Manchmal bedarf es eines Anlasses, um sich wieder einmal mit einem Schriftsteller zu befassen, den man bereits vor vielen Jahren gelesen hat. In unserem Fall war es eine Veranstaltung in der a Lasco-Bibliothek in Emden: der Rezitator und Antiquar Hermann Wiedenroth aus Bargfeld, dem letzten Wohnort von Arno Schmidt, hielt dort einen Vortrag über Kurt Tucholsky, den wir uns angehört haben und der uns zur neuerlichen Lektüre inspirierte.
Wir hatten bereits 1975 Tucholsky gelesen, als die 10bändige Taschenbuch-Ausgabe erschien, die Fritz J. Raddatz im Rowohlt-Verlag herausgab. Tucholsky interessierte uns zunächst als politischer Autor, der bereits im Januar 1919 in der Weltbühne die anti-militaristische Artikelserie Militaria gestartet hatte; ein Angriff auf den wilhelminischen Geist der Offiziere, den er durch den Krieg zusätzlich verroht sah und der in der Republik weiterlebte.
In ebenso heftiger Weise prangerte Tucholsky auch die zahlreichen politischen Morde an, die die Weimarer Republik in den ersten Jahren erschütterten. Immer wieder wurden Anschläge auf linke, pazifistische oder liberale Politiker und Publizisten verübt, zum Beispiel auf Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, Walther Rathenau, Matthias Erzberger, Philipp Scheidemann und Maximilian Harden. Als Prozessbeobachter in Verfahren gegen rechtsradikale Fememörder musste er feststellen, dass die Richter in aller Regel die monarchistischen und nationalistischen Ansichten der Angeklagten teilten und mit ihnen sympathisierten. In seinem Artikel Prozeß Harden schrieb er 1922:
„Der deutsche politische Mord der letzten vier Jahre ist schematisch und straff organisiert. […] Alles steht von vornherein fest: Anstiftung durch unbekannte Geldgeber, die Tat (stets von hinten), schludrige Untersuchung, faule Ausreden, ein paar Phrasen, jämmerliches Kneifertum, milde Strafen, Strafaufschub, Vergünstigungen – „Weitermachen!“ […]
Das ist keine schlechte Justiz. Das ist keine mangelhafte Justiz. Das ist überhaupt keine Justiz. […] Balkan und Südamerika werden sich den Vergleich mit diesem Deutschland verbitten.“
Tucholsky sparte auch nicht mit Kritik an demokratischen Politikern, die seiner Meinung nach zu nachsichtig mit ihren Gegnern umgingen. Nach dem Mord an Außenminister Walther Rathenau 1922 richtete er in einem Gedicht einen Appell an die Selbstachtung der Republik:
„Steh einmal auf! Schlag mit der Faust darein!
Schlaf nicht nach vierzehn Tagen wieder ein!
Heraus mit deinem Monarchistenrichter,
mit Offizieren – und mit dem Gelichter,
das von dir lebt und das dich sabotiert
an deine Häuser Hakenkreuze schmiert.
Besonders hart ging er mit der SPD ins Gericht, deren Führung er ihr Versagen, ja Verrat an den eigenen Anhängern während der Novemberrevolution vorwarf. Über Friedrich Ebert schrieb er 1922:
Und über allem thront dieser Präsident, der seine Überzeugungen in dem Augenblick hinter sich warf, als er in die Lage gekommen war, sie zu verwirklichen.
Tucholsky warnte früh vor dem Faschismus. Klarer als viele Politiker sah er im Fortleben des Militarismus, dem Wiedererstarken der restaurativen Kräfte, der krisenhaften kapitalistischen Wirtschaftsordnung und der damit einhergehenden Massenarbeitslosigkei den Nährboden des Nationalsozialismus.
Hart geht er auch mit den linken Parteien und Intellektuellen um, nicht ohne sich auch selbst in die Kritik mit einzubeziehen. Er schreibt: Hier ist die ganze Hohlheit der ‚Linken’, ihre Wortberauschtheit, ihre Leere und ihre elende Schwäche. Ich auch? Ich auch. Nur habe ichs nun eingesehen.
Fritz J. Raddatz hat in seinem überaus lesenswerten Buch über Tucholsky dessen Haltung wie folgt charakterisiert: Im Auflösen des überkommenen Kanons berührt Tucholsky sich überraschenderweise mit Autoren, die er nicht mochte oder die ihn nicht mochten. Wir stehen vor dem seltsamen Phänomen, dass marxistische Schriftsteller – ob Bertolt Brecht oder Johannes R. Becher oder Anna Seghers im Exil auf je verschiedenen Kontinenten, in Kalifornien, Moskau und Mexiko – stets die These vom ‚anderen, besseren Deutschland’ vertraten. Sie glaubten an die Massen, als die schon am roten Wedding die Hakenkreuzfahne hissten, an das Volk, als das schon die Schaftstiefel im Gleichschritt schwang: an das Proletariat, als das schon die Panzer, Stukas und U-Boote bestieg, um die Nachbarvölker zu morden.
Das schrieb Tucholsky zu einer Zeit, als Thomas Mann (den er nicht mochte), den Nationalsozialismus eine politische Erfüllung von Ideen nannte, die seit mindestens anderthalb Jahrhunderten im deutschen Volk und in der deutschen Intelligenz rumoren.
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Das Buch von Fritz J. Raddatz: Tucholsky. Ein Pseudonym war der ideale Nachklang zur Lesung von Hermann Wiedenroth, der bei seinem Vortrag in Emden des Öfteren daraus zitierte. Und man kann sich kaum ein besseres Buch über diesen großartigen Schriftsteller vorstellen als das von Raddatz verfasste. Wir haben es als groß(artig)en Nachruf gelesen: ein Schriftsteller und Publizist schreibt über einen ebensolchen, nur aus einem anderen Jahrzehnt und mit einer anderen Brille als der Beschriebene.
Raddatz schafft es, uns diesen schwierigen Zeitgenossen, der in den 1920er und 30er Jahren wirkte, auf eine Art näherzubringen, die viele Spuren hinterlässt, sich gleichzeitig aus Empathie wie Distanz speist, die sowohl politisch als auch ästhetisch gelagert ist und das Milieu der Links-Intellektuellen dieser Zeit beleuchtet. Raddatz setzt dabei Schwerpunkte, als da sind: Tucholsky als Herausgeber der Zeitschrift „Weltbühne“, als Verfasser von zeitkritischen journalistischen Beiträgen unter verschiedenen Pseudonymen, als Romanschriftsteller und Satiriker etc. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf seinen Frauen, seine Schwierigkeiten, in Beziehungen zu leben, als einer, der liebt, aber keine Nähe verträgt, der mehrere Beziehungen zeitgleich oder -versetzt aufrecht erhielt.
Das Schwierigste in seinem Leben und Wirken war jedoch die bedrohliche politische Lage mit dem aufziehenden Faschismus in den 1930er Jahren; als Jude und Linksintellektueller war er doppelt gefährdet, was Tucholsky zu etlichen Orts- und Landeswechseln veranlasste. Die Konzentration auf die verschiedenen Foci der biografischen Abhandlung hindert Raddatz nicht, immer wieder Zusammenhänge in den Problemlagen dieses schwierigen Lebens herzustellen. Man spürt die Nähe zu seinem „Objekt“; selbst wenn bisweilen Unverständnis gegenüber bestimmten Verhaltensweisen Tucholskys vorliegt, überwiegt immer wieder das Verstehen, die Einfühlung und das Erklären von problematischen Zusammenhängen.
Und je näher sich die Darstellung dem Lebensende Tucholskys nähert, desto stärker die literarische Ausrichtung seines Biografen – Raddatz war eben auch ein großartiger Schriftsteller, der sein Metier beherrschte, auch wenn er in der Zunft niemals die Anerkennung erfuhr, die er verdient hätte.