Grundgesetz steht „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – aber man berührt die Würde des Menschen, wenn man sie wie Dreck behandelt. Da bleibt keine Würde mehr.
Der Stadtteiltreff in der Johanniterstraße: das ist ein ganz großes soziales Netz, das einen Halt für mich gibt. Da ist meine Tochter auch groß geworden. Wir haben Kochkurse mitgemacht, Nähen. Computerkurse gibt es. Da kommen Menschen von unterschiedlichen Nationalitäten. Man kann hier frühstücken. Für zwei Euro kann man sich wirklich da satt essen. Dann sitzen wir alle an einem großen Tisch und erzählen von unseren Problemen. Freitags kann man zum Essen kommen.
Protest gibt es kaum. Die denken, wir erreichen nichts. Weil die sich damit abgefunden haben. Wenn die zum Amt gehen, die werden oft wie Dreck behandelt. Hab ich oft erlebt, ich war Augenzeuge. Da bin ich auch manchmal dazwischengegangen.
Vielleicht die Politiker – dass die mal die Augen aufmachen, sich auch mal dahin setzen und mal für ein paar Stunden die Gegend beobachten und sich fragen „Fühle ich mich hier wohl ?“
Geschichten aus Deutschlands Armutszonen:
Teil I: „ICH SCHAUE IN DIE AUGEN DER ANDEREN – UND DIE SAGEN, ICH BIN KEIN MENSCH.“ Auf der Flucht vor Armut
Teil III: „JEDER VON UNS LEISTET 300 ARBEITSSTUNDEN IM MONAT. MUSS SEIN“ Selbständige in den Armutszonen
Teil IV: „MEINE KINDER – DIE SIND DAS BESTE IN MEINEM LEBEN, DIE GEBEN MIR DIE KRAFT WEITERZUGEHEN“
Alleinerziehende im „sozialen Brennpunkt“
Bildquelle: Musqja, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Fallbeispiele wie diese sagen mehr aus über die Lage armer Menschen hierzulande als Statistiken oder allgemeine politische Beteuerungen. Mit großem Interesse habe ich jetzt den zweiten Teil dieser Reihe gelesen; das ist im besten Sinne Aufklärung, weil die Aussagen der Betroffenen ein authentisches Bild nicht nur von ihrer Lage, sondern auch von den ganzen, teils vergeblichen Kämpfen um Würde und Anerkennung liefern. Alle Achtung dem Autor, der sich in diese „Niederungen“ des Alltags begibt, um den Menschen die Möglichkeit zu geben, sich zu erklären und wahrgenommen zu werden.
Etwas Ähnliches hat auch Joke Frerichs in seinem Band „Schattenleben“ (BoD 2022; ISBN 78-3756-2039-18) versucht.
Petra Frerichs