Rudolf Dreßler ist am 8. Januar 2025 gestorben. Der Blog-der-Republik sprach mit dem Sozialdemokraten im Frühjahr letzten Jahres. Anlässlich seines Todes veröffentlichen wir noch einmal den Artikel über das Gespräch mit ihm in leicht veränderter Form.
Rudolf Dreßler – im November 2024 wurde er 84 Jahre – war ein alter Sozialdemokrat, seit 1969 Mitglied der ältesten deutschen Partei. Und es war immer seine Stärke, mit klarer Sprache zu sprechen und dabei klare Kante zu zeigen. „Ich bin froh, dass Olaf Scholz Bundeskanzler ist“, bekannte er im Gespräch mit dem Blog-der-Republik. „Mir ist ein Friedenskanzler lieber als ein Raketenkanzler.“ Dressler lobte Scholz wegen seiner besonnenen Politik und nahm ihn gegen Kritik der Unions-Opposition nachdrücklich in Schutz. „Der deutsche Bundeskanzler lehnt die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine deshalb ab, weil er eine Ausweitung des Krieges fürchtet; weil er nicht will, dass die Bundesrepublik über solche Waffensysteme in den Krieg hineingezogen und somit zum aktiven Kriegsteilnehmer wird.“ Grundsätzlich stand Dreßler immer weiteren Waffenlieferungen sehr skeptisch gegenüber. „Glaubt wirklich jemand, dass man mit immer mehr Waffen einen Frieden herbeibomben, dass man Putin so zu Gesprächen oder Verhandlungen bewegen kann?“
Wer Rudolf Dreßler hoch oben über Bonn in seinem Haus besuchte, traf auf einen Mann, der gerade dabei war, wieder das Gehen zu lernen. Eine schwere Nierenvergiftung hatte ihm vor Monaten schwer zugesetzt, drei Monate lag er im Krankenhaus, mehrere Wochen danach musste er zu Hause wieder lernen, in das Leben einzutauchen, wie er das nannte. Wer sich viele Wochen nicht bewegt, verliert an Gewicht, wird körperlich schwach und muss dann langsam mit viel Disziplin und Training wieder Muskeln aufbauen. Sekundär-Tugenden braucht es dazu, Geduld, weil es dauert. Wie im Fall von Rudolf Dreßler. Aber dem Kopf hatte das alles nicht geschadet, die Stimme war klar wie immer, nur an Mobilität mangelte es noch; daran arbeitete er und hoffte, irgendwann wieder reisen zu können. Zum Beispiel, um seinen jüngst geborenen Urenkel in Konstanz am Bodensee zu besuchen.
Mehr Diplomatie wagen
Die politischen Geschehnisse in aller Welt beschäftigten ihn wie alle Jahre zuvor. Der Krieg in der Ukraine geht uns alle an; die Diskussion über Waffenlieferungen, den Taurus-Marschflugkörper. Die Befürworter erwecken den Eindruck, dass sich damit der Krieg gegen Russland gewinnen lasse. Als wenn das so einfach wäre. Russland ist eine Welt- und Atommacht. Sie zu besiegen, kann außerhalb der Ukraine niemand ernsthaft als Option einstufen. Die Furcht vor dem Dritten Weltkrieg schwingt in den Debatten und Gedanken mit. Olaf Scholz hat kurz nach Ausbruch des Krieges einen klugen Satz gewählt: „Russland darf den Krieg nicht gewinnen.“ Für Rudolf Dreßler spielte hierbei ein weiteres Momentum eine ganz wichtige Rolle. „Wir müssen die Diplomatie stärker in den Mittelpunkt unseres Handelns stellen, wir müssen mehr Diplomatie wagen“. Womit er ein Wortspiel des SPD-Kanzlers und Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt aufgriff („Mehr Demokratie wagen“) und diesem unterstellte: „Brandt würde direkt nach Moskau fahren, um mit Putin zu reden. Getreu seinem Wort: „Der Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“
Der Sozialdemokrat im Ruhestand empörte sich über die Haltung vor allem des Unions-Partei- und Fraktionschefs Friedrich Merz. „Wie politisch verkommen muss jemand sein, der behauptet, die Nicht-Lieferung todbringender Waffen, wie der Taurus-Marschflugkörper eine ist, sei unehrenhaft. Der Taurus kann Deutschland in den Krieg hineinziehen. Und das soll ehrenhaft sein, um das Wort mal umzudrehen? Ich nenne das im übrigen ein Spektakel der Opposition und wundere mich, wie leichtfertig ein CDU-Vorsitzender bei so einem schweren Thema die Emotionen schürt.“ Anders als der Christdemokrat, der nach der nächsten Bundestagswahl Kanzler werden will, reagierte ein anderer Sozialdemokrat. Der damalige SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert, später aus Krankheitsgründen zurückgetreten, formulierte: „Olaf Scholz entscheidet mit dem Kopf, nicht mit dem Bauch.“
Ja, es stimmt, die Debatte über Waffenlieferungen an die Ukraine wird auch in den Medien zumeist von Bellizisten geführt. Des Kanzlers Besonnenheit wird dabei als zögerlich beklagt, seine Politik als isolierte Meinung im Westen hingestellt, der Riss in den Beziehungen zu Frankreich betont. Dass Scholz hier die Nähe zu US-Präsident Biden suchte, wurde ihm eher als Vorwurf angekreidet. Unfassbar für einen wie Rudolf Dreßler und unverständlich. „Der demokratische Reflex muss doch sein: Nie wieder! Nie wieder Krieg! Krieg schürt Hass, tötet Tausende, zerstört Dörfer und Städte.“
Um das nicht falsch zu verstehen: Dreßler war nie ein Putin-Versteher, sondern stellte auch hier klar: „Putin hat die Ukraine überfallen. Das war und ist völkerrechtswidrig. Und doch muss jeder Versuch unternommen werden, den Krieg zu beenden und damit das Töten und Zerstören.“
Hans Böckler wollte er werden
Wer mit einem wie Rudolf Dreßler redete, durfte natürlich sein Herzensthema nicht ignorieren: die Sozialpolitik. Dreßler, zusammen mit Blüm einer der Erfinder der Pflegeversicherung, war 20 Jahre Bundestagsabgeordneter, hat die SPD-Kanzler Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder erlebt sowie den CDU-Kanzler Helmut Kohl und Angela Merkel, die CDU-Nachfolgerin von Schröder. Bonner Journalisten nannten das SPD-Urgestein „Arbeiterführer“. Ja, er war d e r Sozialpolitiker der SPD. Wenn er das Wort erhob damals, hörten sie ihm zu, auch die politischen Gegner wie Norbert Blüm, der Arbeits- und Sozialminister in den Kabinetten von Kohl. Mit Blüm verstand er sich gut, sie waren befreundet. Die Sache der Arbeiterinnen und Arbeiter, des kleinen Mannes, das war Dreßlers Sache; um deren Sorgen und Nöte hat er sich gekümmert. Er war Gewerkschafter, gelernter Setzer, dann Metteur, in Wuppertal im November 1940 geboren. Die Schrecken des Krieges, die brennenden Häuser, diese Bilder hat er nie vergessen. Sein Vater wurde Mitglied der IG Metall. Als der Sohn mal gefragt wurde, was er denn werden wolle, antwortete er klipp und klar: „Hans Böckler“; das war der damalige DGB-Vorsitzende.
Der Kampf um gerechte Bezahlung, um Rechte für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat das IG-Druck-Mitglied Dreßler geprägt. Schlechtere Bezahlung „hat mich aufgeregt“, zu verhindern, dass jemand seinen Job verlor, das war sein Antrieb über viele Jahre des Umbruchs in der Druck-Industrie, als Berufe überflüssig wurden und es darum ging, den Übergang so zu organisieren, dass kein Kollege auf der Straße landete. Und als Dreßler dann 1980 in den Bundestag kam, wurde er auf den letzten Metern der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt Staatssekretär im Arbeitsministerium. Logisch. Aber dann kam die Wende, Kohl löste Schmidt ab. Und Dreßler saß auf der Oppositionsbank. Viele Jahre, in denen er der Regierung Kohl/Genscher immer wieder sozialpolitisch die Leviten las. Er sprach immer Klartext.
Als Schröder Kanzler wurde, blieb Dreßler außen vor. Im Grunde war es gut so, denn er hätte manches nicht mitgemacht, nicht der Agenda 2010 zugestimmt, deren Folgen dazu führten, dass die SPD 400000 Mitglieder und Millionen Wählerinnen und Wähler verlor. „Genosse der Bosse“ wollte er nie werden, er blieb der Arbeiterführer. Und wurde Botschafter in Israel von 2000 bis 2005. Das Thema Israel gehörte ohnehin zu seinen Lieblingsthemen.
Zurück in die Gegenwart. Und da ist bis heute der Kampf gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierung, Antisemitismus, gegen die AfD, die Neonazis. Wenn er könnte, würde er mitmarschieren, demonstrieren für die Grundrechte, die Freiheit, unser Grundgesetz. Dass so viele Menschen sich spontan im Winter und Frühjahr 2024 versammelten, dass Millionen für etwas eintraten, für unsere Demokratie, die Würde des Menschen, wer hätte das gedacht. Es müsste doch möglich sein, das weitere Vorrücken der AfD zu stoppen, Demokraten aller Parteien müssen hier zusammenrücken. Nie wieder ist jetzt! Rufen die Demonstranten in allen Teilen der Republik. Warum eigentlich kein Verbot der AfD? Das Grundgesetz schreibt doch Handeln vor: Keine Toleranz der Intoleranz. So hat es Carlo Schmid gesagt. Ein Thema, das jeden Demokraten anregt und aufregt. Es hat auch auch Rudolf Dressler aufgeregt.
Reiche stärker besteuern
Die andere Gegenwart hieß damals im Frühjahr politisch Ampel und Olaf Scholz. Auch hier nahm Dreßler kein Blatt vor den Mund, unsozial ist unsozial. Und das war eben der Kern, das ist das Herz der SPD. Dressler wörtlich: „Ich werfe Olaf Scholz nicht vor, was die Ampel an Sozialpolitik beschließt. Ich weiß, dass ihm die Hände gebunden sind durch Grüne und FDP. Aber er müsste es laut sagen, was er eigentlich durchsetzen würde, hätte er die Mehrheit dafür. Er müsste laut sagen, dass die starken Schultern stärker belastet werden müssten. Dass die Reichen mehr Steuern bezahlen müssten. Es kann doch nicht sein, dass ein paar Dutzend Milliardäre mehr haben als 40 Millionen Bundesbürgerinnen und Bundesbürger. Es kann nicht sein, dass in einem reichen Land wie Deutschland die Alters- und Kinderarmut steigt, dass ein Fünftel der Jobs von Niedriglöhnern geleistet wird.“ Man stelle sich vor, erläuterte Dreßler, die Ampel würde die
Vermögenssteuer ab einer Million um 1 Prozent und ab einer Milliarde um 2 Prozent erhöhen. Wir hätten Mehreinnahmen von ca. 2o Milliarden Euro jährlich. Zur Erinnerung: seit 1997 wird die Vermögenssteuer nicht mehr erhoben. Die jährliche Mindereinnahme von ca. neun Milliarden beziffert sich mittlerweile in Richtung 200 Milliarden Euro. Dreßler kommentierte das mit dem Satz: „Für diese Geschenke hat der Staat kein Geld mehr.“ Viele unserer finanziellen Probleme wären damit gelöst, auch jene der Bundeswehr. Scholz müsste die Positionen besetzen, damit klar würde, was SPD-Politik bedeutet. So Rudolf Dreßler im Frühjahr letzten Jahres, als es die Ampel noch gab, als FDP-Chef Lindner noch Finanzminister war und die Arbeit der Koalition systematisch blockierte, ehe der Kanzler ihn feuerte. Zu Recht, leider zu spät. Empörte sich Dressler über den Liberalen.
So war Rudolf Dreßler, so war er bis zu seinem Tod, gerade aus, klare Kante. Im Sinne von Willy Brandt forderte er: Mehr Gerechtigkeit wagen. Nie gab er Ruhe, nicht mit 60 und nicht mit 83. Recht hatte er. Wie sagte einst der von ihm immer mal wieder zitierte Brandt: „Auch Rentner haben Stimmrecht“. Dreßler würde sich weiter einmischen.