„Die Menschen sind müde“, beschreibt der deutsche Botschafter in Kiew, Martin Jäger die Stimmungslage der Ukrainer, die immer wieder geschockt würden von der Brutalität der russischen Kriegsführung wie vor wenigen Tagen, als die größte Kinderklinik in der ukrainischen Hauptstadt beschossen wurde. Niemand könne irgendwo im Lande sicher sein, die Verzweiflung der Menschen sei groß, aber beeindruckend sei auch die schnelle Hilfe vor Ort, Menschen, die mit bloßen Händen Trümmer wegräumten, während andere Wasser und Lebensmittel gebracht hätten. Jäger beschreibt im Interview mit dem Bonner Generalanzeiger die ganze Unmenschlichkeit dieses Krieges, in dem Russen systematisch versuchten, die Infrastruktur des Landes zu zerstören, um die Menschen zu zermürben, die aber nicht klein beigäben, sondern sich wehrten mit allem, was sie hätten. 900 Tage Krieg machten müde, erschöpft, aber keiner möchte aufgeben. Es gebe einen Spruch, den jedes Kind kenne: „Wenn Putin aufgibt, ist der Krieg zu Ende. Wenn wir aufgeben, sind wir tot.“
Solche Berichte aus dem Land, das um Leben und Tod kämpft, sind erschütternd. Und damit keine Missverständnisse aufkommen, sei der Kriegstreiber noch einmal erwähnt: Es ist Wladimir Putin, Russlands Präsident, Diktator, Alleinherrscher, wie Sie wollen. Der Angriff Russlands auf die Ukraine, die Tötung von Zivilisten, die Zerstörung von zivilen Häusern, Krankenhäusern, all das sind Verbrechen, die durch nichts zu rechtfertigen sind. Und doch darf man, muss man darauf hinweisen, dass auch dieser Krieg eine Vorgeschichte hat. Sie reicht zurück in die 90er Jahre, als die Sowjetunion zerbrach und es im Westen Stimmen gab, die für eine neue Sicherheitsstruktur warben, in die Russland einbezogen werden sollte. So ähnlich äußerte sich im Mai 1990 der damalige NATO-Generalsekretär Manfred Wörner(CDU): „Wenn sie die aktuelle Zwickmühle der Sowjetunion berücksichtigen, die praktisch keine Verbündeten mehr hat, dann können sie ihren begründeten Wünsch verstehen, nicht aus Europa hinausgedrängt zu werden.“ Wörner betonte, die einzige Antwort auf die Erosion des Warschauer Paktes „ist die Erschaffung eines Sicherheitsrahmens, der beide Allianzen umfasst: in anderen Worten, ein Rahmen, der die Sowjetunion in ein kooperatives Europa einbezieht.“ Und es lohnt sich, den Zitaten Wörners(zitiert nach Telepolis) noch einen weiteren Satz hinzuzufügen: „Gerade die Tatsache, dass wir bereit sind, NATO-Truppen nicht jenseits des Gebiets der Bundesrepublik Deutschland zu stationieren, gibt der Sowjetunion verbindliche Sicherheitsgarantien.“ Und später sagte er noch, „wir sollten die Isolation der UdSSR von der Europäischen Gemeinschaft nicht zulassen.“
Mc Namara und George F. Kennan
Das war der Geist, der damals nach dem Fall der Mauer die Gespräche zwischen Ost und West beherrschte. Michail Gorbatschow ließ, ohne dass ein Schuss fiel, die Wiedervereinigung Deutschlands zu. Und natürlich sind Bemerkungen westlicher Politiker gefallen wie: „Keinen Inch weiter nach Osten.“ Nein, dazu steht nichts in Verträgen. Richtig ist auch, dass Boris Jelzin, Russlands neuer Präsident, in Warschau über das freie Selbstbestimmungsrecht der Völker geredet hat, aber wenig später gegen die Osterweiterung der NATO plädierte. Einflussreiche Persönlichkeiten in den USA wie Robert Mc Namara, Verteidigungsminister unter John. F. Kennedy und im Vietnam-Krieg, warnten vor Plänen der NATO-Osterweiterung. So schrieben mehr als 40 Persönlichkeiten einen Brief an Bill Clinton, in dem eine mögliche NATO-Osterweiterung als „Fehler von historischem Ausmaß“ bezeichnet wurde. Der US-Historiker und Diplomat George F. Kennan nannte in einem Beitrag für die NEW YORK TIMES es als „verhängnisvollsten Fehler amerikanischer Politik in der Zeit nach dem Kalten Krieg , die NATO bis zu den Grenzen Russlands auszuweiten. Diese Entscheidung lässt befürchten, dass nationalistische, antiwestliche und militaristische Tendenzen in Russland entfacht werden könnten. Sie könnte einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Demokratie in Russland haben, wieder zu einer Atmosphäre wie im Kalten Krieg führen und die russische Außenpolitik in eine Richtung lenken, die uns sehr missfallen wird.“ Man könnte Egon Bahr anführen, der mehrfach betont hat: „Es gibt keine Stabilität in und für Europa ohne die Beteiligung Russlands.“ Eine weitere NATO-Osterweitung, so warnte der einstige engste Berater von Willy Brandt, werde dazu führen, „dass wir mindestens für zehn Jahre eine Gegnerschaft zu Russland aufbauen. Ich halte das wirklich für einen riesigen Fehler.“
Es war im Grunde, so Experten des Westens, vorhersehbar, wie Putin reagieren würde, was nicht heißt, dass man dem russischen Präsidenten die Wahl der Mittel, also Krieg gegen die Ukraine, tolerieren würde. Der eine oder andere erinnert an die Kuba-Krise Anfang der 60er Jahre, als die Sowjetunion auf der Insel, die 90 Meilen vor der Küste Amerikas liegt, Raketen stationierte und John F. Kennedy mit Krieg drohte, falls KP-Chef Chrustschow die Waffen nicht wieder abziehen werde. Damals stand die Welt kurz vor dem 3. Weltkrieg. Wieder andere fragen, was denn die USA machen würden, wenn China eine Militärallianz mit Kanada oder Mexiko anfangen würde. Washington würde not amused sein, das nicht tolerieren und alles tun, damit das nicht passieren werde. Und noch einmal sei betont, so Jack Matlock, ehemaliger US-Botschafter in Moskau, zur Krise 2014, als Putin die Krim besetzen ließ, „dass man nicht entschuldigt, was er tut. Und ich billige es auch nicht. Aber ich sage, es war vorhersehbar.“
Es ist schnell daher gesagt, wenn einer wie Jens Spahn, immerhin Ex-Bundesminister und führendes Mitglied der CDU, , aus Anlass des 70. Geburtstages von Angela Merkel betont: „Mit Putins Russland hätten wir spätestens ab 2014-also der Krim-Annexion durch Russland- ganz anders verfahren müssen“. Das klingt schneidig, ist Kritik an der Politik der langjährigen CDU-Kanzlerin, die nicht mit Putin brach, die Friedens-Dividende war für alle, die Wirtschaft eingeschlossen, zu verlockend. Von Spahn ist nicht bekannt, dass er in der erwähnten Zeit aufgemuckt habe gegen Merkels Russland-Politik. Anders verfahren gegen Russland, das immer noch eine Weltmacht ist, eine Atommacht. Der frühere Gesundheitsminister hätte besser geschwiegen.
Mützenichs Bedenken
Jetzt sollen Raketen in Deutschland aufgestellt werden als Antwort auf die Stationierung russischer Raketen im Gebiet von Kaliningrad, Waffen, die im Ernstfall deutsche Städte erreichen könnten. So haben es kürzlich Bundeskanzler Olaf Scholz und US-Präsident Biden verkündet, wobei die Tatsache selbst schon länger zurückliegen soll. Kritiker sehen die angebliche Vereinbarung zwischen Washington und Berlin eher als Maßnahme der Amerikaner an, die man den Deutschen, also Scholz, diktiert habe. Wie auch immer, es gibt Kritik an den Plänen, die niemanden begeistern können. Rückt Deutschland doch erneut- wie damals beim NATO-Doppelbeschluss- ins Zentrum und damit zum Ziel langgestreckter Raketen, Deutschland könnte das Schlachtfeld werden. Dass einer wie SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich eher zurückhaltend auf solche Vereinbarungen reagiert, ist mehr als verständlich. Zu einer Politik der Stärke und der Abschreckung gehört nun mal auch ein Angebot der Politik, zählen Diplomatie, Gespräche, Verhandlungen darüber, wie man zu einer Politik der Entspannung zurückfinden kann. Reine Muskelspiele gehören in den Boxring.
Wir müssen nicht nur wieder kriegstüchtig werden, wie das Verteidigungsminister Pistorius gefordert hat, wir müssen wieder gesprächsfähig werden, mit Putin reden. Mit wem sonst? Er ist der Präsident. Der frühere US-Außenminister und Berater vieler US-Präsidenten, Henry Kissinger, warnte kurz vor seinem Tod den Westen, Putin nicht zu dämonisieren. Man darf daran erinnern, dass der Besetzung der Krim wie dem Überfall auf die Ukraine die oben erwähnte Vorgeschichte vorausgegangen war. Putin fühlt sich nicht ernst genommen, Moskau wollte mit Amerika stets auf Augenhöhe reden, stets mit Respekt bedacht werden. Wer erinnert sich noch an die Worte, die Gorbatschow einst auf eine Frage von Willy Brandt, was sein größter Wunsch sei, gewählt hatte: „Mehr Verständnis für Russland.“ So Gorbatschow.
Vor einigen Tagen äußerte sich der frühere Botschaft und Staatsrat a. D, Volker Schlegel, in einem Leserbrief im Bonner Generalanzeiger. „Die besondere geschichtliche und emotionale Verbindung zwischen Russland und der Ukraine als auch die Rolle Russlands in der Weltpolitik werden meines Erachtens zu wenig berücksichtigt“. So der einstige Botschafter, dessen mahnende Worte aber bitte nicht dazu führen mögen, ihn deshalb als Putin-Versteher zu verspotten. Schlegel betont in dem Leserbrief zugleich, „dass der Angriff Russlands auf die Ukraine, die Tötung der Zivilisten, die Zerstörung von Häusern und Krankenhäusern ein Verbrechen waren, das durch nichts zu rechtfertigen ist“.
Brücke zwischen West und Ost
Aber wenn man nach einem Ausweg aus diesem Krieg sucht, müssen nun mal Gesichtspunkte angeführt werden. Volker Schlegel erinnert daran, dass schon zu Beginn des Prozesses zur Unabhängigkeit der Ukraine erfahrene Politikwissenschaftler und andere Experten die These vertreten hätten, „dass die Ukraine keinem Block angehören solle, sondern- zumindest zunächst-ihre wichtigste Funktion sein müsse, eine Brücke zwischen West und Ost zu bilden, um das gegenseitige Verständnis der unterschiedlichen Werte und die Bereitschaft zu Dialog und Kooperation zu steigern. Auch in anderen Bereichen ist die Politik des Westens nicht zu Ende gedacht“, betont der einstige Botschafter (u.a. in Mali, Senegal, Jamaika) “ Die 14 Sanktionspakete, die Milliarden-Einbußen für westliche Firmen bedeuten, haben wegen der vielen Umgehungsmöglichkeiten kaum Effekt, Russlands Kooperation mit unserem zweitwichtigsten Handelspartner China wird immer weiter gestärkt- ebenso wie die Rolle Russlands in den neuen Organisationen, die die Weltpolitik immer stärker bestimmen wie die BRICS-Staaten oder die Shanghai-Organisation“.
Man darf sich schon wundern über das forsche Auftreten der Grünen-Außenministerin Annalena Baerbock zum Thema Raketen-Stationierung. Da ist nichts übriggeblieben von der einstigen Friedenspartei und deren Sprache: „Frieden schaffen ohne Waffen“. Oder: „Keine Waffen in Kriegsgebiete.“ Ich weiß, dass man Panzer nicht mit Kerzen bezwingen kann, aber die rigorose Sprache der Ministerin irritiert einen doch sehr. Da ist mir einer ihrer Amtsvorgänger, Hans-Dietrich Genscher, schon lieber. Der langjährige FDP-Chef und Minister im Kabinett von Helmut Kohl forderte den Westen 2015, wenige Monate vor seinem Tod, in seinem letzten Interview auf: „Geht auf Putin zu und gebt ihm die Hand“. Ja, einer muss den Anfang machen. Das ist Stärke. Willy Brandt, Herr Bundeskanzler Scholz, würde sofort nach Moskau fliegen.