Der noch nicht einmal annähernd im Ansatz gelungene Versuch, in Thüringen eine Landesregierung aus der Linken, SPD und Grünen zu bilden, hat eine mediale Welle an Spekulationen über die künftige bundespolitische Koalitionsarchitektur in Berlin ausgelöst. Dabei wird im Widerspruch zur bundespolitischen Realität nicht nur völlig substanzlos im Berliner Kaffeesatz gestochert, sondern auch so weltfremd argumentiert, dass die geistigen Urheber wohl selbst nicht an ihre Fantasiegespenste glauben. Aber zweifelsohne hat der Testlauf für eine neue Koalition ohne CDU in Thüringen zumindest die Konjunktur für bundespolitische Verschwörungstheoretiker beflügelt.
Hierbei hat publizistisch Hugo Müller-Vogg als „großer Freund“ der Sozialdemokratie das bei weitem farbigste Szenario in die deutsche Medienlandschaft platziert. Er rechnet in seiner wilden „Storyline“ bei Funktionieren des noch nicht einmal zustande gekommenen Thüringer Koalitionsversuchs damit, dass sich Sigmar Gabriel in der zweiten Jahreshälfte 2016 zum Bundeskanzler wählen lässt, indem Angela Merkel gemeinsam von SPD, der Linken und den Grünen durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt wird. Und anschließend geht dann Gabriel nach fast einjährigem Durchregieren als erfolgreicher Kanzler gestärkt und nicht mehr nur als Vize von „Mutti“ in den Bundestagswahlkampf 2017: Natürlich mit der verheißungsvollen Perspektive, Rot-Rot-Grün durch das neue Wählervotum zu bestätigen.
Wer die bundespolitischen Fakten und Tendenzen nüchtern betrachtet, insbesondere die programmatisch-inhaltliche Orientierung sowie die Stärke der Fraktionen im aktuellen Bundestag und die Entwicklung der demoskopischen Umfragen, kann ein solches Drehbuch für Berlin nur als politischen Fiebertraum oder kunstvolle politische Agitation bewerten:
Erstens ist es völlig undenkbar, dass Sigmar Gabriel mit der SPD kurz vor der nächsten Bundestagswahl ein solch politisches Himmelfahrtskommando mit einer minimalen Stimmenmehrheit „ über dem Durst“ riskiert, wenn man die erwartbaren enormen Widerstände innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion gegen eine solche Volte bedenkt. Er würde damit noch auf der Startrampe zur Bundestagswahl grandios scheitern und die SPD anschließend bundesweit unter 20 Prozent drücken.
Zweitens scheint es inzwischen völlig ausgeschlossen, dass die grüne Bundestagsfraktion, die in Fragen des weltweiten militärischen Engagements und der Interventionsbereitschaft der Bundeswehr aktuell nicht nur die SPD, sondern sogar die Union überholt hat, mit der Linken mehrheitlich in eine bundespolitische Koalition geht.
Viel wahrscheinlicher als dieses abwegige Szenario wäre vielmehr die Variante, dass im Falle einer existenziellen Zerreißprobe der Großen Koalition in der laufenden Legislaturperiode die Grünen jederzeit von der SPD den Stab als Juniorpartner von Kanzlerin Merkel übernehmen würden. Da diese Variante eines Koalitionswechsels nicht nur im aktuellen Bundestag eine Mehrheit hätte, sondern auch trotz der AfD in allen aktuellen Umfragen, ist Schwarz-Grün für die Zeit nach der Bundestagswahl 2017 ohnehin eine Koalitionsvariante mit sehr guten Realisierungschancen. Vorraussetzung dafür ist allerdings, dass das in der Union wohl bundespolitisch ausschlaggebende Pilotprojekt für Schwarz Grün im wirtschaftsstarken Bundesland Hessen weiter halbwegs funktioniert.
Das alles wissen natürlich alle fantasievollen Propheten neuer bundespolitischer Koalitionsformationen, ob in der Variante eines Koalitionswechsels vor oder nach der nächsten Bundestagswahl 2017. Aber die meisten Urheber derartiger politischer Drehbücher stochern ja nicht nur aus lüsterner Sensationsgier dermaßen verwegen im Berliner Kaffeesatz. Sie wollen natürlich mit solchen von Erfurt in die bundespolitische Umlaufbahn katapultierten Gespenstern auch zeitgerecht zu Halloween die SPD in der Großen Koalition in eine Dementierspirale und mit dem „Hautgout“ als unzuverlässiger Koalitionspartner in die Dauerdefensive bringen.