Als Journalist auf Egon Bahr(gestorben 2015) zu treffen, mit ihm ein Interview zu machen, war ein Genuß. Er war ja Kollege und wusste genau um die Wünsche und Bedürfnisse der Journalisten. Und er formulierte auf den Punkt. Die Authorisierung des Gesprächs war am Ende fast immer reine Formsache. Der körperlich eher kleine Mann war ein Großer in der Politik, wirklich ein enger, d e r Berater von Willy Brandt, der ihn auf dem Sterbebett einen Freund genannt hatte. Bahr war der Erfinder der Formel „Wandel durch Annäherung“, bei einer Tagung der Evangelischen Akademie in Tutzing geäußert und zuvor mit Willy Brandt erdacht. Aber die graue Eminenz, wie man ihn gern nannte, war auch umstritten, manche seiner Forderungen damals zur deutschen Lage oder die Distanz zur polnischen Soliarnosc und die Nähe zu den kommunistischen Regierungen in Moskau, Warschau, Prag wie Ostberlin brachten ihm manche Proteste aus den eigenen, den sozialdemokratischen Reihen ein. Heute, am 18. März 1922, also vor 100 Jahren, wurde der Architekt der erfolgreichen deutschen Ostpolitik im thüringischen Treffurt geboren.
Beginnen wir mit dem Lob von Willy Brandt auf seinen engsten Weggefährten, das eigentlich alles sagt, niedergeschrieben in den „Erinnerungen“ Brandts. „Egon Bahr war…der konzeptionell fähigste meiner Mitarbeiter in Berlin und im Übergang von Berlin nach Bonn. Er war ein angesehener Rundfunkjournalist(er kommentierte für den RIAS, die Stimme der Freiheit)….Der Moskauer Vertrag vom Juni 1970 und die anschließenden Verträge mit der DDR wurden im wesentlichen von ihm ausgehandelt. Er ist als deutscher Patriot mit Sinn für internationale Verantwortung einen weiten Weg gegangen, und wir haben uns dabei nie aus den Augen verloren. Wenn und wo gesamteuropäische Zusammenarbeit vorkommt und gesamteuropäische Sicherheit gestaltet wird, ist sein gedanklicher Beitrag unverkennbar. Vieles von dem, was ich ab 1960 und über 1980 hinaus geleistet und versucht habe, wäre ohne solche Zusammenarbeit nicht möglich gewesen. Es ist selten, dass Freundschaft die Belastungen des politischen Geschäfts über so viele Jahre hinweg überdauert.“ Mehr geht kaum.
Zum 100. Geburtstag würdigt ihn die Friedrich-Ebert-Stiftung mit einem Symposium, stellt seinen Einsatz für Völkerverständigung heraus, für die Sicherung des Friedens in Europa und die Überwindung der deutschen Teilung. Wandel durch Annäherung, ein Grundstein für die damals neue Ostpolitik, die die Außenpolitik der Regierung Brandt/Scheel nach 1969 prägte. Die schrittweise Annäherung der europäischen Systemkonkurrenten westlich und östlich des Eisernen Vorhangs, das war Bahrs Ansatz. Deshalb zog er (ähnlich wie Hans-Jochen Vogel) Verhandlungen mit den Regierenden(Kommunisten) im Osten vor und mied oft genug Kontakte und Gespräche mit den Oppositonellen, die später, nach dem Fall der Mauer und dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs, die Regierenden wurden. Bahr hat das später als Fehler bezeichnet, damals gehörte es zu seiner Politik der kleinen Schritte, um Verbesserungen für die Menschen jenseits von Mauer und Stacheldraht zu erzielen. Seiner wohl schärfsten Kritikerin, Brandts letzte Frau Brigitte Seebacher-Brandt, die seine politische Strategie schmähte, hielt Bahr in einem Spiegel-Gespräch entgegen: „Kollaboration ist verächtlich, Kooperation war und ist nötig.“
Wegen Einschleichens in die Wehrmacht
Nach der Wende habe ich ihn mal nach Treffurt begleitet, seinem Geburtsort. Da kamen ihm dann natürlich viele Dinge aus jenen Jahren hoch, als er dort Abitur machte und eine Ausbildung als Industriekaufmann. Der junge Egon Bahr wurde 1942 eingezogen und zwei Jahre später „wegen Einschleichens in die Wehrmacht“ entlassen. Er hatte vergessen, in seinem Lebenslauf darauf hinzuweisen, dass seine Großmutter Jüdin war, er also Halbjude. Die Nazis steckten Bahr in die Rüstungsindustrie von Rheinmetall/Borsig in Berlin. Vielleicht sein Glück. Nach dem Krieg wird er Chefkommentator beim RIAS(Rundfunk im amerikanischen Sektor, von den Amis gegründet als Gegenpol zum sowjetischen Propaganda-Apparat). 1956 tritt er der SPD bei und lernt Willy Brandt kennen. Er wird Leiter des Presseamtes von Berlin, also Sprecher des Regierenden Bürgermeisters der geteilten Stadt, Willy Brandt. Bahr und Brandt, das wird eine „politische Lebensgemeinschaft, in der Bahr denkt und Brandt lenkt“, wie es Hermann Schreiber in seiner unnachahmlichen Art im „Spiegel“ beschrieb. Später rückt er zum Leiter des Planungsstabs im Auswärtigen Amt auf unter dem Außenminister Willy Brandt, um dem Kanzler als Staatssekretär zu folgen, damit er als Unterhändler für die Verhandlungen mit Moskau, Ostberlin, Warschau und Prag die Dinge vorbereiten konnte. Sein Ziel war stets, Spannungen abzubauen zwischen West und Ost und Vertrauen zu schaffen. Menschliche Erleichterungen standen bei Bahr und Brandt obenan. Das war nicht leicht damals, deshalb die schon erwähnte Politik der kleinen Schritte. Bahr wird Bundesminister für besondere Aufgaben.
Ich habe das Bild noch vor Augen, als Brandt wegen der Guillaume-Spíonageaffäre 1974 als Kanzler zurücktrat und das letzte Mal in dieser Funktion vor der Fraktion der SPD auftrat. Den befremdeten Blick von Bahr Richtung Wehner wird man nie vergessen, als dieser die bereitliegenden Blumen dem scheidenden Kanzler überreicht und diesen zu würdigen versucht. Derselbe Wehner, der zuvor in Moskau über seinen Kanzler hergezogen hatte, der Herr bade gern lau. Bahr konnte die Tränen nicht mehr unterdrücken.
Ein paar Jahre später habe ich Bahr erlebt als SPD-Bundesgeschäftsführer am Ende des Juso-Bundeskongresses in Hamburg. Die Jusos hatten den in der SPD umstrittenen Klaus-Uwe Benneter zu ihrem Vorsitzenden gewählt. Egon Bahr trat ans Podium und verkündete in ruhiger, aber glasklarer Sprache: „Wir werden Probleme bekommen.“ Zwei Tage später warf die SPD Benneter aus der Partei. Sein angeblicher Stamokap-Kurs war der Mutterpartei ein Dorn im Auge. Richtig daran war, dass Bahr und die übrige SPD-Spitze sich scharf gegen die Partei-Linke aussprachen, Kontakte mit Kommunisten egal auf welcher Ebene waren nicht erlaubt. Dabei spielte die DKP in der Bundesrepublik nie eine Rolle. Egal. Jahre später wurde Benneter von Gerhard Schröder wieder in die SPD aufgenommen, ja sogar zum Schatzmeister erhoben. Heute ist der Ex-Kanzler Schröder selber ein Buh-Mann in der Partei wegen seiner engen Kontakte zum russischen Präsidenten Putin, dem Kriegstreiber gegen die Ukraine, und wegen seiner Geschäfte mit staatseigenen russischen Gas-Unternehmen wie Gazprom und Rosneft.
Egon Bahr verbinde ich auch mit dem Wahlsieg von Willy Brandt 1972 nach dem Misstrauensvotum der Union mit ihrem Vorsitzenden Rainer Barzel, ich verbinde ihn mit der Willy-Kampagne in jenem Jahr, damit, dass die Ostpolitik durchgesetzt wurde und nicht an der Hetze der Union gescheitert war. Denn das war das Ziel der Christdemokraten. Die Entspannungspolitik als Wahlkampf-Schlager, so war das in den 70er Jahren, der politische Gegner versuchte es mit den Vorwürfen gegen Bahr und Brandt, sie seien Vaterlandsverräter. Die Adenauer-CDU hatte ja schon in den 60er Jahren eine Diffamierungs-Kampagne gegen Brandt gestartet, man denke an das Flugblatt: Willy Brandt alias Herbert Frahm, das war der widerliche Versuch, aus der Tatsache des unehelichen Willy Brandt Kapital zu schlagen. Egon Bahr bekam das aus nächster Nähe mit.
Ohne Frieden ist alles nichts
Er war ein kluger Sicherheitspolitiker, einer, dem die Politik der Entspannung und der Versöhnung am Herzen lag, gleichwohl betonte er gelegentlich: Wir sind keine Träumer. Vor dem Hintergrund des Russland-Krieges gegen die Ukraine wirkt der Satz von Bahr fast hellseherisch: „Die Furien des Krieges schlafen, aber sie sind nicht tot“. Wenige Monate vor seinem Tod traf er noch einmal mit Michail Gorbatschow zusammen, um die deutsch-russische Zusammenarbeit zu beschwören, nicht ahnend, dass Jahre später Putin einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führen werde. Egon Bahrs Antrieb war ähnlich dem seines großen Meisters und Freundes Willy Brandt: „Der Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nicht.“
Übrigens liegt Egon Bahrs Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte(das ist neben dem früheren Wohnhaus von Bert Brecht). Gleich gegenüber der Grabesstätte von Johannes Rau. Versöhnen statt spalten. Das Motto galt für beide Sozialdemokraten.
Vielleicht sollte man noch erwähnen, dass Egon Bahr schon frühzeitig vor einer Ost-Ausdehnung der NATO gewarnt hat.