„Wir haben in den letzten Jahren viel gelernt“, so der amerikanische General Ben Hodges in der ZDF-Talkrunde von Maybrit Illner am 29. Oktober 2015 zum Thema „Terror, Krieg, Flucht – welche Verantwortung hat der Westen?“ Hodges: „Die Vereinigten Staaten tun nichts mehr allein. Das haben wir gelernt. Das hat mein Präsident sehr deutlich gesagt. Wir werden uns immer umschauen nach Koalitionspartnern, Freunden, Verbündeten, die uns helfen sollen, mit den Sicherheitsherausforderungen umzugehen.“ Die Teilnehmer der Runde, allen voran Oskar Lafontaine, schauten skeptisch, manche Zuschauerin, mancher Zuschauer vor dem heimischen Bildschirm sicher auch. Solche Töne ist man von den USA nicht gewöhnt, auch wenn man sie geradezu erwartet. „Tätige Reue müssten die USA üben“ – so oder so ähnlich hat das mal ein SPD-Bundestagsabgeordneter gesagt, der inzwischen selbst manches bereut, was er in den letzten Jahren getan hat. Doch unsere Skepsis ist verständlich, wenn der Vertreter einer Großmacht sich dazu bekennt, aus den Erfahrungen – genauer: dem Scheitern – der letzten Jahre gelernt zu haben. Macht hat nämlich damit zu tun, nicht lernen zu müssen.
Macht hat, wer es sich leisten kann, nicht lernen zu müssen – doch wer kann das schon?
Diese Einsicht verdanken wir dem amerikanischen Politikwissenschaftler Karl W. Deutsch, der sich als einer der ersten seiner Zunft mit politischer Steuerung befasste. In seinem im Jahr 1963 erschienenen Buch „The Nerves of Goverment“, auf Deutsch, damals ganz zeitgemäß, „Politische Kybernetik“, formulierte er einen recht eigenwilligen Begriff von Macht, der berücksichtigt, dass Macht auch ihren Preis für den hat, der sie ausübt. „Macht besteht darin, dass man nicht nachgeben muss, sondern die Umwelt oder eine andere Person zum Nachgeben zwingen kann. Macht …bedeutet die Möglichkeit, zu reden statt zuzuhören. Macht hat in gewissem Sinne derjenige, der es sich leisten kann, nicht lernen zu müssen.“ Auf den Diskussionsbeitrag von Ben Hodges bezogen heißt das: Die USA haben die Macht verloren, ihre internationale Umwelt nach eigenem Gutdünken mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, sei es Militär, sei es Diplomatie, im Alleingang zu gestalten. Die Bereitschaft zu lernen darf – wohlwollend – als Abschied von der Arroganz der Macht interpretiert werden.
„Gut so“, werden viele sagen. „Die haben es auch nötig.“ Tätige Reue sei angebracht, siehe oben, oder vielleicht, um ein deutsches Wort zu gebrauchen: „Wiedergutmachung“. Das mag durchaus so sein, aber es lenkt von einer wichtigen Einsicht ab, die man nicht nur im Anschluss an diese und viele andere Talkrunden haben sollte: Alle Beteiligten müssen lernen. Denn niemand verfügt über so viel Macht, den Bürgerkrieg in Syrien beenden, die Flüchtlingsströme zu stoppen oder gar eine neue stabile Ordnung in dieser von Kriegen geschundenen Region zu erstellen.
Lernen ist nicht so einfach, besonders für Politiker. Denn allzu leicht setzt man sich dem Verdacht aus, ganz opportunistisch das Geschwätz von gestern einfach vergessen zu wollen. Oder vergessen machen zu wollen, vor allem, wenn es sich dabei um Wahlversprechen handelt. Andererseits bietet Lernen eine glaubwürdige Möglichkeit, zu neuen Einsichten zu kommen. Manchmal ist Lernen einfach angesagt. Man darf auch als Politiker oder Politikerin lernen. Ja, ganze Staaten und ihre Entscheidungsträger dürfen oder besser: müssen lernen. Das zu akzeptieren fällt den Verantwortlichen manchmal schwer. Und wenn die sich dann entschließen zu lernen, tut sich das Publikum oftmals schwer damit, das zu akzeptieren.
Guter Rat ist nicht nur teuer: Vorsicht vor Salonstrategen
Wer sich zur Notwendigkeit des Lernens bekennt, hat oft selbst Fehler gemacht. Ließen sich solche Fehler vermeiden? Im Prinzip ja, könnte die erste Lektion lauten. Wenn man das Für und Wider einer Aktion genau studieren würde. Studieren – dafür sind Wissenschaftler zuständig. Also, anders formuliert: Eine wissenschaftliche Beratung der Politik kann helfen, Fehler zu vermeiden oder aus ihnen zu lernen. Wenn es sich denn um wirklich gute Wissenschaft handelt. Die zu erkennen fällt manchmal schwer, denn in unzähligen Denk-Fabriken wird heute mehr publiziert als geforscht. Forschen ist Kärrnerarbeit, hat mit Daten-Sammeln und Hypothesen-Testen zu tun und das bei offenem Ausgang. Sonst wäre es ja kein Lernen. Transparent, nachvollziehbar, mit der Bereitschaft zum Scheitern. Kurzum, man muss auch wissen, was gute Wissenschaft ist, um den richtigen Rat zu akzeptieren. Und das ist nicht immer leicht. So kommt es, dass manchmal wortgewandten Salonstrategen oder „armchair theorists“ mehr Glauben geschenkt wird als evidenz-basiert arbeitenden Wissenschaftlern. Ein Beispiel dafür sind die Neokonservativen in den USA, denen es nach 2001 gelang, die Regierungspolitik und die öffentliche Debatte praktisch zu usurpieren. Mit Folgen, unter denen die Länder des Nahen und Mittleren Ostens heute noch zu leiden haben. Dabei gab es warnende Stimmen von Wissenschaftlern, die davon abrieten, Demokratie mit militärischer Gewalt exportieren zu wollen, auf die man sich (auch bei uns) hätte berufen können. Da ist es nur ein schwacher Trost, wenn sich der damalige Labour-Premier Toni Blair für falsche Geheimdiensterkenntnisse entschuldigt, wie das in der Talkrunde von Maybrit Illner eingeblendet wurde. Aber immerhin ein Anfang.
Wer lernt und sich auch noch dazu bekennt, signalisiert nicht unbedingt Stärke
Der Unentschlossenheit des amerikanischen Präsidenten wurde in der Sendung die Bereitschaft des russischen Präsidenten gegenübergestellt, Verantwortung zu übernehmen. Wer lernt und sich in unübersichtlicher Lage zunächst ein Bild machen will, kann durchaus unentschlossen wirken. „We don’t have a strategy yet“, so Obama im September 2014 zu Syrien. Ein Jahr später scheint die Strategie immer noch nicht beschlossene Sache zu sein. Denn nach dem kläglich gescheiterten Versuch, “moderate Kämpfer” auszubilden, dem auch Obama nach eigenem Bekunden skeptisch gegenüber stand, sollen nun doch Bodentruppen in Syrien operieren, wenn auch nur in kleiner Zahl und beratender Funktion. Grund genug, für die New York Times davor zu warnen, dass die USA in einen neuen Krieg hineingezogen werden: „By incrementally increasing its combat role in a vast, complicated battleground, the United States is being sucked into a new Middle East war.” Anders als der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn es jedoch in der Talkrunde bei Maybrit Illner formulierte, tragen die Russen nicht erst seit dem 1. Oktober, als Russland sichtbar in die Kampfhandlungen in Syrien eingriff, Verantwortung für das Leiden der syrischen Bevölkerung. Die unterlassene Hilfeleistung für die Menschen in Syrien begann 2011 mit dem einsetzenden Bürgerkrieg.
Die Schutzverantwortung der Weltgemeinschaft
Denn die Schutzverantwortung, die Deutschland jetzt in der Flüchtlingskrise übernimmt, tragen auch andere Länder. Auch das gilt es zu lernen: Die Weltgemeinschaft hat eine Schutzverantwortung für die unter dem Bürgerkrieg leidende Bevölkerung Syriens. Die internationale Gemeinschaft, und eben auch wir. Zunächst hat die Schutzverantwortung allerdings die Regierung eines Landes selbst. Sie ist für den Schutz der eigenen Bevölkerung zuständig. Versagt eine Regierung bei dieser Aufgabe – und im Falle Syriens ist das Versagen offenkundig, so das „Global Centre fort he Reponsibility to Protect“ in seiner Syrien-Analyse vom 15. Oktober 2015 – dann sind andere Akteure gefragt. Die Vereinten Nationen, der Sicherheitsrat, die Großmächte und andere, die Gewicht in die Waagschale werfen wollen – sie haben dann die „responsibility to protect“. Diese noch im Entstehen begriffene Norm des Völkerrechts hat sich noch nicht weit herumgesprochen. Und dort, wo sie diskutiert wird, wie in der Friedensbewegung, ist man eher skeptisch, kritisch und ablehnend, weil die Schutzverantwortung leicht als Freibrief für eine militärische Intervention begriffen werden kann. Daher sucht man verstärkt nach Möglichkeiten der Prävention gewaltsam ausgetragenen innerstaatlichen Konflikten. Doch es gibt eine Alternative, wenn der Konflikt ausgebrochen ist und Prävention versagt hat. Man kann eine Bevölkerung vor den Übergriffen der eigenen Regierung auch anders als durch militärische Intervention schützen, so der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin A. Valentino in einem Beitrag für die Zeitschrift „Foreign Affairs“ im November 2011. Nämlich durch humanitäre Hilfe, zum Beispiel für Flüchtlinge, um zunächst einmal Menschenleben zu retten. Vergleicht man die Kosten der humanitären Hilfe für Flüchtlinge mit den Kosten einer militärischen Intervention, so schneidet die humanitäre Hilfe deutlich besser ab, so Valentino. Anders formuliert: Hätte man die Schutzverantwortung für die syrische Bevölkerung ernst genommen, so hätte deutlich mehr für die Flüchtlingshilfe getan werden müssen, da eine militärische Intervention von Anfang an nicht in Frage kam. Stattdessen waren Deutschland, Europa und die USA zögerlich bei der Aufnahme syrischer Flüchtlinge. Selbst die Angehörigen bei uns lebender Syrer hatten es schwer, aus dem vom Bürgerkrieg verwüsteten Land nach Deutschland zu kommen. Erst nachdem sich die Flüchtlinge in Scharen aufmachten und im Treck nach Deutschland zogen, versuchte man hierzulande, unserer Schutzverantwortung, jetzt auch auf der Basis der UNHCR-Flüchtlingskonvention, gerecht zu werden.
Den Wunsch nach Demokratie ernst nehmen
Kein Zweifel, wir haben in der Krise gelernt. Noch im Jahr 1994 war Deutschland nicht bereit, auf Bitten der rheinland-pfälzischen Landesregierung 100 ruandische Flüchtlinge aufzunehmen, wie Sarah Brockmeier in ihrem Bericht „Deutschland und der Völkermord in Ruanda“ vom April 2014 schreibt. Das hat sich im Jahr 2015 unter dem Ansturm der Flüchtlinge geändert. Doch beim Blick auf Syrien und die arabische Welt gibt es noch mehr zu lernen: Die Bürgerinnen und Bürger eines Landes können Demokratie wollen, ohne dazu von außen angestiftet zu werden. Wer jetzt fordert, die Syrer müssten selbst über ihre Zukunft entscheiden, vergisst, dass sie das schon im Jahr 2011 tun wollten, als der Funke des arabischen Frühlings auf ihr Land übersprang. Hier geht es um eine Lektion, die man auf der linken Seite des politischen Spektrums in Deutschland nur ungern lernen will. Menschen, die in einem autokratischen Regime leben und unterdrückt werden, können tatsächlich bereit sein, das Risiko auf sich zu nehmen, weniger Regierungswillkür und mehr Mitsprache zu fordern. Von Regierungssoldaten verprügelt zu werden, ist dabei nur das geringste Risiko, oftmals folgen Verhaftung und Folter. Dabei geht es den Demonstranten nicht unbedingt Demokratie, wie wir sie gewohnt sind. Aber um einen Mindeststandard bei der Einhaltung der Menschenrechte verbunden mit dem Schutz vor willkürlicher Behandlung durch die Regierung. Auch das Scheitern des arabischen Frühlings in Ägypten bedeutet nicht, dass der Wunsch der Bevölkerung nach mehr „accountability“ ihrer Regierung nicht genuin und lediglich das Werk auf „Regimewechsel“ hinarbeitender ausländischer Mächte, eben des Westens, war. Im Protest gegen Ben Ali, Mubarak, Gaddafi und Assad äußerte sich der Widerstand gegen brutale, autoritäre Regime, die nicht nur der Westen lange als Garant für Stabilität hingenommen hatte. Die Menschen in diesen Ländern machten von ihrem Recht auf Widerstand Gebrauch. Dieses Recht auf Widerstand gegen eine willkürliche Regierung wurde, inspiriert von John Locke, unter anderem in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung formuliert. Sie enthält eine lange Liste von Beschwerden, die die Loslösung der USA von seinem Mutterland Großbritannien rechtfertigen sollten. Seit der Verabschiedung der Notstandsgesetze in den 1960er Jahren ist der Schutz unserer Verfassungsordnung auch in die Hände der Bürgerinnen und Bürger gelegt, wenn es in Artikel 20 des Grundgesetzes, nicht ganz unmissverständlich, heißt: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“
Demokratie ist mehr als die Herrschaft der Mehrheit
Demokratie ist eine ganz besonders schwierige Lektion. Sie ist voraussetzungsvoll, kann scheitern, und wenn die Transition nicht gelingt, ist Instabilität die Folge, es kann es zu Staatszerfall oder noch ärgerer Unterdrückung kommen. Denn die Einführung von Demokratie ist oft mit dem Missverständnis verbunden, Demokratie sei Herrschaft der Mehrheit. Das ist zwar richtig, doch nicht die ganze Wahrheit. Denn die Etablierung einer Mehrheitsdemokratie kann in multiethnischen oder multireligiösen Gesellschaften in die Katastrophe führen, selbst wenn alle Beteiligten das Wort Demokratie im Munde führen. Es sei denn, es gelingt, ein die ethnischen oder religiösen Gruppen übergreifendes Parteiensystem aufzubauen und den Schutz von Minderheiten in der Verfassung zu verankern. Doch hinter jedem Demokratisierungsversuch gleich den Versuch des Westens zu vermuten, einem Land von außen ein demokratisches Regierungssystem überzustülpen, ist gegenüber den Menschen, die das Risiko auf sich nehmen, gegen autoritäre Regime zu protestieren, schlicht arrogant. Man darf vermuten, dass sich solche Menschen nicht entmutigen lassen werden, auch wenn inzwischen überall auf der Welt die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen erschwert wird, wie Thomas Carothers und Saskia Brechenmacher vom „Carnegie Endowment for Peace“ in ihrer 2014 erschienenen Studie „Closing Space. Democracy and Human Rights Support Under Fire“ festgestellt haben.
Lernen und Zusammenarbeit sind angesagt
Genug Lektionen, die uns der Bürgerkrieg in Syrien aufgibt. Ihn zugunsten der einen oder anderen Seite zu entscheiden, hat niemand die Macht. Deswegen ist Lernen angesagt, weniger Waffen und mehr Diplomatie. So wie sie am 31. Oktober in Ansätzen in Wien praktiziert wurde, als erstmals bislang unvereinbare Akteure wie Iran und Saudi-Arabien unter Leitung der Außenminister Russlands und der USA an einem Tisch über das Schicksal Syriens berieten. Denn niemand kann im Alleingang dem Krieg ein Ende setzen, dazu fehlt ihm die Macht. Das ist sicher die wichtigste Lektion, die es zu lernen gilt.
Bildquelle: Wikimedia-Flüchtlinge_in_Salzburg_-_2015_09_23-1
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