Der folgende Beitrag handelt von einer nicht-alltäglichen Begegnung mit einem Langzeit-Arbeitslosen. Einige dieser Begegnungen habe ich in einem kleinen Buch mit dem Titel Schattenleben dargestellt, das im BoD-Verlag 2022 erschienen ist.
Die im Buch geschilderten Fälle sind authentisch. Es handelt sich um Berichte aus einer unterschlagenen Wirklichkeit, die gern verdrängt wird. Die im Dunkeln sieht man nicht, hatte Brecht einst gedichtet. Armut ist unsichtbar; der Arme ist es nicht. Damit etwas von ihm bleibt, muss man ihm seine Individualität zurückgeben, ihn als Subjekt wahrnehmen.
Armut ist nicht Armut. Wer kulturelles Kapital besitzt, vor allem in Form von Bildung, kann die leere Zeit der Arbeitslosigkeit eher mit etwas Sinnvollem ausfüllen als der, der nicht über dergleichen verfügt. Dessen Spuren verlieren sich irgendwann. Viele von ihnen sterben langsam aber sicher einen sozialen Tod.
Der Einzelne ist nicht nur Opfer übermächtiger Strukturen; er ist bis zu einem gewissen Grade auch verantwortlich für sein Handeln. Diese Dialektik ist es, die bei Vielen Schamgefühle auslöst. Scham markiert Grenzen; man sieht sich mit den Augen der Anderen.Auf Dauer wirkt sie wie ein Gift, weil sie das Selbstwertgefühl der Menschen auflöst. Sie erzeugt Versagensängste und ein existentielles Gefühl der Verlassenheit. Daher ist sie zutiefst antisozial.
Der im Folgenden geschilderte Fall weist darauf hin, wie wichtig es ist, jeden Fall für sich zu betrachten. Obwohl viele Fälle strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen, hat doch jeder seine eigene Geschichte.
MutterSeelenAllein
In der Kneipe sitze ich gern am Rande, von wo aus ich alles überschauen kann. Ich hänge meinen Gedanken nach und beobachte das Geschehen. Ich mag es, wenn man mich eine zeitlang in Ruhe lässt. Gleichwohl gibt es immer wieder Leute, die versuchen, ein Gespräch anzufangen. Oft sind es Menschen, die jemanden suchen, der ihnen zuhört.
So auch an diesem Tag. Ein mir unbekannter Mann stellt
sich ganz in meiner Nähe an die Theke. Umständlich hängt er seinen Einkaufsbeutel an einen der Haken. Er trägt einen abgetragenen, langen Mantel und einen Schlapphut. Beides behält er an. Zunächst beachte ich ihn kaum, aber ich spüre, dass er mich beobachtet. Plötzlich fragt er ganz unvermittelt zu mir herüber: Stimmt es, dass Sie schreiben? Als ich nicke, schaut er mich erwartungsvoll an. Da ich nichts weiter antworte meint er: Ich auch. Mir schickt man meine Manuskripte jedes Mal zurück. Ich habe noch keinen einzigen Text veröffentlicht.
Dann beginnt er zu erzählen:
Schon in der Schule gehörte ich zu denen, die man einfach übersah. Das blieb auch später im Beruf so. Das Leben lief an mir vorbei. Alles war vorgegeben, und ich fügte mich den Anforderungen des Tages. Man funktionierte wie man atmet. Es ging mir wie anderen auch. Natürlich spürte ich gelegentlich einen gewissen Überdruss. Hin und wieder auch Langeweile. Aber das ging vorüber, so als hätte man schlecht geträumt. Dann begann alles wieder von vorn.
Er machte eine längere Pause, so als würde er über das Gesagte nachdenken. Da ich weiterhin schwieg, fuhr er fort:
Wäre es in meinem Leben nicht durch äußere Umstände zu einer gravierenden Veränderung gekommen, es wäre wohl noch jahrzehntelang so weiter gegangen mit mir. Aber dann verlor ich von heute auf morgen meine Arbeit. Nicht, dass mir sofort bewusst geworden wäre, was das für mich bedeutete: Ich hoffte, wieder Fuß fassen zu können und für kurze Zeit gelang es mir auch. In den erlernten Beruf zurück fand ich jedoch nicht. Leute wie ich werden nicht mehr gebraucht.
Er unterbrach sein Reden abermals und bestellte sich ein weiteres Getränk. Er trank einen Schluck und sprach dann weiter:
Seit ich arbeitslos bin, habe ich darüber nachgedacht, was man gemeinhin ‚den Sinn des Lebens’ nennt. Über all die Absurditäten und Vergeblichkeiten, die das Leben mit sich bringt. Ob es wirklich die tägliche Arbeit ist, die das Leben ausmacht. Oder ob es nicht ganz andere Dinge gibt, die ebenso wichtig sind.
‚Erkenne dich selbst’, nannten das die Alten. Sie vergaßen jedoch uns zu sagen, wie man diesen Ratschlag befolgt. Oft saß ich nach dem Aufwachen noch lange auf dem Bettrand und dachte über all das nach. Aber je angestrengter ich nachdachte, desto mehr verschwamm mir alles. Wozu aufstehen? Die Zeit verging auch so. Ich hatte jedes Gefühl für sie verloren. Mir war alles gleichgültig. Aber die Gleichgültigkeit lähmt einen auf Dauer. Sie ist eine Art ‚vorzeitiger Tod’. An einem dieser Morgen, als ich wieder einmal allein in meinem Zimmer saß, durchzuckte mich ein Gedanke: ‚Eigentlich bist du mutterseelenallein, es ist keiner da, der dir hilft. Du kannst dir nur selbst helfen’.
In einem Buch, das ich zufällig in einem Antiquariat gefunden hatte, las ich dann: ‚ Im moralischen Sinn ist es möglich, ja sogar nötig, im Paradox zu leben; nicht jedoch im Kompromiss’.
Diese Einsicht versuchte ich mir klar zu machen. Täglich fiel mir irgendetwas ein, was ich notierte. Aber all das blieb zusammenhanglos. Weiter hieß es: ‚Das realitätslose, funktionale Leben eignet sich nicht als künstlerischer Stoff. Da ist nichts, was sich lohnt, festgehalten zu werden. Was ist es, das das Leben paradox erscheinen lässt? Das Dasein ist für die Menschen unerträglich, weil sie ihr Leben nicht im Geringsten ernst nehmen. Sie verleben ihr Leben, ohne dass sie überhaupt am Leben teilnehmen. Und doch müssen sie das, was geschieht, als ihr Leben betrachten’.
Der Mann sprach, als hätte er seinen Text auswendig gelernt. Eigentlich redete er nicht mit mir, sondern mit sich selbst. Mir war es recht so: Was hätte ich ihm antworten sollen? Er fuhr fort:
Das war damals eine außerordentlich wichtige Erkenntnis für mich. Auf solche Gedanken kommt nur, wer viel allein ist und Zeit zum Nachdenken hat. Das leichtfertige Hinwerfen des Lebens einerseits und die Angst um das Dasein andererseits – das schließt einander doch eigentlich aus Aber daran zeigt sich: ‚So denkt die Logik, aber die Logik ist nicht das Leben. Das Leben ist paradox. Die logische Konstruktion kommt dem Leben, dem, was wir als Wirklichkeit erfahren, nicht einmal nahe’.
Diesem unpersönlichen Schicksal, ein durch entfremdete Arbeit bestimmtes Leben zu führen, versuchte ich seither verzweifelt zu entkommen, wohl wissend, dass ich ständig in der Gefahr war, das auch mir das Leben entgleitet. Aber ich versuchte trotzdem, dem Abgleiten ins Unwesentliche etwas entgegen zu setzen. Aber was konnte dieses ‚Etwas’ sein?
Er hielt inne und schaute wie abwesend vor sich hin. Er schien mich ganz vergessen zu haben:
Ich brauchte lange, um zu erkennen: Dieses ‚Etwas’ ist das ‚Kreative’ und zwar in jeglicher Form. Man muss den Dingen, die man vorfindet, etwas Eigenes hinzufügen. Für mich hieß das, weiterhin alles aufzuschreiben, was mich umtrieb. Auch wenn das Ganze keinen Sinn ergab, spürte ich eine Art Wohlbefinden beim Schreiben. So, als würde Druck von mir genommen. Mitunter hatte ich das Gefühl, immer ein Stück näher bei mir selbst anzukommen.
‚Das Leben, jedes Leben ist ohne Zweifel ein Erzählen. Und dieses Erzählen hat stets ein und denselben Gegenstand: das Leben. Jedes Leben ist ein Beispiel, und jedes Leben ist wert, erzählt zu werden. Erst dadurch machen wir es zu einem sinnvollen Leben. Mag auch das, was wir den ‚Sinn des Lebens’ nennen, von völliger Finsternis umgeben sein. Es kommt nicht darauf an, das Leben zu verstehen; wir müssen es leben’.
Nach diesen Ausführungen schwieg er längere Zeit. Nachdem er ausgetrunken hatte, wandte er sich mir zu, so als würde er erst jetzt meine Anwesenheit bemerken:
Wissen Sie, worüber ich seit jenem Morgen immer häufiger nachdenke? Über das Wort ‚MutterSeelenAllein’. Mir fiel irgendwann auf, dass es drei Worte sind, die alle ihre Bedeutung haben. Ist Ihnen das schon einmal aufgefallen? Zum Beispiel ist ‚Alleinsein’ nicht das Gleiche wie ‚einsam sein’. Vielleicht sollten wir darüber einmal reden.
Daraufhin zahlte er und ging; ohne sich noch einmal umzuschauen. (Aus: Joke Frerichs: Schattenleben. BoD-Verlag 2022. Der Beitrag wurde für den Blog geringfügig überarbeitet).