Sexuelle Straftaten an Kindern und Jugendlichen nehmen durch das Internet zu. Erst kürzlich hat der Bundestag daher eine schärfere Verfolgung von Missbrauchstätern beschlossen. Das ist gut so, reicht jedoch nicht aus. Wir können und müssen schon vor einem Missbrauch aktiv werden – verhindern, dass das Internet überhaupt erst zum Alptraum für Kinder werden kann.
von Gottfried Werner
Eine moderne Gesellschaft ohne die Instant-Information von Suchmaschinen, ohne die Communities von Social Media, ohne den spontanen Unterwegs-Chat mit Familie, Freunden oder Kollegen über Messenger-Dienste – wer kann sich das noch ernsthaft vorstellen und vor allem: Wer möchte sich das überhaupt noch vorstellen?
Und doch: Längst offenbaren sich auch die Schattenseiten dieser Entwicklung eines rasanten und teilweise rasenden digital first. Alternative Facts, Fake News oder manipulative Bots – sie spalten zusehends, prägen mediale Diskurse und womöglich sogar Wahlen.
Die Vertrauenswerte der Sozialen Medien sowie der dazu gehörigen Tech-Riesen wie Facebook, Google oder Twitter aus dem „Valley“ jedenfalls: weitgehend im Keller. Die kämpfen dagegen an, indem sie Faktenchecks implementieren, Hetzer und Hassbotschafter sperren oder sogar Präsidenten-Tweets löschen. Aber das alles nur auf Druck der Zivilgesellschaft, im Nachhinein, kaum einmal proaktiv. Nur zaghaft, zu zaghaft wahrscheinlich.
Beim Blick auf das Große und die Großen vermisst man zuweilen ein wachsames, offenes Auge für bedenkliche Prozesse, bei denen zu lange weggeschaut wurde. Nur wenig Aufmerksamkeit wurde und wird in diesem Zusammenhang zum Beispiel jenen zuteil, die im Internet heute wie selbstverständlich aufwachsen, zu deren Alltag das Smartphone gehört, die täglich Links, Bilder, Videos, Stories, Standorte, und, und, und mit anderen tauschen, die Freundschaften über das Netz pflegen, für die ein Dazugehören ohne TikTok, Instagram oder WhatsApp kaum noch möglich ist – jene, die von den düsteren Facetten des Virtuellen in besonderem Maße betroffen sind: unseren Kindern.
Cybergrooming, Sexting, Hate Speech – Begriffe, die dem Durchschnittsbürger vor ein paar Jahren noch völlig fremd waren, weil sie Probleme beschreiben, die es damals noch gar nicht gab. Zumindest nicht im heutigen Ausmaß.
In den 80er-Jahren, weit bevor der britische Informatiker Tim Berner-Lee das World Wide Web erfand und dafür sorgte, dass bald schon jeder täglich „www“ in seine Tastatur hämmerte, war der Handel mit Kinderpornografie fast ausgerottet. Täter, so steht es in einem prägnanten Essay der Süddeutschen Zeitung, mussten das Material mit der Post verschicken – und das wurde ihnen zu riskant.
Das Internet hat diese Entwicklung umgekehrt. Der Briefkasten ist nun digital, verschlüsselt, schwer zu überwachen. Auch das soziale Umfeld kann kaum als Korrektiv wirken, wenn die Straftat ins anonyme Internet ausgelagert ist. Die Freiheiten, die wir am Netz schätzen, können sich immer dann als Unfreiheiten anderer entpuppen, wenn Kriminelle sie für ihre Zwecke nutzen. Bleiben wir beim Beispiel: Über 12.000 Fälle im Zusammenhang mit Kinderpornografie hat die Polizei hierzulande im Jahr 2018 erfasst. 2016 waren es mit rund 5.700 nicht mal halb so viele. Als sich das eine Jahrtausend verabschiedete und ins andere überging, hatten die Behörden zirka 1.600 Fälle aufgenommen.
Sicher, diese gravierende Zunahme kinderpornografischer Straftaten in den zurückliegenden Jahren lässt sich nicht allein dem Internet in die Schuhe schieben. Doch der Online-Raum, seine versteckten Winkel im Darknet, wo Kriminelle primär aktiv sind, und die Möglichkeit, auch sensible, intime und illegale Daten zu tauschen, muss Anhängern pädophiler Szenen wie das Paradies vorgekommen sein, ihr eigenes, krudes Utopia. Für alle anderen und besonders für Kinder und Jugendliche aber war es zu oft eine zur Realität gewordene Dystopie.
Dabei dürfte es für viele Kinder und Jugendliche psychisch schon nur schwer zu ertragen sein, wenn sich ihnen fremde Männer über das Internet sexuell „nur“ annähern, sie in Chats in makabre Gespräche verwickeln, ihnen sexualisierte Fotos oder Videos senden, also Sexting betreiben, und womöglich langsam erreichen wollen, dass ihr schutzloser und minderjähriger Gegenpart es ihnen gleichtut.
Grooming, aus dem Englischen für „anbahnen“, „vorbereiten“ bezeichnet das strategische Vorgehen von Tätern gegenüber Mädchen und Jungen: Sie nehmen Kontakt auf, gewinnen Vertrauen, manipulieren ihre Wahrnehmung, verstricken sie in Abhängigkeit und sorgen dafür, dass sie sich niemandem anvertrauen. Und weil immer mehr, auch immer mehr Kinder und Jugendliche digitale Dienste in Anspruch nehmen, ist auch die Zahl an Cybergrooming-Fällen in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen: auf 1.391 in 2018, ein Zuwachs von fast 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr. 3.300 waren es 2019 laut Bundeskriminalamt (BKA), Zunahme: weitere 34 Prozent.
Solche Straftaten, die teils noch gar nicht so lange strafbar sind, sind heutzutage leider trauriger Alltag. Was in der physischen Realität geschieht, bahnt sich oft in der virtuellen Realität an. Im Rahmen einer Befragung des Hamburger Leibniz-Instituts für Medienforschung haben fast ein Drittel der interviewten Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren angegeben, in den letzten zwölf Monaten online ungewollt mit intimen oder anzüglichen Fragen konfrontiert worden zu sein. Einer von drei jungen Erwachsenen. Jeder Dritte. Erschreckend.
Das Internet zu verdammen, wäre sicherlich der falsche Schluss. Genauso falsch wäre es allerdings, diese schlimmen Dinge einfach hinzunehmen und zu akzeptieren. Was tun?
Zum einen muss die Politik reagieren. Immerhin ist sie zuletzt erste wichtige Schritte gegangen: Mitte März machte der Bundestag es qua Gesetz möglich, Internet-Kriminelle leichter zur Rechenschaft zu ziehen. Zum anderen müssen wir auf Prävention setzen und die Möglichkeiten nutzen, die uns die Digitalisierung bringt, um unsere Kinder zu schützen – wie etwa KI-basierte Algorithmen oder innovative Software-Lösungen. Wir dürfen nicht darauf warten, bis Kinder zu Opfern werden, bevor wir etwas unternehmen. Wie es im physischen Raum ganz natürlich für uns ist, müssen wir sie auch in den Online-Sphären begleiten, sie auf potenzielle Gefahren hinweisen, Unterstützung anbieten, sie anleiten und bei Risiken einschreiten und sie schützen.
Eltern können und sollen die Internetaktivitäten ihrer Kinder aber nun mal nicht rund um die Uhr kontrollieren, das ist klar. Es gibt allerdings bereits Apps, die zuverlässig, datenschutzkonform und in Echtzeit erkennen, wenn sich auf dem Smartphone eines Kindes etwa Text- und Chatverläufe vollziehen, die auf Mobbing, Grooming oder Sexting hinweisen. Die Software macht die Kinder darauf aufmerksam, sensibilisiert sie, schafft Bewusstsein und informiert im Zweifelsfall die Eltern.
Sicher ist: Wir dürfen nicht mehr wegsehen. Damit unsere Kinder in einer freien Welt aufwachsen, in der sie die Vorzüge des Internets in vollen Zügen ausschöpfen können, ohne, dass sich Eltern unentwegt den Kopf zerbrechen und Kinder leiden müssen.
Über den Autor:
Gottfried Werner ist Europa-Chef von SafeToNet, einer App zum Schutz von Kindern im Internet. Das Unternehmen wurde in Großbritannien gegründet und ist seit 2020 auch in Deutschland aktiv. SafeToNet hat eine patentierte Technologie entwickelt, die Online-Gefahren wie Cybergrooming, sexuelle Belästigung oder aggressives Hass-Verhalten antizipiert und intelligent bekämpft. Mithilfe von Künstlicher Intelligenz erkennt die App, wenn das Kind einem Online-Risiko ausgesetzt ist und unterstützt es auf dem Smartphone mit Tipps und Hinweisen – und das in Echtzeit. Dabei genießt die Privatsphäre des Kindes höchste Priorität.
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