Keine Koalitionsverhandlung ist der vorhergehenden gleich. Nicht einmal annähernd. Koalitionsverhandlungen sind auch keine Computerspiele. Man findet nämlich keine Reset-Taste. Der „Knochenbau“ solcher Verhandlungen mag sich gleichen, die Verhandlungen tun es nicht.
Verläufe hängen davon ab, ob ein oder mehrere Beteiligte diese klar dominieren. Woran hängt Dominanz? An einem vorausgegangenen Wahlsieg? An offenkundiger Erfahrung? An der Stärke der Persönlichkeit? Hängen Karrieren an Koalitionsverhandlungen oder nicht? Finden solche Verhandlungen in einem dramatischen, unruhigen oder in einem ruhigen Umfeld statt? Muss sich eine neue Parteien- Kombination zusammentun, eventuell zusammen raufen oder geht es –lediglich – um die Fortsetzung einer bestehenden Koalition? Sind die Koalitionspartner in etwa gleich stark im Parlament vertreten oder sind sie unterschiedlich stark? Haben sie eine sichere Basis in den berichtenden und bewertenden Medien oder nicht? Werden die Koalitionäre von außen getrieben? All das spielt eine Rolle. Computersimulationen sind es jedenfalls nicht.
Verhandlungen über Regierungsbündnisse sind historischen Entwicklungen unterworfen. In den früheren Industriegesellschaften Europas verliefen Koalitionsverhandlungen anders: Die Koalitionäre stützten sich auf sichere „Wählerstämme“, sie vertraten die Interessen verhältnismäßig homogener Gruppen und Schichten. Anstöße aus Wissenschaft und Forschung kamen nicht wie Sturzbäche über die Koalitionäre. All das hat sich tiefgreifend geändert – bis hin zu Zweifeln an der Gültigkeit der demokratischen Institutionen und deren Normen. Während Fachwissen eine immer größere Rolle spielt, macht sich das postfaktische Gegenteil bemerkbar. Ein Bundestagsvizepräsident, der als mögliches Kabinettsmitglied in einer neuen Koalition gehandelt wird, gibt frei und frank zu, die wissensbasierten Anti-Corona-Regeln gebrochen zu haben. Nicht zufällig sondern mit Absicht.
Stille gibt es für Koalitionäre nicht. Konzentration gibt es nur zum Preis fortwährenden Lärms vor den Türen, gegen Gedöns der Besserwisser, gegen „Bocksgesänge“, Unwissenheit und Verachtung. Vergnügungssteuer zahlen Koalitionäre also nicht. Daher sollte man sich gut überlegen, eine neue Koalitionsmöglichkeit heute als „Fortschritts-Formation“ oder progressives Bündnis zu bezeichnen. Das sind Inside- Bezeichnungen, die in geschlossenen Gruppen funktionieren aber nicht in der breiten Öffentlichkeit der Wahlberechtigten mit ihren widersprüchlichen Vorstellungen. Fortschritts Koalition, progressives Bündnis – das macht viele eher misstrauisch.
Zuerst treffen sich Parteivorsitzende, ergänzt um die Spitze von Fraktionen und besonders erfahrende beziehungsweise unter den Beteiligten angesehene Persönlichkeiten. Im gegenwärtigen Fall sind das beispielsweise die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer und deren Minister Volker Wissing, der zugleich als Generalsekretär der FDP auftritt.
Warum macht man das so? Weil die Grundlage für erste Gespräche zwischen unterschiedlichen politischen Richtungen die weitgehende Abwesenheit von Misstrauen ist. Das ist die Basis. Sogenannte „Schnittmengen“, also übereinstimmende beziehungsweise sich ähnelnde Vorstellungen und Forderungen hat man im Kopf. Die legt man nicht auf den Tisch – nach dem Motto: Damit sie Bescheid wissen! Koalitionen werden über Personen auf die Schiene gesetzt. Es gibt ein historisches Beispiel, das geradezu wie aus dem Lehrbuch belegt, was ich meine: 1969 wurde die sozial-liberale Koalition zwischen Brandt und Scheel angebahnt, verabredet. Erst nach einem eröffnenden Telefonat zwischen beiden konnte der „sozial-liberale Zug“ aufs Gleis gesetzt werden.
Man muss sich also schon ein gutes Stück respektieren und achten, damit es am Ende klappen kann. Mit dem Tätigkeitswort vertrauen bin ich hier vorsichtig. Das ist eine eher „seltene Währung“, mit der man nicht jede Rechnung begleicht. Damit der Respekt nicht unterwegs verloren geht, also dann, wenn sich der Zug in Bewegung gesetzt hat, müssen die Beteiligten wissen,
- wie man aufkommende, „gepflanzte“ Konflikte rasch beilegt,
- dass Provokationen sofort gestoppt werden müssen und
- wie man das Spielen von Verdächtigungen über unpräzise Quellen in die Öffentlichkeit beendet.
Das sind Conditiones sine quae non. Sind die nicht einzuhalten, mag man zwar eine Koalition zustande kriegen; aber rechnen muss man damit, dass die keine Perspektive hat. Siehe: das Intermezzo von Unionsparteien und FDP zwischen 2009 und 2013. Denn auch das gehört dazu: Koalitions-Gespräche finden eigentlich nie die volle Unterstützung der jeweiligen partei- politischen Klasse. Stets fühlt sich jemand vergessen, nicht gewürdigt, in seinen Auffassungen hintangesetzt.
Haben die Spitzenleute ihre Rollen verstanden und gefunden, so dass man gemeinsam Probleme angehen kann, beginnt der richtig arbeitsintensive Teil: Es müssen Arbeitsfelder definiert und entsprechende Arbeitsgruppen gebildet werden, die diese Arbeitsfelder abdecken. Die beteiligten Parteien entsenden ihre Fachleute in solche Arbeitsgruppen. In diesem Stadium werden Ergebnisse erarbeitet – sogenannte Arbeitsstände –, die dokumentiert werden.
In solchen Gruppen werden entscheidende Fragen von den Voraussetzungen und Ressourcen her diskutiert, werden die administrativen Möglichkeiten erörtert und die Konsequenzen aufgeschrieben. Man denke nur an die Koalitionsverhandlungen 2013, als in einer Arbeitsgruppe festgezurrt wurde, dass die Beschäftigten und die Rentner bis auf weiteres den Zuwachs an Kosten in den gesetzlichen Krankenkassen alleine zu tragen hätten. Die Arbeitgeberseite wurde geschont. In den Koalitionsverhandlungen 2017 wurde das wieder kassiert.
In schwierigeren Fragen wird mit der Gruppe der Vorsitzenden rückgekoppelt. Und am Ende werden die Arbeitsstände nebeneinander betrachtet, analysiert, noch einmal verändert oder akzeptiert, von einer Redaktionsgruppe zusammengefasst, in eine Reihenfolge gebracht und als Koalitionsdokument in die Schlussrunde der Beteiligten Parteien und Fraktionen gegeben.
Es gibt prägende, sekundäre Einflüsse, Aspekte während der Koalitionsanbahnung.
Die Grünen und die FDP bemühen sich um eine Art „Blockbildung“. Mit 26,3 % liegen sie ja auch knapp vor der SPD mit 25,7 oder den Unionsparteien mit 24,1 %. Je stärker sie sich in der Findungsphase aufeinander zu bewegen und als „geschlossene Formation“ erkennbar werden, umso mehr hoffen sie an eigenem Profil durchsetzen zu können.
Auf der Seite der SPD gibt es einen Sachverhalt von ähnlich herausragender Bedeutung: Das ist die Schlüssel- Frage, wie ein sozialdemokratischer Kanzler seine Partei hinter sich hält, wenn es darum geht, die in den kommenden vier Jahren erforderlichen Billionen € zusammenzubringen,
- um Klimaveränderungen zu stoppen (!),
- um die Unternehmen weiter so am Laufen zu halten wie bisher,
- die Infrastrukturbasis in Teilen zu modernisieren.
Eine dritte Frage ist die der politischen Zentren. Welche werden sich während der kommenden Jahre bilden? Und wie organisiert man in den Parteien der Koalition das nötige Mindestmaß an innerer Disziplin?
Wie sieht es im neu gebildeten Bundestag aus? Denn der muss eine neue Koalition tragen. Es kommt kein (!) prominentes Mitglied einer Wissenschaftseinrichtung, eines Verbandes mit ökonomischer Bedeutung, einer Gewerkschaft, einer Religionsgemeinschaft, einer angesehenen Kultureinrichtung, eines Welt-Unternehmens oder Ähnlichem zu den bereits seit 2017 im Bundestag befindlichen Abgeordneten hinzu. „Abgänge“ wie der des Forschungsspezialisten René Röspel wurden nicht ersetzt. Das ist wegen der immer engeren und breiteren Verbindung von Ökonomie und Wissenschaft/Forschung sowie der kulturellen Spiegelung von Wissens-basierten Entwicklungen auf vielen Feldern dramatisch. Es ist auch dramatisch wegen der Gefahr einer wachsenden Entfremdung zwischen Parlament und Sozialverbänden. Nach dem Ausscheiden von Ulla Schmidt haben diese Verbände keinen prominenten Repräsentanten mehr im Bundestag. Eine Art Traditionsbruch. Der Bundestag ist durch die Bank jünger geworden. Es gibt überraschend viele Frauen und Männer unter 40, die bereits zu Beginn ihrer Karrieren in den Bundestag wollten und gelangt sind. Die berufliche Erfahrung im Bundestag nimmt allerdings ab.
Schließlich: Vergangenes wird Gegenwart. Als sich das „Carbon-Zeitalter“ machtvoll ausbreitete, suchten sich die großen Themen ihre politische Repräsentanz selber. Hier die Privileg-Parteien des Besitzbürgertums, dort die Arbeiterassoziationen politischer, gewerkschaftlicher und kultureller Art. Es war, als werde der Karl Marx-Satz bestätigt: „… Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann….“
Danach begannen die politischen Kräfte ihre Themen zu suchen: die Reformistischen Parteien „wilderten“ in den Programmteilen des liberalen Bürgertums; das wiederum machte es umgekehrt. Der technisch- technologische Fortschritt versprach unbegrenzte Möglichkeiten – einschließlich der, die Menschheit insgesamt zu vernichten. Marx hatte ausgedient.
Das „Es war einmal“ ist aber nun zurück. Die großen Themen dominieren, suchen ihren Ausdruck, treiben Politik an. Gegen einen mörderischen Klimawandel; gegen das Absterben in der Natur und gegen die Verringerung der Artenvielfalt. Gegen wachsende Entrechtung und anderes mehr. Das ist insgesamt ein – wie man heute sagt – „hybrides“ Feld an Entwicklungen und Forderungen.
Und genau in dieses Feld fallen die Gespräche zwischen den Bundestags- Parteien aus SPD, Grünen und FDP sowie mit abklingender Bedeutung Gespräche mit CDU und CSU. Unter den koalitionswilligen Spitzenleuten von SPD, Grünen und FDP wird nun eifrig nach der neuen Erzählung für die beginnende Legislaturperiode, nach einem neuen „Narrativ“ gesucht. Das ist naiv. Denn auf die Zukunft bezogene Narrative sind spekulativ, Fiktion. Olaf Scholz ist kein Kapitän Nemo, Christian Lindner kein Luke Skywalker, Annalena Baerbock keine Matrix-Trinity und Saskia nicht die First Cass Lieutenant EllenLouise Ripley. Man wird sich mit der Gegenwart begnügen müssen: Mit der Sicherung einer umweltschonenden, vom Preis her gesehen akzeptablen Energieversorgung, mit Europa, damit unsere Heimat nicht auseinanderbricht und mit alle den Isolations- und Exklusionstendenzen in unserer Gesellschaft. Das reicht. Es wartet eine Menge Arbeit.
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