Kriminalität steht im Fokus – insbesondere der Politik. Ein beliebtes und vor allem öffentlichkeitswirksames Mittel zur Bekämpfung von Kriminalität sind Strafrechtsverschärfungen.
Dabei droht nicht nur die Gefahr, sich im Forderungswust aus härteren Strafen und erweiterten Tatbeständen zu verheddern. Auch muss man wissen, dass – wie der Potsdamer Strafrechtsprofessor Wolfgang Mitsch schreibt – „ein auf Strafrechtsverschärfung beruhender Rückgang von Kriminalität das Resultat eines komplexen und langwierigen kommunikativen Prozesses ‚strafrechtlicher Sozialkontrolle‘ ist. Wenn also Politikerankündigungen suggerieren, auf eine Anhebung des Strafniveaus bei Wohnungseinbruchdiebstählen werde rasch ein spürbares Sinken der Kriminalitätsbelastung folgen, ist das eine falsche Botschaft.“
Damit ist für den Bereich der Kriminalitätsbekämpfung ein Problem angesprochen, das Forderungen nach Strafrechtsverschärfungen stets begleitet und dessen sich Kriminalpolitikerinnen und Kriminalpolitiker bewusst sein sollten. Gemeint ist der Blick auf die Kriminalität.
Verzerrter Blick
Dieser Blick ist verzerrt. Denn wir sehen nicht alles. Das gilt besonders, wenn man sich auf statistische Daten verlässt, allen voran die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Die PKS erfasst zwar alle bundesweit polizeibekannten Taten, ist jedoch in erster Linie ein Arbeitsnachweis der Polizei und schon deshalb kein Abbild der Wirklichkeit von Kriminalität. Hinzu kommt, dass die anderen Kriminalstatistiken, insbesondere die staatsanwaltschaftliche Erledigungsstatistik und die Strafverfolgungsstatistik, ebenso wenig die wahre Kriminalitätslage im Land widerspiegeln, weil auch sie nur das sogenannte Hellfeld betreffen.
Im Hellfeld liegen solche Taten, die bekannt, insbesondere angezeigt werden. Erfolgt – warum auch immer – keine Anzeige, bleibt das Geschehen regelmäßig im Dunkeln. Man kann zwar versuchen, dieses Dunkelfeld auszuleuchten, etwa durch Befragungen. Man kann auch deliktspezifisch abschätzen, ob das Dunkelfeld eher klein (so beim Wohnungseinbruchdiebstahl) oder eher groß ist (wie beim Betrug). Am Ende bleibt beides jedoch spekulativ.
Für Kriminalpolitikerinnen und Kriminalpolitiker ist es bedeutsam, dass Kriminalität statistisch nicht vollständig abgebildet wird. Denn die Strafgesetze sind auf der Grundlage gestaltet, was bisher an abweichendem Verhalten sichtbar geworden ist. Darüber hinaus führt diese Tatsache zu der Erkenntnis, dass der Blick auf steigende Fallzahlen in der PKS nicht zwingend den Schluss zulässt, dass die Kriminalität wirklich zunimmt. Vielmehr kann es schlicht eine Veränderung im Anzeigeverhalten gegeben haben, die zu einer Umlagerung von Taten aus dem Dunkel- in das Hellfeld führt. Ein Beispiel dafür ist die #MeToo-Bewegung.
Grundsatzfrage
Ist es überhaupt erstrebenswert, das Dunkelfeld komplett und öffentlichkeitswirksam auszuleuchten? Manche würden sagen: Ja, denn umso besser gelingt der Kampf gegen die Kriminalität. Der Soziologe Heinrich Popitz dagegen hat in diesem Zusammenhang von der „Präventivwirkung des Nichtwissens“ gesprochen. Er ist der Meinung, dass die völlige Ausleuchtung des Dunkelfeldes das Vertrauen der Gesellschaft in unser Normsystem eher stören würde. In seinem Werk „Über die Präventivwirkung des Nichtwissens, Dunkelziffer, Norm und Strafe“ von 1968 (S. 20) hat er dazu den entscheidenden Satz geschrieben:
„Strafe kann ihre soziale Wirksamkeit nur bewahren, solange die Mehrheit nicht bekommt, was sie verdient.“
Solange wir also nicht alle Grenzüberschreitungen unserer Mitmenschen kennen, hat das Strafrechtssystem und die davon ausgehende generalpräventive Wirkung Bestand.
Das lässt sich hören! Für mich spielt diese These auch eine Rolle, wenn ich aktuell an die sichtbare Verrohung der öffentlichen Debatte durch die rechtsextremen Parolen der AfD denke. Die von der AfD im Internet verbreitete Hetze ist offensichtlich Teil einer groß angelegten Reizkampagne, mit der die Rechten die Grenzen des Sagbaren bewusst verschieben und so menschenverachtende Sprache salonfähig machen wollen. Alles nach dem Motto der selbst ernannten besorgten Bürger: „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.“ Diesen öffentlichkeitswirksamen Hassbotschaften muss man ebenso wirksam entgegentreten. Nicht zuletzt mit den Mitteln des Strafrechts. Denn dessen Wirkung wird hier infrage gestellt.