Jahrelang habe ich erfreut mitgezählt, wie die Demokratie als Prinzip der Staatsordnung Fortschritte machte; da war der Sturz von Faschisten und Diktatoren in Europa und Latein-Amerika sowie die Etablierung allgemeiner Wahlen in den meisten Staaten auch Afrikas und Asiens. Die Menschheit schien auf einem irreversiblen Weg zu demokratischer Rechtsstaatlichkeit, stabilisiert durch ein immer dichteres System von internationalen Verträgen und Organisationen, die sich zu Menschenrechten, Freiheit und auch Umweltschutz bekannten. Diese Tendenz ist gebrochen! Was läuft falsch?
Der Kampf um die Regierungsmacht ist in Demokratien ein Wettbewerb um Vertrauen für Personen, Parteien und ihre Programme. Deshalb ist es auch in sauberen Demokratien ein Anliegen von Regierungsmehrheiten, das eigene Handeln und Vorhaben in bestem Licht erscheinen zu lassen, während Oppositionen genau diese Darstellungen als beschönigend kritisieren.
Schon da besteht die Gefahr, dass aus „bestem Licht“ maßloses Selbstlob, ja Täuschung wird oder Kritik in der Sache persönliche Herabsetzung sowie unrealistische Versprechungen von Wohl- und Heldentaten. Genau an dieser empfindlichen Stelle kommt es genau darauf an, ob mit Anstand argumentiert wird oder mit dem Willen, die Legitimität des Gegners zu leugnen oder gar zu kriminalisieren. Wenn in dieser Auseinandersetzung unabhängige Personen, Organisationen oder etwa auch wissenschaftliche Institute Aussagen machen, die einer Seite weniger Recht geben, wird die Versuchung groß, das Vertrauen in diese Instanzen, ggf. auch Gerichte anzugreifen und zu zerstören. Das muss nicht weiter ausgeleuchtet werden, weil die Entwicklung der US-Republikaner unter Trump alles plastisch vorführt.
Wenn eine oder beide Seiten in dieser Art das Anstandsgebot der Demokratie beiseitelegen und das Grundvertrauen zerstören, ist die Demokratie selbst in Gefahr. In einer Demokratie entscheidet die festgestellte Mehrheit – sei es im frei gewählten Parlament oder durch Volksabstimmungen. Bei Parlaments-Wahlen wählt man Mitbürger und –innen, die sich einarbeiten können und in der Regel auch wollen. Sie haben die wesentlich Betroffenen einer Entscheidung anzuhören und im Rahmen ihrer Fraktionen, Koalitionen und insbesondere den fachkundigen Beamten Zusammenhänge mit anderen Politikfeldern beachten – insbesondere die Rückwirkungen auf die Budgets.
Das soll die parlamentarische Praxis nicht in unrealistischer Weise idealisieren, sondern nur bewusst machen, dass sachgerechte und faire Entscheidungen harte Arbeit sind, die mit Kompetenz und hohem Zeitaufwand betrieben werden muss, den auch der gebildetste Wähler neben Beruf und Familie nur in schmalen Problemfeldern aufbringen kann. In diesem Sinne sind wir alle „dumm“ und müssen anderen vertrauen, die mehr verstehen, weil sie die Zeit haben oder sie sich nehmen, tieferes Verständnis zu gewinnen. Die zunehmende Komplexität der Welt und auch unserer Gesellschaft steigern diese Angewiesenheit auf Vertrauen in andere.
Damit verschiebt sich die Kompetenzfrage beim Wähler entscheidend auf die Beurteilungsfähigkeit von Informationsquellen und Charakteren. Folgen diese „anständigen“ Grundregeln der Ehrlichkeit, des mitmenschlichen Respekts oder sind sie geprägt von rücksichtslosen Machtinteressen zugunsten ihres Egos oder egoistischer Gruppen? Beachten sie, was unabhängige, selbstkritische Wissenschaft zu sagen hat oder folgen sie ideologischer Voreingenommenheit.
Auch diese so entscheidende Beurteilung von Anstand ist nur möglich in Freiheit, in der insbesondere eine freie, wettbewerbliche Medienlandschaft, unabhängige Wissenschaft, offener Zugang zu weltweiten Quellen existieren und letztlich unabhängige Gerichte die Einhaltung solcher grundlegenden Normen kontrollieren. So sehen , ja fürchten es ja auch all die populistischen Demagogen, die Demokratie und Freiheit beseitigen wollen: darum unterdrücken sie Kritik und Kritiker, deshalb versuchen sie, die Medien unter Kontrolle zu bringen, und darum fordern sie, dass ihren Lügen niemand widerspricht, dass abweichende Meinungen unpatriotisch sind. Dafür gibt es als bewährte Strategie Nationalismus und Diffamierung des „Auslands“ als Quelle allen Übels! So kann man dann jede Opposition als Volksverräter ächten und verfolgen.
Wir konnten in den letzten Jahrzehnten gut beobachten, wie genau dieses Vertrauen erfolgreich angegriffen wurde, um Akzeptanz für Lügen und nicht mehr angefochtene Macht zu schaffen! Wahlen werden nicht erst bei der Auszählung gefälscht wie jetzt wieder in Venezuela, sondern viel wirksamer davor: aussichtsreiche Kandidaten werden mit erfundenen Gründen von der Wahl ausgeschlossen wie in Iran oder ihnen wird der Zugang zu den Medien versperrt und sie werden als Agenten des Auslands diffamiert.
Einen besonderen Stil hat Donald Trump in den USA geprägt, der nun leider in der rechten Szene Europas Schule macht: man spreche von sich selbst nur im positiven Superlativ und vom Gegner nur im negativen Extrem. So meinte er, die frühere Gegenkandidatin Hilary Clinton gehöre ins Gefängnis, Joe Biden sei der korrupteste Präsident der US-Geschichte und Kamala Harris sei (wegen ihres Lachens) irre. Er aber löse alle Probleme superschnell. Putin? Kein Problem. Ukraine? Da brauche er nur wenige Tage. Kim Jong-un? Habe er schnell in der Tasche. Europa? Wer da nicht mehr für den US-Schutz zahle, den könne Putin sich holen. Aber das Entscheidende: Trump schildert die US-Situation als die schlimmste, negativste der Geschichte – das ist auf alle Wähler berechnet, die irgendwelche unerfüllten Wünsche an die Politik haben, also möglichst viele. Es ist eine erfolgreiche Schleppnetzstrategie nicht nur am Boden der Gesellschaft, die die USA zerstören wird, wenn nicht doch noch eine klare Mehrheit gegen ihn entscheidet. Das erschütterndste Zeugnis des völligen Zusammenbruchs von begründetem Vertrauen und Anstand aber bilden jene etwa 45% der amerikanischen Wählerinnen, die dem bekennenden Macho ihr Vertrauen schenken, der jeder Frau an die … fassen zu dürfen behauptete. Wenn jetzt auch noch der Satz des „bekennenden Christen“ bei fast der Mehrheit in USA und seinen Anhängern anderswo durchgeht, man werde in 4 Jahren nicht mehr wählen müssen, wenn man ihn jetzt wähle, dann verliere ich nicht nur den Glauben an die Existenz von Anstand sondern auch von Verstand.
Wenn trotz solcher traurigen Entwicklungen die Demokratie Zukunft haben soll – sogar als allgemeine Grundlage einer Weltgesellschaft von Menschen, die doch letztlich keine Unterdrückung sondern Freiheit wollen, müssen demokratische Gesellschaften in Stabilität und mit ihren Ergebnissen für die Menschen und einen gesunden Planeten überzeugen. Und dazu braucht es Konsens über zu ächtendes Fehlverhalten der Demokratiegefährdung. Dabei sollte der klug mahnende Satz des Ex-Verfassungsrichters Böckenförde nie vergessen werden, dass der freiheitliche säkulare Staat von Voraussetzungen lebt, die er nicht garantieren kann. Mein Zusatz: Das muss der Bürger selbst leisten!
Demokratische Medien, Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, auch Künstler, Sportler und Schauspieler müssen unüberhörbar ächten
- -Lügen und Hass
- mangelnden Respekt für demokratische Gegner
- Verachtung der Wissenschaft, die um wahre Aussagen ringt
- nationalistische oder gar rassistische Überlegenheitsansprüche
und damit auch alle jene, die solche Haltungen personifizieren.
Es geht also um Ehrlichkeit und Fairness im demokratischen Wettbewerb um Wählerstimmen. Unabhängige Medien müssen informieren und kontrollieren können und eine von der Regierung unabhängige Justiz muss Rechtsverstöße ahnden können.
Langfristig geht es aber auch um Bildung, nicht nur um Ausbildung für wirtschaftlich erfolgreiche Berufswege, sondern um die Erziehung von Generationen „anständiger“ Menschen, die die oben genannten Tugenden für wichtig halten und im täglichen Leben anwenden.