Frage: Ihr Fach, die Soziologie, ist einst als Krisenwissenschaft begründet worden. Was trägt diese Disziplin denn heute zur Deutung aktueller Krisen bei – Klima, Pandemie, Migration?
Mau: Der Begriff „Krisenwissenschaft“ bezog sich immer auf langfristige und als disruptiv wahrgenommene Transformationsprozesse wie Modernisierung und Industrialisierung, und tatsächlich gibt es jetzt wieder Stimmen, die von einer Zeitenwende oder einer großen historischen Schwelle sprechen, die der Gesellschaft Antworten etwa auf die ökologische Krise abverlangen. Man sieht, dass es eine zusammenhängende globale Krise gibt, die uns als Weltgemeinschaft herausfordert. Die Soziologie beobachtet, beschreibt und diagnostiziert, sie bringt Trends und Entwicklungslinien auf den Begriff.
Frage: Aber Sie wollen schon auch verstehen und erklären, was da abläuft?
Mau: Ja, wir wollen uns nicht bloß an Einzelphänomenen und Episoden entlanghangeln. Wir sehen im Sinne von Ulrich Becks Wort von der „Risikogesellschaft“ immer klarer, dass wir in eine Phase der Entwicklung eingetreten sind, in der die Gesellschaft auf die Folgen ihres eigenen Handelns trifft. Wir haben es nicht mehr nur mit der Aneignung der Umwelt durch den Menschen zu tun, sondern mit selbstproduzierten Problemen wie der Erderwärmung. Da muss die Weltgemeinschaft beweisen, dass sie global handeln kann.
Frage: In der Corona-Krise wurde viel über die negativen Folgen von Abstand, Quarantäne und Isolation geredet. Sie aber sagen: Physische Präsenz ist nicht zwingend notwendig für emotionale Nähe und persönliche Bindung. War die soziale Distanz über lange Zeit also gar nicht so problematisch für die Menschen und die Gesellschaft?
Mau: Das würde ich nicht sagen, es geht im Kern um den Wechsel von Präsenz und Abwesenheit in der modernen Gesellschaft. Es gibt das Nebeneinander der Anwesenheitsgesellschaft mit einer nahräumlichen Kommunikation und der globalisierten Gesellschaft, die auf virtuelle Kommunikation umschalten kann. Ich würde mich weder der einen noch der anderen Perspektive zuordnen, sondern sagen: Es braucht das Wechselspiel von Präsenz und Abwesenheit. Wenn erst einmal soziale Bindungen zu einer Person aufgebaut sind, dann schafft man es auch mal, sich ein halbes Jahr nicht zu sehen…
Frage: Wie in einer Fernbeziehung?
Mau: Ja oder bei einer Eltern-Kinder-Beziehung, die im Erwachsenenalter auch über eine räumliche Trennung hinweg eng bleibt.
Frage: Und im Berufsalltag?
Mau: Das Homeoffice hat deshalb für viele Menschen gut funktioniert, weil sie Präsenzarbeit kennen und weil sie die Netzwerke und kollegialen Beziehungen, auf die sie sich bislang stützten, auch im virtuellen Raum pflegen und nutzen. Schwieriger wird es bei Berufsanfängern, die in dieser Phase ins Nirwana hineinlaufen, weil es sehr schwer ist, im Homeoffice einen Einstieg in bestehende Arbeitsstrukturen zu finden. Ein Mehr an digitaler Kommunikation funktioniert, aber ausschließlich virtuelle Beziehungen reichen nicht.
Frage: Weil dann das Zufällige und Spontane fehlt, das überwiegend in direkten Kontakten entsteht?
Mau: Ja, denn durch das Unkalkulierbare und Erratische in einer persönlichen Begegnung entsteht soziale Wärme, die eine wichtige Funktion für die soziale Integration erfüllt. Da haben wir doch alle in der Pandemie einen großen Mangel verspürt. Nur geplante Interaktion, nur Meetings am Bildschirm – das ist zu wenig, um sozialen Zusammenhalt zu organisieren.
Frage: Hat Corona die materielle Spaltung der Gesellschaft weiter verschärft?
Mau: Da sind die Befunde nicht ganz einheitlich. Auch Selbständige, von denen nicht alle, aber doch einige zu den Gutverdienern gehören, haben starke Einbußen erlitten, während es für mittlere und untere Einkommen eine Kompensation etwa über das Kurzarbeitergeld gab. Doch schon die Risiken, an Corona zu erkranken, waren ungleich verteilt. Empirische Daten haben den Zusammenhang zwischen problematischer Wohnsituation und erhöhtem Infektionsrisiko deutlich gemacht. Und natürlich ist es nicht für alle Menschen möglich, Homeoffice und Homeschooling zu bewältigen, je nach Wohnsituation. Die Spaltung der Gesellschaft zeigte sich in der Pandemie also weniger bei den Einkommen als an den Lebensbedingungen, die allerdings stark vom materiellen Status abhängen.
Frage: Autoritäre, Querdenker und Verschwörungstheoretiker haben einen anderen Blick auf das Gemeinwesen als die Mehrheit der Bevölkerung. Lässt sich der Graben, der hier offenkundig wurde, überhaupt noch überwinden?
Mau: Irritierend ist, dass zu diesem Milieu auch Leute gehören, die vom Bildungsgrad und ihrer Berufstätigkeit her eigentlich zur Mitte der Gesellschaft gehören wie Apotheker, Lehrer oder Handwerksmeister und nicht nur abgehängte oder randständige Personen. Das ist zwar nach wie vor nur eine kleine Gruppe, aber sie verfestigt sich und driftet weg. Deshalb wird es schwer sein, sie zu reintegrieren in einen Post-Corona-Dialog. Das ist keine Opposition im System, sondern eine Opposition gegen das System.
Frage: Was tun – weitestgehende Toleranz oder Druck bis hin zur Impfpflicht?
Mau: Zwang führt zur weiteren Verhärtung der Fronten. Die Leute reagieren allergisch auf Bevormundung und Besserwisserei. Ich plädiere für liberale Gelassenheit und rhetorische Abrüstung, anders gewinnt man die Schwankenden oder Unentschiedenen aus dieser Gruppe nicht zurück. Eine Dämonisierung der Querdenker führt zu nichts.
Frage: Sie haben schon vor Jahren auf schwindende Aufstiegschancen für nachwachsende Generationen hingewiesen, auf den Verlust der gesellschaftlichen Mitte. Wer schafft es noch nach oben – nur die Kinder von Top-Managern und die Erben der Superreichen?
Mau: Im Vergleich zu Großbritannien oder Frankreich ist Deutschland weniger eine Gesellschaft dominanter Eliten, sondern traditionell geprägt durch Aufstiege aus der Mittelschicht. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gab es eine Umschichtung von unten in die Mitte, eine Aufstiegsmobilität vor allem durch Bildung. Von diesem Fahrstuhleffekt nach oben sehen wir heute kaum noch etwas. Es gibt allenfalls eine Art Austauschmobilität: Das Gesamtgebilde ist stabil, aber wenn Leute aufsteigen, steigen andere ab. Die Mittelschicht ist anfälliger für Statusverlust.
Frage: Die Mitte zerbröselt?
Mau: Die untere Mittelschicht hat reale Probleme, sich dort zu halten, die mittlere Mittelschicht schaut auf die Superreichen, muss aber erkennen, dass sie zum Beispiel auf dem Wohnungsmarkt nicht konkurrenzfähig ist. Da geht die Schere zwischen vermögenden Immobilienbesitzern und Mietern, die ihre Existenz durch Erwerbseinkommen sichern müssen, immer weiter auseinander. Das ist für die Mittelschicht zunehmend ein Stressfaktor. Die Wohnungsfrage ist die neue soziale Frage.
Frage: Ungerechte Verteilung von Vermögen, Lasten durch Klimawandel und Flüchtlingsströme, ungewisse Rentenentwicklung – ist das nicht Futter für einen tiefgreifenden Generationenkonflikt?
Mau: Zum Teil ist dieser Konflikt ja auch schon sichtbar, bei „Fridays for Future“ etwa. Gleichzeitig sehen wir in Umfragen, dass die Einstellung zur Klimafrage zwischen den Altersgruppen gar nicht so weit auseinanderklafft. Die Frage ist, ob die Älteren willens sind, ihre Lebensweise so zu verändern und bestimmte Besitzstände aufzugeben, um die Chancen der Jüngeren zu verbessern, besonders die Chancen ihrer Kinder und Enkelkinder.
Frage: Wie denn?
Mau: Sicher nicht durch eine Befriedung sozialer Konflikte durch traditionelle sozialpolitische Umverteilung. Wir müssen den Blick um eine sozialökologische Perspektive erweitern, also darüber diskutieren, wer die Kosten des klimagerechten Umbaus tragen soll. Kann man industriellen Zweigen Belastungen zumuten, ohne damit deren Wettbewerbsfähigkeit zu beschädigen? Das sind ungelöste Probleme, die jetzt auf den Tisch müssen.
Frage: Entwickelte sich nicht jüngst in der Hochwasserkatastrophe ein Maß an freiwilliger Nachbarschaftshilfe und Solidarität, das nicht auf einen Mangel an Gemeinsinn schließen ließ?
Mau: Immer nur von Polarisierung und tiefen Gräben zu sprechen erscheint mir in der Tat zu undifferenziert. Unsere Gesellschaft ist nicht total fragmentiert. Es gibt immer noch spontane Formen von Solidarität in einer Notlage, unsere staatlichen Institutionen sind bei aller Kritik an einzelnen Behörden stark genug, um Krisen zu bewältigen. In der Pandemie und der Hochwasserkatastrophe ist allerdings ein neues Staatsverständnis deutlich geworden. Viele Leute, die lange dem Neoliberalismus und der Forderung nach dem schlanken Staat hinterhergelaufen sind, sehen ein, dass wir einen handlungs- und leistungsfähigen Staat brauchen, eine belastbare Infrastruktur im Gesundheitswesen, im öffentlichen Verkehr, in der Bildung. Ein Staat, der kaputt gespart wird, kann in diese lebenswichtigen Sektoren nicht investieren.
Frage: 2019 erschien Ihre viel beachtete Untersuchung über die ostdeutsche Transformationsgesellschaft. Was hat sich seither im Leben der Menschen in den neuen Ländern verändert?
Mau: Ich nenne eine Aussage von Angela Merkel, die vielen Ostdeutschen aufgefallen ist. Die Bundeskanzlerin erklärte die Corona-Krise zur historisch größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Da haben viele Ostdeutsche den Kopf geschüttelt und gesagt: Bei uns sind zur Wende drei Viertel der Industriearbeitsplätze innerhalb von zwei Jahren weggefallen,das war eine ganz andere Dimension. Vielleicht haben die Ostdeutschen deshalb überwiegend sehr gelassen auf die Pandemie reagiert und damit ihre „Krisenkompetenz“ unter Beweis gestellt. Womöglich war die gemeinsame Krisenerfahrung durch Corona für Ost und West ein ereinigungskatalysator.
Frage: Also sind wir über 30 Jahre nach der Einheit doch auf bestem Wege, ein Volk zu sein und nicht immer noch „Wessis“ und „Ossis“?
Mau: Ja, so eine Krise schweißt zusammen und überlagert das Trennende. Die Deutschen erkennen sich in den Problemen der jeweils anderen wieder.
Frage: Wie werden sich denn die verbliebenen Unterschiede, die für Sie ihren strukturellen Ursprung in der DDR haben, auf die Bundestagswahl im September auswirken?
Mau: Sicher auf das Abschneiden der AfD, die im Osten anders geprägt ist als im Westen. Im Osten stellt die AfD auf sozialpolitische Fragen ab und schlägt einen stärker nationalistischen Ton an, im Westen ist sie eher marktliberal. Dieser Unterschied wird auf das Wahlergebnis der AfD im Osten und im Westen Einfluss haben.
Frage: Und wie stark wird die Differenz bei der Wahlbeteiligung sein?
Mau: In den ostdeutschen Ländern ist die Wahlbeteiligung seit jeher niedriger, auf allen Ebenen. Das wird sich fortsetzen. Diese Mentalität ist nicht Ausdruck einer fundamentalen Systemkritik, sondern eher Indifferenz gegenüber der Politik…
Frage: Auch Enttäuschung?
Mau: Ein distanziertes, abwartendes, auch enttäuschtes Verhältnis zur Politik, das zurückgeht auf eine frühere Euphorie und die Erwartung, dass Politik alles kann. Dieser Eindruck wurde damals ja auch vermittelt. Heute sehen die Menschen, dass das ein Trugschluss war. Hinzu kommt, dass die Parteien im Osten weniger verwurzelt sind als im Westen. Das macht die Wählerschaft volatiler, beweglicher, und führt dazu, dass in Thüringen ein Linker regiert, in Brandenburg ein Sozialdemokrat und in Sachsen ein CDU-Mann. Parteibindungen sind noch schwächer als im Westen, gewählt wird weniger eine Partei als eine Person.
zum Interviewpartner: Professor Steffen Mau (Jahrgang 1968), Makrosoziologe an der Humboldt-Universität in Berlin, wuchs in Rostock auf. In diesem Jahr wurde Mau mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet, dem wichtigsten Forschungsförderpreis in Deutschland. 2019 erschien bei Suhrkamp sein viel beachtetes Buch „Lütten Klein“ über die „ostdeutsche Transformationsgesellschaft. Soeben erschienen:“Sortiermaschinen: Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert.“ (Verlag C.H.Beck)
Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht am 2.9.2021 in der Südwestpresse
Steffen Mau ist einer der wenigen Sozialwissenschaftler, die sich kompetent zu Zeitfragen äußern. Danke für das Interview! Sein Buch „Lütten Klein.“ über das Leben in Ostdeutschland wurde am 23.1.21 ausführlich im Blog besprochen.