Immer mehr Menschen in Deutschland fürchten um ihre wirtschaftliche und soziale Zukunft. Besonders in der sogenannten Mittelschicht nehmen die Zukunftsängste zu. „Viele Menschen in Deutschland sorgen sich um ihren Lebensstandard, das belegen Zahlen“, schreibt die Wochenzeitung „ZEIT“ unter der Überschrift „Die Mitte wird nervös“. „Vor allem die Mittelschicht bangt“, heißt es weiter. Die „ZEIT“ bezieht sich auf Umfrageergebnisse vom ARD-Deutschlandtrend des Meinungsforschungsinstituts Infratest-Dimap, wonach fast die Hälfte der Befragten große oder sogar sehr große Sorgen hat, ihren Lebensstandard halten zu können. Zukunftssorgen und Abstiegsängste liegen eng beieinander. Auch die Hans-Böckler-Stiftung kommt in einer aktuellen Untersuchung zu dem Ergebnis, dass diese stark zugenommen haben und bis in die obere Mittelschicht reichen. Vor allem der Glaube an das jahrzehntelange Fortschrittsversprechen, das mit der Zuversicht verbunden ist, „unseren Kindern wird es mal besser gehen“, ist geschwunden. Das alles ist aber nicht nur auf politische Entscheidungen oder Unterlassungen zurückzuführen. Es wäre zu einfach, diese gesellschaftliche Stimmungslage allein verantwortlichen Politikerinnen und Politikern anzulasten, auch nicht der gescheiterten Ampel-Regierung. Deshalb darf die gesellschaftliche Verantwortung der vielen nicht ausgeblendet werden.
Es gehört inzwischen zur schmerzhaften Einsicht von immer Menschen, dass Wohlstand und Sicherheit nicht selbstverständlich für alle Zeiten gegeben sind. Schon Willy Brandt hat 1987 in seiner Abschiedsrede als SPD-Vorsitzender in der Godesberger Stadthalle gemahnt: „Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“ Ob aber die gesellschaftliche Mehrheit tatsächlich auf der Höhe der Zeit ist, darüber gibt es berechtigte Zweifel. Zu viele Menschen haben sich zu lange von der neoliberalistischen Verlockung anstecken und einlullen lassen, wonach schon an alle gedacht ist, wenn nur jeder an sich selbst denkt. Die Folgen sind spürbar: das gesellschaftliche Engagement hat nachgelassen, immer weniger Menschen kümmern sich um andere, das Füreinander-Einstehen ist seltener geworden, die Solidarität in der Gesellschaft hat abgenommen – Vereine, Kirchengemeinden, Feuerwehren, Hilfsdienste, Sozialverbände, Gewerkschaften haben weniger Zulauf, auch die demokratischen politischen Parteien leiden darunter, besonders bei den Kommunalwahlen fehlen immer mehr Kandidatinnen und Kandidaten – der ehrenamtliche Einsatz für die Gemeinschaft hat keine Konjunktur.
Jetzt ist das Erschrecken groß. Jetzt dämmert es so manchem, dass alles nicht so wohl geordnet und wohltuend weitergeht, wie das gewohnt war. Jetzt wird mehr und mehr erkannt, dass die persönliche Zukunft doch ganz eng mit der Zukunft des Landes zusammenhängt. Jetzt wird klar, dass es dem Einzelnen nur gutgehen kann, wenn es dem Ganzen, wenn es allen gut geht. Jetzt stellt sich heraus, dass die persönliche Perspektive und Entwicklung nicht allein in der eigenen Hand liegt. Jeder ist eben nicht allein seines Glückes Schmied, es braucht schon auch eine intakte Umgebung, einen gesellschaftlichen Zusammenhalt, eine funktionierende staatliche Infrastruktur, es braucht demokratische Stabilität. Auf Nebenmann achten, muss wieder gelernt werden. Das wird dauern. Ja, das Land ist unruhig, weil die Unruhe unter den Leuten zunimmt. Deutschland liegt im Fieber.
Viele Veränderungen sind in kurzer Zeit über die Menschen hereingebrochen. Die Globalisierung, die digitale Entwicklung, die wirtschaftliche und industrielle Transformation, die Klimakrise, die Migration, der seit 33 Monaten anhaltende völkerrechtswidrige und brutale Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine mit weitreichenden Folgen, die zügig zu fördernde Verteidigungsfähigkeit Deutschlands, Europas und der NATO, die demografische Entwicklung mit einer alternden Gesellschaft und einem riesengroßen Bedarf an Arbeitskräften aus anderen Ländern, das Aufstreben antidemokratischer Kräfte in den USA, in Lateinamerika, Asien, aber auch und besonders in Europa und in Deutschland zwingen zu Veränderungen, die den persönlichen Lebensbereich treffen und durchschütteln. So haben sich die meisten Menschen ihren Lebensalltag nicht vorgestellt. Sie waren darauf offensichtlich nicht vorbereitet, sie hatten die Veränderungen nicht kommen sehen oder wollten sie nicht sehen. Erst nach und nach werden ihnen die Folgen bewusst. Und nach und nach wird klar, dass es für nicht wenige Menschen zu viel ist, was diese Veränderungen, was der rasante Wandel ihnen abverlangt. Verzweiflung macht sich breit, Hoffnungslosigkeit wächst. Legenden werden gebildet oder bilden sich, neue Feindbilder entstehen. Das ist der Boden, auf dem gesellschaftliche Krankheiten gedeihen, auf dem politisches Abenteurertum sprießt.
Dagegen Sicherheit und Perspektive, Hoffnung und Zuversicht zu setzen, ist die vornehmste Pflicht von Politik. Besonders in Krisenzeiten wie heute kommt es darauf an, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, Solidarität und Nächstenliebe gegen Egoismus und Spaltung zu stellen. Dafür braucht es einen starken Staat, der hilft und unterstützt, der für gute Nachbarschaft sorgt – im Innern und nach außen. Und der die innere und soziale Sicherheit garantiert und die eigene Verteidigungsfähigkeit erhält und zukunftsfest macht. Es geht schlicht und einfach um Sicherheit im Wandel, damit die Menschen sich auf die Veränderungen einlassen können und wollen und nicht verzagen. Sie müssen sich an diesen starken Staat anlehnen können.
Jetzt wird sich im politischen Wettbewerb der demokratischen Parteien zeigen, wer auf der Höhe der Zeit ist und die richtigen und überzeugenden Antworten für die große Mehrheit, für die soziale Mitte in unserer Gesellschaft gibt. Dass in diesen Zeiten die FDP vor „staatlicher Übergriffigkeit“ warnt, beweist, wie weit diese Partei sich inzwischen von der Lebenswirklichkeit der Menschen entfernt hat. Und dass FDP-Chef Lindner sogar Anleihe für die „Kraft zur Disruption“, also die Zerstörung von staatlichen Strukturen und Hilfen, bei dem Trump-Unterstützer und Berater Elon Musk und bei Argentiniens Präsident und Anarcho-Kapitalist Javier Milei nimmt, ist nur noch mit seiner politischen Todesangst zu erklären. Allenfalls bei einer radikalisierten Randgruppe, der das eigene Wohlergehen in gesicherten finanziellen Verhältnissen über das Gemeinwohl geht, kann er damit punkten.
Gesellschaftliche Solidarität und persönliche soziale Sicherheit miteinander zu verbinden, ist jedenfalls eine politische Aufgabe mit hoher Symbolkraft und der Aussicht auf große Zustimmung. Nicht nur die bevorstehende Weihnachtszeit erneuert die Bedürfnisse nach Nächstenliebe und Zusammenhalt. Überhaupt scheint die rücksichtslose Haltung der egoistischen Vorteilsnahme überholt und vorbei zu sein. Sie wirkt inzwischen wie aus der Zeit gefallen. Für die Sozialdemokratie liegt darin die große Chance, auch ohne Ampel-Regierung mehr Fortschritt zu wagen – wirtschaftlich, sozial, gesellschaftlich. Besonders in Krisenzeiten kommt es darauf, Wege aus der Krise aufzuzeigen, die vorwärtsgewandt sind und viele Menschen ansprechen und berühren. Ganz im Sinne von Willy Brandt, der in der Godesberger Rede herausgestellt hat: „Und doch, sich nicht zu weit von dem zu entfernen, was viele aufzunehmen geneigt und mitzutragen bereit sind, gehört zur eisernen Wissensration einer Volkspartei, die nicht auf die Oppositionsbänke abonniert ist. Und die weiß, dass man auf der Regierungsbank in aller Regel mehr erreichen kann für die Menschen, denen man sich verantwortlich fühlt.“
Ein solch neues Verständnis von Fortschritt, das die persönlichen Bedürfnisse der Menschen aufnimmt und mit den gesellschaftlich notwendigen Entwicklungen und Zielen verbindet, ohne den Blick auf den freiheitlichen Sozialstaat aus dem Auge zu verlieren, kann auch neue Anziehungskraft entfalten. Das wäre auch ein starkes Kontrastprogramm zur Merz-CDU, die auf der Nostalgie-Welle surft und den Menschen die Rückwärts-Reise in die fünfziger und sechziger Jahre schmackhaft machen will. Vor allem die jungen Menschen setzen auf Zukunft, nicht auf Vergangenheit. Und sie verbinden ihre Hoffnung mit persönlichen und gesellschaftlichen Perspektiven. Nicht nur, aber der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine mit seinen anhaltenden Folgen hat diese Perspektiven in ein besonderes Blickfeld gestellt, hat sie grell ausgeleuchtet. Und er hat deutlich gemacht, wie wichtig friedliches Zusammenleben und gute Nachbarschaft sind und wie sehr es darauf ankommt, politisch besonnen zu handeln und alles zu tun, um Frieden und Freiheit zu sichern.
Auch hier schlägt die Stunde der Sozialdemokratie mit all ihrer Erfahrung aus einer einzigartigen 162jährigen Geschichte, die Willy Brandt so zusammengefasst hat: „Für Freiheit gegen den Obrigkeitsstaat haben unsere Altvordern gekämpft. Sie, wir haben vor den Nazis und ihren mächtigen Helfern nicht kapituliert. Sie, wir haben uns durch die brutale Herausforderung aus dem Osten nicht unterkriegen lassen. So soll es bleiben: Deutsche Sozialdemokraten dürfen Kränkungen der Freiheit nie und nimmer hinnehmen. Im Zweifel für die Freiheit! Auf Freiheit zu pochen – zuerst und zuletzt – für uns Europäer und für das eigene Volk, Freiheit einzuklagen für die Verfolgten und Ohnmächtigen – dies sei meine letzte ‚Amtshandlung‘ als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.“
Im Zweifel also auch für die Freiheit der Menschen in der Ukraine, für ihr Überleben und für ihre Sicherheit in der Nachbarschaft des brutalen russischen Aggressors unter Putins diktatorischer Herrschaft. Das verlangt finanzielle, wirtschaftliche soziale und militärische Unterstützung der Ukraine in großem Ausmaß. Und es verlangt gleichzeitig viele diplomatische Initiativen mit freundschaftlich verbündeten Staaten in der Europäischen Union und der NATO, aber auch darüber hinaus, um Einhalt zu gebieten in diesem mörderischen Krieg und dann zu Lösungen zu kommen, die Freiheit und Sicherheit in der Ukraine garantieren und Zukunftsaussichten für ein Leben in Selbstbestimmung und Demokratie entwickeln und organisieren. Das wird nur mit Beharrlichkeit und Besonnenheit gelingen, nicht mit Kriegsgeschrei und schon gar nicht mit deutschen Raketen gegen Russland.