1. Einleitung: Die naturräumliche Privilegierung Rotterdams
Rotterdam ist ein Tiefwasserhafen. Dieser Eigenschaft wegen wurde er Dreh- und Angelpunkt der Versorgung Nord-West-Europas mit Rohöl und Ölprodukten. Es entstand dadurch gleichsam erst die via Rotterdam versorgte Großregion, incl. den Raffinerien und petrochemischen Anlagen in der Rhein-Ruhr-Region, die sog. Antwerpen-Rotterdam-Rhein/Ruhr Area (ARRRA). Vergleichbar ist die Konstellation nur mit zwei weiteren ähnlich bestückten Regionen, d.i. Houston in Texas und Singapur.
Mit dem Erdöl-Embargo der EU im sechsten Sanktionspaket vom 3. Juni 2022 beginnt für die ARRRA eine neue Ära, eine Umwälzung wie nach 1945. Das Öl-Embargo auf dem Seeweg trat am 5. Dezember 2022 in Kraft; das Embargo für die Einfuhr von sog. „Ölprodukten“, also all dessen, was durch den Raffinerie-Prozess an Produkten entsteht, folgt am 5. Februar 2023. Damit wurde die ölwirtschaftliche Desintegration mit Russland mit einem Schlag besiegelt, statt dass er, wie bislang vorgesehen, als schleichende Desintegration stattfindet, in Konsequenz der Entscheidung, Europa zum ersten carbon-freien Wirtschaftsraum zu machen. Nun muss ein eiliger Prozess der regionalen Neuausrichtung der weiterhin fossilen Bezugsquellen dazwischengeschoben werden. Dafür wurde mit der EU-Entscheidung vom 3. Juni 2022 der Startschuss gegeben. Fragt sich, wie diese kommende Neue (Zwischen-)Zeit in ihren absehbaren Umrissen vorzustellen ist.
Die Oil Task Force des Energie- und Klimaministeriums in den Niederlanden hat das Clingendael International Energy Programme (CIEP) beauftragt, dies darzustellen. Deren – qualitativer – Bericht wurde in enger Zusammenarbeit mit Experten der betroffenen Branchen erstellt. Die Lektüre ist wirklich Augen öffnend; wenn auch einzuräumen ist, dass die Perspektive fehlt zu fragen, was die nun eingeschobene eilige Zwischen-Transformation für die eigentlich zentrale Transformation des „Weg vom Öl“, des „Hin zu H2“, bedeuten mag. Frappierend ist zudem zu sehen, dass etwas Entsprechendes für Deutschland nicht vorliegt.
2. Die umwelt-riskante off-shore Umladung russischen Öls in Zukunft vor Europas Küsten
Rotterdam diente als Hub für russisches Rohöl und Ölprodukte. Sie nehmen ihren Ausgang von der Nordwest-Küste Russlands und werden auf dem Seeweg transportiert. Zu durchfahren ist die „Dänemark-Straße“ (zwischen Island und Grönland), in der schwierige nautische Bedingungen herrschen. Deswegen wird das Öl auf relativ kleinen Schiffen transportiert, bislang mit dem Ziel Rotterdam – dort, im sicheren Hafen, wurde es entweder in den Markt der ARRRA-Region eingeschleust oder umgeschlagen für den allfälligen Ferntransport, in die üblichen Großtanker.
Damit, mit dem Anlaufen europäischer Häfen, hat es nun ein Ende. Zu Ende gekommen ist damit aber nicht die Umschlagsnotwendigkeit nach Passage der Straße von Dänemark; im Gegenteil, die nimmt noch massiv zu, weil das gesamte Marktvolumen, das bislang via Rotterdam aus russischen Quellen beliefert wurde, entfallen ist. Die Umladung in Europas Häfen ist nun ausgeschlossen, folglich bleibt nur der Umschlag auf See, in internationalen Gewässern und doch vor Europas Küsten – mit all den Unfallgefahren, die damit verbunden sind. Europa wird seine Vorkehrungen zum Umgang mit einem Ölunfall deutlich verstärken müssen.
3. Re-routing: Beidseits weitere Entfernungen
Ansteht nun ein Re-routing der globalen Flüsse von Rohöl und Ölprodukten. Das Öl aus nahe zu Europa gelegenen russischen Quellen muss in Zukunft über deutlich weitere Strecken transportiert werden. Komplementär gilt: Was Europa als Ersatz bezieht, muss ebenfalls über weit längere Routen transportiert werden. Folge ist ein deutlich erhöhter globaler Bedarf an Transportkapazität. Die Wege werden eben länger, es kostet weit mehr Zeit – mit anderen Worten: Für den Transport muss – im neuen Gleichgewicht – deutlich mehr an Ressourcen aufgewendet werden als bislang. Und bis sich das eingestellt haben wird, werden marktlagenbedingt hohe Knappheitskosten anfallen – der Marktwert alter Tanker hat sich bereits um 50% erhöht. Da aber gleichzeitig Europa sich, und darunter insbesondere seinen Verkehrssektor, decarbonisiert, wird die Öl-Nachfrage zurückgehen, die in den USA ebenfalls. Diese gegenläufige Tendenz bei den Nordatlantik-Anrainern könnte den Mangel mit lindern.
4. Spezialfall im Ölproduktenmarkt: Die Diesel-Knappheit
Die dominante Knappheit für Europa in diesem neuerlichen Transformationsprozess wird weniger beim Rohöl als vielmehr auf dem Produktenmarkt auftreten. Das hat folgenden Hintergrund.
Bislang erhält Europa Rohöl der Sorte Ural, was eine vergleichsweise „schwere“ Rohölsorte ist. Bei der Destillation im Raffinerie-Prozess ist deshalb der Diesel-Anteil hoch. Das passte sehr gut zum relativ „schweren“, d.i. Diesel und -Kerosin-lastigen, Produktenmix in der europäischen Nachfrage.
In Zukunft wird das deutlich anders. Nun muss für Europa aus aller Welt etwas zusammengekauft werden an Rohölsorten, die im Durchschnitt deutlich „leichter“ sein werden. Zudem fallen auch die Diesellieferungen aus russischen Raffinerien aus. Es wird deshalb eine besonders ausgeprägte Angebotslücke beim Diesel und beim Kerosin in Europa geben; mit entsprechenden preislichen Konsequenzen.
5. Quelle der Diesel-Lieferungen an die Ukraine und ihr Militär ist Russland
Nebenbei sei erwähnt, dass das Öl-Import-Embargo der EU eine bemerkenswerte Ausnahme enthält. Das Embargo bezieht sich auf see-gestützte Öl-Importe, nicht auf Pipeline-Importe. Die osteuropäischen Staaten sind überwiegend mit Russland durch Pipelines verbunden. Das aber gilt nicht für Bulgarien, die dortige Lukoil-Raffinerie wird per Schiff, über das Schwarze Meer, mit Rohöl aus russischen Quellen versorgt. Als Begründung für diese Ausnahme wurde verlautbart, dass die dortige Raffinerie so auf die spezielle Qualität russischen Erdöls ausgelegt sei, dass eine Umstellung auf Öl aus anderen Quellen sehr schwierig sei. Mit demselben Argument hat auch Zypern eine Ausnahme vom Embargo seegestützter Importe erhalten. Kürzlich wurde bekannt, dass von dieser Ausnahme vor allem das ukrainische Militär profitiert. Russland sorgt mit dem in Burgos hergestellten Diesel für die Funktionsfähigkeit der ukrainischen Streitkräfte. Der Wert des im Jahre 2022 in die Ukraine gelieferten Diesels russischer Herkunft liegt bei über 800 Mio. €.
Bildquelle: © PCK Raffinerie GmbH