Es geht in diesem Text um zwei Begegnungen und ein Zusammentreffen mit vier Männern und einer Frau, die in Russland und in Deutschland spielen. Und sie tragen sich über einen Zeitraum von fast 40 Jahren zu. Leise, intensiv und vor allem unspektakulär, obwohl es sich bei allen Beteiligten um in ihrer Zeit und darüber hinaus bekannte Menschen handelt, in Russland wie in Deutschland.
Die beiden alten Männer sind sich zum ersten Mal im Januar 2014 im Berlin begegnet: „Wir trafen uns zum Gespräch, weil wir zu den wenigen noch Lebenden gehörten, die sich zur gleichen Zeit an der Leningrader Front gegenüberstanden,“ erinnert sich Helmut Schmidt im November vor sechs Jahren. Daniil Granin war zum Jahresbeginn 2014 zum Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus nach Berlin eingeladen worden, um im Deutschen Bundestag über die Schlacht vor und in Leningrad zu sprechen. Er hielt eine sehr nachdrückliche, die Abgeordneten und Gäste im Bundestag beeindruckende Rede an diesem 27. Januar. – Schmidt und Granin sind bei ihrer Zusammenkunft 96 Jahre alt. Granin ist der Autor des Buches MEIN LEUTNANT (Aufbau Verlag) Es ist ein Buch über die schrecklichen Grausamkeiten des Krieges, eine „wahrhaftige“ Kriegserzählung. Das Buch ist einzigartig in Russland wie in Deutschland. Schmidt blickt unter anderem mit diesen Worten auf ihr Gespräch zurück: „Persönlich lernten wir uns 2014 kennen, in einer Zeit, in der es uns fast unvorstellbar erscheint, dass wir uns je als Feinde gegenüberstehen konnten. Aber damals haben Granin und ich an derselben Front auf zwei verschiedenen Seiten gekämpft. Und wir hatten Glück. Wir haben beide den schlimmen Krieg überlebt. Heute treffen wir uns als Freunde, nicht als Feinde. Und das ist ein wunderbares Geschenk der Geschichte.“ Daniil Granin ist ein vorzüglicher Erzähler. Man liest sein sicher anstrengendes Buch gerne, man hört ihm gerne und konzentriert zu, was sich bei seinem Besuch in Deutschland bei diesen Begegnungen mit ihm und mit diesem Teil deutsch – russischen Geschichte zeigte. Im vergangenen Jahr wäre Granin 100 Jahre alt geworden. Die Berliner Akademie der Künste, deren Mitglied er seit 1986 war, erinnerter mit einer großen Veranstaltung an ihn. Volker Brau, Christoph Hein, Ingo Schultze waren unter vielen anderen zugegen, lasen aus seinen Werken.
Wer in diesen Tagen in die Geschichte Russlands des zurückliegenden Jahrhundert, in die Literatur dieses Landes, schaut, wird vor allem auf einen Mann stoßen, der hier nicht sehr bekannt ist, zu den großen Autoren Russlands gehört und vor 150 Jahren im 500 km südlich von Moskau gelegenen Woronesch geboren wird: Iwan Alexejewitsch Bunin. Soeben ist der neue Band der beim Doerlemann Verlag in Zürich herausgegebenen Werkausgabe LEICHTER ATEM – Erzählungen 1916 – 1919 erschienen. Acht Geschichten in diesem Band erscheinen zum ersten Mal in Deutschland. Für Maxim Gorki war er der „beste Stilist“ Russlands. Bunin, ein Kind sozusagen des 19. Jahrhunderts wird mehr und mehr ein Zeitgenosse der Moderne, ist mit Tschechow und Tolstoi befreundet, wechselt Briefe mit Wladimir Nabokov. Er schreibt mehr und mehr über „das historische Schicksal Russlands“ und den Niedergang des russischen Dorfes, ganz großartig in dem 1910 erschienenen Band DEREWNJA (Dorf). Die 53 Jahre vom Jahrhundertbeginn an bis zu seinem Tod sind ein erfolgreiches, ein trauriges und ein Leben in einer schrecklichen Zeit mit dem ersten Weltkrieg, der russischen Revolution, seinem Weg über Odessa ins französische Exil, dem mörderischen Stalinismus, dem 2. Weltkrieg. Bunin, ein melancholischer Mann, gehörte zu den letzten Autoren der russischen Klassikergeneration um Tolstoi und Tschechow. Die schwedische Akademie würdigte ihn 1933 anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises mit den Worten: „…für die absolute Kunstfertigkeit, mit welcher er die klassischen russischen Traditionen in der Prosadichtung weiterführte…“. Zum ersten Mal erhielt mit Iwan Buni ein Russe diesen Preis. In der Liste der Literaturnobelpreisträger wird er als Einziger mit dem Zusatz „staatenlos“ geführt. Drei Jahre nach seinem Tode wird er 1966 in der UdSSR rehabilitiert. Doch erst 1991 – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion – werden seine Arbeiten über die Machtergreifung der Bolschewiken 1917 und den russischen Bürgerkrieg unzensiert erscheinen. So auch sein Tagebuch VERFLUCHTE TAGE.
Zinaida Schachowski hat auch im Exil gelebt und der Mann, über den sie 1981 im Ullstein Verlag ihr Buch AUF DEN SPUREN NABOKOVS veröffentlich, hat es auch. Die Autorin hatte einen intensiven Briefverkehr mit Nabokov aber auch mit Bunin: „Zugegeben, ich pflegte Vladimir mit ungewöhnlicher Freiheit zu schreiben und zu sagen, was ich dachte (ebenso offenherzig übrigens auch dem alten Bunin anlässlich seiner Erinnerungen an die „Dunklen Alleen“) – der Freundschaft ist das erlaubt; und weil sie verstanden, dass ich ihnen mit meiner Kritik nur meinen Respekt zollte, nehmen diese beiden großen Schriftsteller, die beide als schwierige Charaktere bekannt waren, mir nie etwas übel – Bunin bis zu seinem Tod, Nabokov bis hin zu seiner Ausreise in die USA.“ Exilanten, die drei: Schachowski, Bunin, Nabokov. Der schreibende russische Weltkriegssoldat Granin. Der Weltkriegssoldat Schmidt und spätere Bundeskanzler und Autor vieler Bücher. Es gäbe auf dieser Art russisch-deutscher Spurensuche noch viel zu entdecken. Das wird in einem folgenden Tex geschehen.
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