Die französische Nationalversammlung wird von politischen Neulingen erobert; aus dem Stand haben die „Macronisten“ in der zweiten Runde der Parlamentswahlen eine satte absolute Mehrheit der Sitze erhalten. Zur Hälfte sind die Abgeordneten, die für die Partei des Präsidenten Emmanuel Macron antraten, aus der Zivilgesellschaft rekrutiert, unerfahren im herkömmlichen Politikbetrieb, aber keineswegs unpolitisch. Sie stehen für eine Erneuerung, für das Aufbrechen verkrusteter Strukturen, eine Bewegung mehr als eine Partei im klassischen Sinne. La République en Marche hat nach Macrons historischem Triumph in der Präsidentschaftswahl eine überwältigende Mehrheit in der Nationalversammlung erzielt und gewährt dem Präsidenten nun breite Rückendeckung für seine Reformvorhaben. Er kann „durchregieren“.
Die europäischen Nachbarn begleiten ihn mit Wohlwollen, weil er der europäischen Idee neues Leben einhauchen und die Einigung vertiefen will. Die Erwartungen sind gewaltig, die Erfolgsaussichten kaum berechenbar. Am Tag nach der Wahl beginnen in Brüssel die Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien; in vielen Mitgliedsländern der EU erstarken die nationalistischen und rechtspopulistischen Europafeinde. Macrons Wahlsieg ermutigt die Europäer, ob seine Strahlkraft jedoch weit genug reicht, um etwa auch den Zulauf zu den Rechtspopulisten, die in Deutschland ihr Unwesen treiben, zur Bundestagswahl zu stoppen, steht in den Sternen.
Nicht weniger unvorhersehbar ist die innerfranzösische Entwicklung. Ein Parlament mit einer schwachen, nahezu ohnmächtigen Opposition weckt Unbehagen, und die auf ein historisches Tief abgesunkene Wahlbeteiligung wirft Fragen nach der demokratischen Erdung der neuen Mehrheit auf. Macron wird es vor allem mit einer außerparlamentarischen Opposition zu tun bekommen, wenn er den Arbeitsmarkt reformieren will, erst dann wird sich zeigen, ob der massenhafte Verzicht auf das Wahlrecht ein Ausdruck von Resignation und Verdruss oder von stillschweigendem Einverständnis war.
Unklar ist auch, wie Konservative und Sozialisten, die bisher tragenden politischen Kräfte, aus ihrer historischen Krise hervorgehen werden. Bei den Präsidentschaftswahlen hatten sie ihre traditionelle Stärke schon eingebüßt, jetzt finden sie sich im Parlament auf ein nie dagewesenes Kleinstformat gestutzt, insbesondere die Partei der Sozialisten muss ums Überleben bangen. Eine unfassbare, aber doch selbstverschuldete Entwicklung, die sich in einem schon seit den Zeiten von François Mitterrand anhaltenden Niedergang anbahnte.
Die SPD hierzulande hat schon in den Präsidentschaftswahlen bei den Nachbarn den neoliberalen Senkrechtstarter Macron und nicht den in einer Urwahl bestimmten sozialistischen Bewerber unterstützt. Und sie hat wenige Wochen danach den Achtungserfolg des Linken Jeremy Corbyn in Großbritannien bejubelt. Die beiden könnten gegensätzlicher kaum sein, und es wird spannend sein zu sehen, wen SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz sich im Bundestagswahlkampf zum Vorbild nimmt. So verschieden die politischen Überzeugungen von Macron und Corbyn auch sind, sie haben eine und sie sind dafür entschieden, kämpferisch und überzeugend eingetreten.
Bildquelle: Wikipedia, Ex13, Palais Bourbon, Sitz der Nationalversammlung, Paris, CC BY-SA 3.0