Wenn die Ampel-Koalition im Kampf gegen Armut glaubwürdig bleiben will, muss sie an ihrem Prestigeprojekt festhalten
Kürzlich hat die grüne Bundesfamilienministerin Lisa Paus ihren Kabinettskolleg(inn)en die Eckpunkte für ein im Koalitionsvertrag stehendes Kindergrundsicherungsgesetz vorgelegt. Demnach soll die Kindergrundsicherung (KGS) der Ampel-Koalition aus zwei Komponenten bestehen: einem Garantiebetrag für alle Kinder, der mindestens die Höhe des bisherigen Kindergeldes (derzeit 250 Euro pro Monat) erreicht, und einem Zusatzbetrag, der sich nach dem Alter des Kindes und dem Haushaltseinkommen richtet, ohne dass sich im Eckpunktepapier die geringsten Hinweise auf seine geplante Höhe fänden.
Christian Lindner, der Sozialstaat und die Kinderarmut
Darüber wird es zwischen den Regierungsparteien zweifellos noch harte Auseinandersetzungen geben, zumal Bundesfinanzminister Christian Lindner und seine FDP zuletzt Zweifel an dem ganzen Projekt säten. Lindner vertrat in einem T-online-Interview nämlich die Auffassung, dass man „den Kindern keine Schuldenberge vererben“ und „auch keine Steuern erhöhen“ dürfe: „Nicht alles, was wünschenswert ist, geht sofort. Konkret bei der Kindergrundsicherung gibt es noch gar kein Konzept.“ Tatsächlich ist das Konzept von Lindners Kabinettskollegin noch recht vage und auch fraglich, ob es ihrem Anspruch genügt, „einfach, unbürokratisch und bürgernah“ (Eckpunktepapier) zu sein, also geeignet ist, die weit verbreitete und oft verdeckte Armut von Minderjährigen zu beseitigen oder die soziale Ungleichheit innerhalb der nachwachsenden Generation wenigstens zu verringern.
Lindner sieht in der hierzulande seit vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten nach Angaben des Statistischen Bundesamtes steigenden Kinderarmut ohnehin eher ein importiertes Problem, für das er die wachsende Zahl der nach Deutschland gekommenen Flüchtlingskinder verantwortlich macht. Dabei stützt sich Lindner auf Angaben der Bundesagentur für Arbeit, wonach die Zahl der Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit, die in Grundsicherung leben, seit 2015 um rund ein Drittel von 1,5 Millionen auf etwa 1 Million gesunken ist. Das lässt aber nur bedingt Aussagen über die soziale Lage von Familien mit deutscher Staatsangehörigkeit zu, die nicht mehr im SGB-II-Bezug sind. Dies betrifft hauptsächlich alleinerziehende Mütter, Geringverdiener und sog. Erwerbsaufstocker. Dass weniger deutsche Kinder von Grundsicherung leben, ist zwar zu begrüßen. Ihre Familien kommen aber nicht schon dadurch aus der Armutsrisikozone heraus, dass ihnen kein Bürgergeld mehr zusteht, weil sie den verbesserten Kinderzuschlag, den entfristeten Unterhaltsvorschuss und/oder das erhöhte Wohngeld in Anspruch nehmen können. Vielmehr bleibt ihr Haushaltseinkommen trotz einer leichten Verbesserung der Einkommenssituation in aller Regel unter den 60 Prozent des mittleren Einkommens, die laut einer EU-Konvention als Armutsgefährdungsschwelle bezeichnet werden.
Gemessen an den Armutskriterien der Europäischen Union hat sich an der Zahl armutsgefährdeter Familien mit Kindern deutscher Staatsangehörigkeit daher wenig geändert. Außerdem ist es fragwürdig, arme Kinder nach ihrer Staatsangehörigkeit zu sortieren, wenn sie in unserem Land leben, dessen Zukunftsfähigkeit stark davon abhängt, dass nicht ein großer Teil der jungen Generation sozial benachteiligt und wegen der Herkunft seiner Eltern diskriminiert wird. Unabhängig von der Staatsangehörigkeit hat die Kinderarmut zuletzt einen historischen Höchststand erreicht. Diese Tatsache durch den Hinweis zu relativieren, dass deutsche Familien weniger Transferleistungen beziehen, ist selbst eines FDP-Vorsitzenden unwürdig. Zwar besucht Christian Lindner besucht zwar medienwirksame Charity-Veranstaltungen zur Kinderarmut, deren Bekämpfung durch die Ampel-Koalition ist ihm aber kein politisches Herzensanliegen.
Zu leicht macht es sich Lindner, wenn er sagt: „Nehmen wir das Beispiel einer Familie, in der die Eltern keine Arbeit haben und kein Deutsch sprechen. Überweisen wir ihnen dann einfach mehr Geld? Oder investieren wir in die Sprachförderung von Eltern und Kindern? Und in das Bemühen, die Eltern in den Arbeitsmarkt zu integrieren?“ Schließlich kann man das eine tun, ohne das andere zu lassen. Hier wird ein Scheingegensatz zu Lasten armer Familien konstruiert, den es gar nicht gibt. Hingegen sind eine weitere Aufblähung des Rüstungsetats, wie sie Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius fordert, die Ablehnung der Aufnahme neuer Kredite durch Lindner und eine wirksame Bekämpfung der Kinderarmut schwer miteinander vereinbar. Noch so viel neue Waffen für die Bundeswehr oder die Ukraine machen kein Kind satt, von seinen Erfolgschancen in einem kaputtgesparten Bildungssystem ganz zu schweigen.
Nachdem die Ampel-Koalition mit dem am 1. Januar 2023 in Kraft getretenen Bürgergeld die im Volksmund als „Hartz IV“ bezeichnete Grundsicherung für Arbeitsuchende reformiert hat, stellt die Kindergrundsicherung, mit der neben dem Kindergeld sämtliche kindbezogenen Transferleistungen – der Kinderzuschlag, die entsprechenden Regelbedarfsstufen des Bürgergeldes sowie Teile des Bildungs- und Teilhabepaketes (BuT) – zusammengelegt werden sollen, ihr familien- und sozialpolitisches Kernanliegen für den Rest der Legislaturperiode dar. Wenn die Ampel-Koalition ihr sozial- und familienpolitisches Prestigeprojekt verschiebt oder gar beerdigt, ist sie im Kampf gegen die Kinderarmut nicht mehr glaubwürdig.
Zementierung der Steuerprivilegien für Besserverdienende oder eine Kindergrundsicherung für alle?
Laut dem besagten Eckpunktepapier soll der für alle Familien gleiche Garantiebetrag beim 2025 geplanten Start der Kindergrundsicherung „mindestens“ der Höhe des dann geltenden Kindergeldes entsprechen, allerdings erst später den Familienleistungsausgleich übernehmen, welcher heute die Steuerfreistellung eines Einkommens in Höhe des kindlichen Existenzminimums bewirkt. Verteilungsgerecht und in sich schlüssig ist eine Kindergrundsicherung aber nur, wenn sie neben dem Kindergeld und ergänzenden Leistungen der Familienpolitik auch den bisherigen steuerlichen Kinderfreibetrag integriert, an dem die FDP, vermutlich indes auch die Union mit ihrer starken Stellung und praktischen Vetofunktion im Bundesrat festhält.
Der steuerliche Kinderfreibetrag entlastet Spitzenverdiener im Jahr 2023 um 354,16 Euro pro Monat, während Normalverdiener(inne)n, die das Kindergeld (heute 250 Euro) bzw. künftig den vermutlich gleich hohen KGS-Garantiebetrag erhalten, monatlich 104,16 Euro weniger zur Verfügung stehen. In den Eckpunkten der Bundesfamilienministerin heißt es vage, „perspektivisch“ solle er der maximalen Entlastungswirkung des steuerlichen Kinderfreibetrages entsprechen. Auf absehbare Zeit wird das nicht der Fall sein, die Spaltung der jungen Generation in Kinder „erster Klasse“ und Kinder „zweiter Klasse“ vielmehr fortbestehen.
Der maximale Zusatzbetrag soll in der Summe zusammen mit dem Garantiebetrag „das pauschale altersgestaffelte Existenzminimum des Kindes“ abdecken, also den altersgestaffelten SGB-II-Regelbedarfen in Verbindung mit den anteiligen Wohnkosten sowie einzelnen Bildungs- und Teilhabeleistungen entsprechen. Die geplante „Kinderwohnkostenpauschale“ nach dem aktuellen Existenzminimumbericht betrüge derzeit 120 Euro pro Monat, ist aber viel zu niedrig. Darüber hinausgehende Bedarfe der Kinder und Wohnkosten der Familien sollen über die Eltern abgedeckt werden. Besser wäre die Berücksichtigung der tatsächlichen Mietkosten im KGS-Zusatzbetrag, denn ansonsten sind zwei unterschiedliche Ministerien (das Familien- und das Arbeits- bzw. Sozialministerium) dafür zuständig. Bedarfsgerecht ist eine Kindergrundsicherung jedenfalls nur, wenn neben dem Alter eines Kindes auch die Wohnsituation seiner Familie angemessen berücksichtigt wird.
Mit steigendem Elterneinkommen soll die Höhe des Zusatzbetrags gemindert bzw. abgeschmolzen werden, und zwar so, dass „negative Erwerbsanreize der Eltern minimiert“ werden. Wie das geschehen soll und welche Geldbeträge auszuzahlen sind, bleibt im Dunkeln, entscheidet aber letztlich darüber, ob die Kindergrundsicherung im Einzelfall armutsfest und bedarfsgerecht ist oder nicht. Eine großzügige Ausgestaltung des Garantie- wie des Zusatzbetrages der Kindergrundsicherung stößt bereits im Bundeskabinett an Grenzen. Denn die FDP hat Bedenken hinsichtlich einer Verminderung der Arbeitsanreize durch höhere Geldleistungen für die Kinder von Geringverdienenden.
Wie im Kampf von Konservativen und Neoliberalen gegen die Bürgergeld-Reform droht vor der parlamentarischen Entscheidung über die Kindergrundsicherung eine politische und mediale Stimmungsmache auf Stammtischniveau. Seinerzeit hieß es, der Regelsatz von 502 Euro monatlich für Alleinstehende werde zusammen mit der Erstattung von Miet- und Heizkosten dafür sorgen, dass hierzulande niemand mehr arbeiten wolle, weil er höher sei als der Nettoverdienst eines Geringverdieners. Bei einer im Hinblick auf die Kindergrundsicherung ebenfalls zu erwartenden Kampagne auf Bildzeitungsniveau wird dieses Scheinargument in der Öffentlichkeit genauso fröhliche Urständ feiern wie die Unterstellung eines massenhaften Leistungsmissbrauchs. Neben den alten Ressentiments gegenüber Armen dürften rassistische Klischees eine größere Rolle spielen: Wenn es mehr Geld für die hier lebenden Kinder gibt, lässt sich nämlich die Furcht schüren, dass massenhaft ausländische Großfamilien einwandern, um KGS-Leistungen abzugreifen.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt, sich seit mehr als einem Vierteljahrhundert mit der Kinderarmut beschäftigt und dazu mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt gemeinsam mit seiner Frau Carolin Butterwegge „Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt“ im Campus Verlag.