Nach einem überaus bissigen, demagogischen und wohl auch unfairen Wahlkampf, haben die mehr als 55 Millionen Wählerinnen und Wähler in der Türkei das Wort. Mit dem Referendum entscheiden sie über die Zukunft nicht nur ihres Landes, sondern auch – als Beitrittskandidat zur Europäischen Union und NATO-Mitglied – über das Gefüge in Europa und der Welt.
Recep Tayipp Erdogan strebt mit dem Verfassungsreferendum eine ungeheure Machtfülle an, die ihn nach Belieben schalten und walten lässt. Präsident und Regierungschef in einer Person, Parteivorsitzender und Fraktionschef, wenn er es wünscht, unkontrollierbar durch ein schwaches Parlament, nicht zu beherrschen durch die Justiz, auf die er massiven Einfluss gewinnt. Die Gewaltenteilung ist erheblich beeinträchtigt. Von den Wesenszügen einer Demokratie bleiben Marginalien. Vorausgesetzt, Präsident Erdogan bekommt für seinen unverschämten Plan eine Mehrheit.
Zweifel daran halten sich bis zum Tag der Entscheidung. Das ist umso überraschender, weil Kräfte der türkischen Opposition seit langem behindert, verfolgt und eingesperrt werden und weil sie in den Medien und auf den Plätzen mit ihrer Nein-Kampagne kaum durchdringen konnten. Den Meinungsumfragen, die ein äußerst knappes Rennen vorhersagen, darf man allerdings wenig Bedeutung beimessen. Nach der jüngsten Serie von gravierenden Fehlprognosen zu Wahlen und Volksabstimmungen ist Skepsis angebracht, ob die Demoskopen mit ihren Instrumenten nicht längst an ihre Grenzen stoßen.
Untrüglicheres Zeichen für die Stimmung im Land und für die Hoffnung, dass eine Mehrheit der Wahlbevölkerung ihren Präsidenten doch noch in die demokratischen Schranken weist, ist vielmehr Erdogans Nervosität. Er hetzt und provoziert, um die im Ausland Wahlberechtigten an die Urnen zu bringen, er riskiert mit Nazi-Vergleichen und Faschismus-Vorwürfen schwere Verwerfungen im deutsch-türkischen Verhältnis, er inszeniert sich als starker Mann, der dem Westen die Stirn bietet und die Nation in neuem Stolz aufrichtet. Gigantische Bauprojekte und günstige Wirtschaftsdaten überlagern Vorwürfe der Korruption, Bereicherung und Günstlingswirtschaft. Dass es knapp werden könnte, hatte er nach seinem Durchmarsch im Januar im Parlament nicht erwartet.
Aus der Türkei berichten deutsche Touristen in diesen Tagen, dass Angst und Schrecken viele Menschen verstummen lassen. Im Gespräch über das Referendum seien sie vorsichtig, wie bespitzelt, selbst im kleinen Kreis zurückhaltend mit persönlichen Äußerungen. Glühende Verehrer von Atatürk, dem all die Jahre hoch verehrten Gründer der modernen Türkei, seien seltener anzutreffen als in früheren Jahren, Schweigen laste auf den Begegnungen. Welche Haltung sich dahinter verbirgt, wieviel Mut und Kampfgeist die Demokraten aufbringen werden, lässt sich nicht einschätzen. Die Hoffnung auf ein Nein hat jedenfalls viel von Zweckoptimismus. Erdogan werde die Schmach einer Niederlage mit allen – notfalls auch betrügerischen – Mitteln abwenden, sagen die Pessimisten. Wahlbeobachter aus dem Europarat sind zur Stelle, um die Abläufe in den Wahllokalen zu überwachen. Was davor und dahinter geschieht, sehen sie freilich nicht.
Bildquelle: kremlin.ru, gemeinfrei