1. Einleitung
Der Krieg in der Ukraine ist, wie es militärisch heißt, ein „Abnützungskrieg“ geworden. Ein Abnützungskrieg ist ein Krieg, der militärisch festgefahren ist. Bei ihm erleiden beide Seiten pro Zeiteinheit etwa gleich viel an Verlusten.
Ein Abnützungskrieg ist eine Auseinandersetzung, bei derjenige gewinnt, der auf Dauer mehr an Ressourcen einzusetzen in der Lage ist – er ist somit ein Kampf ganzer Ökonomien, in diesem Sinne ein „totaler“ Krieg. Schlüsselbegriff ist folglich die abstrakte ökonomische Kategorie „Ressourcen“. Das meint zuvörderst Menschen- und militärisches „Material“ für die Führung des Kriegs selbst – es meint dann gefallene Soldaten und zehnmal soviel Verletze mit dauernden körperlichen und seelischen Verwundungen.
Dabei gilt: Der Westen stellt Ressourcen zu einem erheblichen Teil zur Verfügung – mit Ausnahme von Soldaten („Menschenmaterial“). Dessen Solidarität auf Dauer aber ist erfahrungsgemäß brüchig – es gilt eben immer der Primat der Innenpolitik, das ist in Demokratien nun einmal so.
Also müssen die beiden Kriegsparteien aus dem schöpfen, was sie an Volk noch haben. Deshalb ist ein vergleichender Blick in die demographisch beschriebene Situation auf beiden Seiten mit den Veränderungen seit Kriegsbeginn aufschlussreich.
2. Demographische Veränderung in der Ukraine
Die Bevölkerungsentwicklung auf dem Territorium der Ukraine ist dramatisch nach unten gerichtet und völlig aus der Balance. Das ist an dieser Darstellung[1] des Bevölkerungs-„Baumes“ ablesbar. Dargestellt ist die Situation vor Russlands Invasion und heute – die Differenz pro Altersgruppe ist durch Ziffern am Rand jeweils angegeben. Die Rückgänge unterscheiden sich erheblich, nach Frauen und Männern sowie nach Altersgruppen.
Figure 1: Impact of the war on Ukraine’s population structure (grey shading shows losses of population by emigration, with percentages of losses)
Quelle: Ueffing et al., op. cit. Authors’ estimates based on data from ISTAT, Eurostat and UNHCR
Die Bevölkerung der Ukraine war bis vor 30 Jahren am Wachsen gewesen, 1994 wurde der Höhepunkt erreicht, mit 51,7 Mio. Menschen. Bis zum Februar 2022 ging diese Zahl auf 43,3 Mio. zurück. Das war ein Minus um 8,4 Mio. Menschen. Seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine sind 7,8 Mio. Menschen geflüchtet, ein Drittel etwa nach Russland, zwei Drittel (4,8 Mio.) in den Westen, nach Europa.
Gegangen sind die Jüngeren, vor allem Frauen. 30 bis 40 Prozent der Kinder sind geflohen, derselbe Anteil gilt für Frauen bis zu einem Alter von 44 Jahren. „Männern (von 18 bis 60 Jahren) ist die Ausreise verwehrt“ – so die Sprechweise des Erlasses in der Ukraine. Das ist wörtlich zu nehmen, das ist staatsbürgerrechtlich unbestimmt, es gilt nicht nur für ukrainische Männer, er gilt für Männer mit zwei Pässen auf ukrainischem Territorium ebenso. Ungarn war bekanntlich extrem großzügig in der Ausstellung von Pässen an Personen in der Ukraine, Russland hat es ähnlich gehalten. Rund 5 % der Männer im konskriptionsfähigen Alter haben es dennoch geschafft zu gehen, darunter viele Kraftfahrer. Auch die Geißel der Korruption, mit der die Ukraine geschlagen ist, hat zum Ausweichen vor der Wehrpflicht in einer solchen Größenordnung beigetragen.
Die offene Frage ist, in welchem Ausmaß es nach einem Waffenstillstand zu einer Wieder-Zusammenführung der aktuell getrennten Familien kommen wird; und höchst bedeutend: Wo? Werden die Frauen mit ihren Kindern, die hier beste Bildungschancen haben und wahrnehmen, zurückkehren wollen ins großflächig zerstörte Herkunftsland? Die Aussichten dafür sind, realistisch betrachtet, nicht gut. Die werden gekommen sein um zu bleiben. Der Altersdurchschnitt der Geflüchteten liegt bei knapp 30 Jahren. Der Westen darf sich glücklich schätzen über diesen hoch-begabten und -qualifizierten Bevölkerungszugewinn.
3. Die Flucht aus Russland
Auf der russischen Seite ist die Situation ebenfalls dramatisch, aber doch völlig anders. Auch in Russland gibt es eine Fluchtbewegung, und deren Ausmaß ist hoch. Kundige Beobachter setzen sie in ihrer Bedeutung für Russland gleich mit der Flucht nach der Machtübernahme der Bolschewiken in Russland. Damals waren Paris und vor allem Berlin das Ziel der reichen und weltbürgerlichen Russen. Berlin wuchs um eine halbe Million (reicher) russischer Bewohner, die die verarmten Deutschen verdrängten. Charlottenburg wurde Charlottengrad.
Die russischen Bürger, die heute fliehen, sind ganz anderen Typs. Es handelt sich, anders als in der Ukraine, um junge Männer, bis etwa 40 Jahre alt, die ebenfalls, wie nach 1916, „weltbürgerlich“ drauf sind, aber im heutigen Sinne des modernen digitalen Zeitalters. Es sind die ITler, die von überall aus arbeiten können. Sie nennen ihren Weggang auch nicht „Flucht“, sondern „relocation“. Anders als die Erwartung der Elite-Migranten nach 1916 war die ihre anfänglich auch nicht, dass sie lange wegbleiben würden. Sie brauchen in den Staaten, in die sie ausgereist sind, weil das ohne Visum möglich war, auch kein Asyl oder Sozialleistungen. Ihr Ziel ist nicht der Westen, welches ihnen den Zugang verwehrt, sie gehen vielmehr nach Georgien, in die Türkei sowie in die Vereinigten Arabischen Emirate und nach Serbien. Sie gehen dorthin, wo sie weiterarbeiten können. Sie sind wirklich eine Elite – umso verwunderlicher, dass der Westen an ihnen kein Interesse hat, sie mitaussperrt im Impuls, alle Russen auszusperren.
Die aktuelle Welle “kriegsbedingter Emigration” unterscheidet sich auch deutlich von der vorherigen in Richtung Westen in den Jahren 2012–15, nach dem Scheitern der Modernisierungs-Strategie unter Medwedew und Putins Rückkehr in den Kreml. Diese Emigranten verkauften ihre Vermögensgegenstände in Russland, erwarben stattdessen Immobilien in Europa und besorgten sich alle erforderlichen Dokumente, um überzusiedeln. Ganz anders die gegenwärtigen Emigranten, die die Grenzen überschreiten ohne große Geldbeträge und ohne Visa. Es ist damit auch das erste Mal, dass Russen in großer Zahl in Länder zogen mit weniger Reichtum als in Russland.
Diese neuen Emigranten sind wie erwähnt vornehmlich Männer, und sie sind viel jünger als der Durchschnitt: unter 45 Jahre alt sind die allermeisten (86 Prozent) von ihnen. 80 Prozent von ihnen haben einen Hochschul-Abschluss. Sie sind auch erheblich vermögender als der Durchschnitt in Russland – die offizielle Statistik weist aus, dass bei einem Anteil von weniger als 1 Prozent von Russen, die das Land in 2022 verlassen haben, fast 11,5 Prozent der privaten Spareinlagen, die bei Russlands Banken zu Ende 2021 gehalten wurden, im Jahre 2022 ins Ausland transferiert wurden.
Was diese neue Welle russischer Emigranten so einzigartig macht, ist deren Weltläufigkeit. Die Mehrheit von ihnen kommt aus Städten mit mehr als 500.000 Einwohnern, sie betrachten sich als Teil globalen oberen Mittelschicht, gewöhnt an einen gehobenen Lebensstandard. Sie sind erfahren im Reisen in andere Länder, beherrschen Fremdsprachen, sind tolerant gegenüber anderen Kulturen, und sind vor allem vertraut mit der aktuellen globalen “digitalen Kultur”.