Kickl, Trump & Co. ante portas, die AfD zusehends radikaler, die Union mit einem Sanierungskonzept, bei dem die kleinen Leute die Zeche zahlen – es war ein düsteres Szenario, das Olaf Scholz auf dem SPD-Parteitag an die Wand malte, um sich selbst als Garant für Berechenbarkeit in unsicheren Zeiten zur Wiederwahl zu empfehlen. Wie einst seine Vorgängering Angela Merkel: “Sie kennen mich.“ Ein Bundeskanzler, der für eine gescheiterte Koalition haftbar gemacht wird, aber immerhin kein Selbstdarsteller oder gar Hasardeur ist, als kleineres Übel bei der Richtungsentscheidung am 23. Februar – reicht das im Angesicht von Investitionsstau, Reformbedarf, Wirtschaftsflaute und Kriegsgefahr?
Nicht bloß Peer Steinbrück, der seine eigenen Erfahrungen als SPD-Spitzenkandidat gemacht hat, sieht schwarz für die Erfolgschancen der Genossen. Wie soll die Partei auch in den verbleibenden 42 Tagen noch aus dem Tief kommen, 15 Prozentpunkte hinter der Union, mit deutlichem Abstand zur AfD? Da wirkt der Hinweis auf frühere Wahlen eher wie Autosuggestion nach dem Motto: Wir haben schon mehrfach scheinbar aussichtslose Rennen auf den letzten Metern für uns entschieden, zuletzt 2021. Doch die Hoffnung auf einen Laschet-Moment wie damals oder den notorisch lahmen Endspurt der Union mag gut für die Motivation der SPD-Wahlkämpfer sein, als Momentum im Wettbewerb um die Macht in Berlin ist das ein bisschen wenig.
Olaf Scholz hat dem Treiben der „Ampel“ einfach zu lange tatenlos zugeschaut. Insofern ist er seiner Führungsrolle nicht gerecht geworden. Allerdings trifft die Schuld am Zerbrechen der Koalition nicht den Kanzler allein. SPD, Grüne und FDP haben Differenzen in einzelnen Sachfragen – Schulden, Steuern, Migration, Klima – wichtiger genommen als das gemeinsame Einstehen für Demokratie, Rechtsstaat und Gemeinwohl. Das hat die Ränder stark gemacht, Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der etablierten Parteien ebenso ausgehöhlt wie den Glauben an die ausgleichende Kraft der demokratischen Institutionen. Nun ist der Schaden groß, und die Lage ist „verdammt ernst“, wie Scholz selbst einräumt.
Der Aufwind, den die Rechtspopulisten nicht nur in Deutschland verspüren, kam nicht über Nacht und darf nicht etwa als unverdientes Schicksal empfunden werden. Die herrschende Politik trägt dafür viel Verantwortung. Sie hat über Jahrzehnte durch schuldhaftes Verhalten oder pflichtvergessenes Versäumen entscheidende Voraussetzungen dafür geschaffen, dass extreme Positionen unterdessen bis in die Mitte der Gesellschaft nicht nur als andere Meinung akzeptiert werden, sondern als denkbare Optionen im öffentlichen Diskurs. Plötzlich glaubt AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel an die Mehrheitsfähigkeit so abstruser Ideen wie den Abriss aller Windräder in Deutschland oder die millionenfache „Remigration“ von Zuwanderern. Wenn das kein Alarmsignal ist!
Vor diesem bedrückenden Hintergrund sieht sich Olaf Scholz gegenüber dem bisherigen Oppositionsführer Friedrich Merz im Vorteil, und die SPD setzt daher auf die Erfahrung, Besonnenheit und Verlässlichkeit ihrer Nr.1 in diesem Winterwahlkampf. Tatsächlich erhöhen sich die Erfolgsaussichten des Kanzlers im direkten Vergleich zum CDU-Vorsitzenden. Der Sauerländer trägt ein doppeltes Manko mit sich herum: Er ist in Teilen der Bevölkerung, besonders bei Frauen, höchst unbeliebt, zudem muss er stets auf der Hut sein vor den Sticheleien des CSU-Egomanen Markus Söder, den seine Grünen-Phobie stärker antreibt als seine behauptete Solidarität mit Merz. Kein Wunder, dass die Umfragewerte für die Union aktuell zurückgehen.
Für die SPD und ihren vermeintlichen Minus-Mann Scholz könnte dieser Trend ein Mutmacher sein, mehr nicht. Der Abstand zur Union ist einfach zu groß, um ihn in sechs Wochen noch zu egalisieren. Selbst das Minimalziel, vor Grünen und AfD zu liegen, erscheint ambitioniert. Das aber wäre die Bedingung dafür, in einer künftigen Bundesregierung über die triste Rolle des geduldeten Juniorpartners hinaus Wirkung zu entfalten – als Korrektiv einer ausufernden Marktliberalisierung und riskanter Sozialabbauphantasien im Lager von CDU und CSU. Und als Teil jener Brandmauer, die zu erhalten nicht bloß im Interesse der SPD liegt, sondern aller Parteien, denen Freiheit und Toleranz, Humanität und Gerechtigkeit etwas bedeuten.
Bildquelle: flickr, SPD Schleswig-Holstein, CC BY 2.0