„Zugbetrieb. Halten Sie Abstand von der Bahnsteigkante und betreten Sie den gekennzeichneten Bereich erst nach Halt des Zuges“, tönt es aus dem Lautsprecher auf dem Bahnsteig in Leichlingen. Doch keiner hört zu. Denn es ist keiner da. Der Bahnsteig ist leer. Nicht nur in Leichlingen, meinem kleinen Wohnort in der Nähe von Köln. Andernorts sieht es nicht besser aus, nur die Anzeigetafel ist dort länger. Hier an dem kleinen Vorstadtbahnhof reicht eine kleine Lauf-Anzeige, um über den Ausfall des nächsten Zuges zu informieren. Wegen Streiks, heißt es, falle die nächste Bahn nach Köln aus.
Doch immerhin, einer streikt nicht: der Automat. Als ich eintippe, ich wolle sofort von Leichlingen nach Speyer fahren, bekomme ich sogar eine Verbindung genannt. Mit drei dicken roten Kreuzen: Leichlingen – Köln: fällt aus. Köln – Mannheim: fällt aus. Mannheim – Speyer: fällt aus. Kein Durchkommen, da muss man halt die Termine absagen. Doch dann kommt doch noch ein Fahrzeug: Ein Bauzug. Aha, die Bahn denkt mit. Die Lokführer streiken, die Züge fahren nicht, da arbeitet man mit Hochdruck auf den Baustellen der Bahn. Vielleicht, eine Hoffnung darf man ja haben. Aber auf die Weisheit der Bahn, ihres Vorstands und ihres Managements, sollte man besser nicht setzen. Sonst führen hier wahrscheinlich heute Züge, der Parkplatz wäre voll, wie immer, und in „Bienes Büdchen“ würden sich die Donuts nicht auf der Theke stapeln. „Keine Kunden“, sagt man mir, als ich mich mitfühlend nach dem Geschäft erkundige, während mein Kaffee abgefüllt wird. „Keine Kunden, und das schon seit Tagen“.
Mal ist der Bahnhof leer, wie jetzt beim Streik. Mal steht dort unvermutet ein Intercity, der dort gar nicht halten sollte. Wie kürzlich, als ich um 13.42 Uhr nach Köln und von dort aus nach München fahren wollte. Meine Freude, mal mit dem Intercity von meiner Kleinstadt nach Köln fahren zu dürfen, wird allerdings gleich gedämpft. „Wir stehen schon seit 11.30 Uhr“, sagt mir missmutig ein Zugbegleiter. „Lokschaden“. Tatsächlich, ich schaue mich um und sehe einige Leute mit Warnwesten und Funkgerät an der Lok hantieren. Die Notfallmanager sind immerhin schon da. Und sie haben zum Leidwesen der Zugbegleiter die Regie übernommen. Seit gut zwei Stunden blockiert der Intercity schon das Gleis, die Züge, von Solingen kommend, müssen auf dem Nebengleis vorbeifahren. Auch die, die sonst in Leichlingen gehalten hätten. Die 300 Fahrgäste des Intercitys durften in einen ICE umsteigen, der auf dem Gegengleis hielt.
Eine innere Stimme sagt mir, dass die Ersatzlok bald kommen muss, wenn man hier schon seit 11.30 Uhr wartet. Ich liege richtig damit, nach zehn Minuten taucht die Ersatzlok auf. Doch woher kommt meine innere Stimme? Nun, ich bin Besitzer einer Bahncard 100, und das schon seit 2006. Auch im Ruhestand habe ich mir noch einmal die Karte gegönnt. Wenn man so lange und so oft mit Bahncard fährt, hat man viel erlebt und kennt alle Ansagen und Ausreden der Bahn. Zugausfall, Verspätung wegen verspäteter Übergabe aus dem Ausland (die andern sind schuld, nicht wir, heißt das), Verspätung wegen Verspätung eines vorausfahrenden Zuges (hier sind auch andere schuld), ein liegen gebliebener Zug wegen eines Defekts am Triebfahrzeug (gut, dass das bei Flugzeugen selten passiert). Türen, die sich nicht öffnen lassen, Toiletten, die versifft sind, Gepäck, das die Eingänge blockiert.
Die Mängelliste der Bahn ist lang. Und das macht den Streik so bedrohlich. Denn andere sind womöglich schneller, besser und billiger. Wer geschäftlich unterwegs ist, steigt in den Flieger. Das ist nicht teurer und oft schneller, auch wenn man vom Flughafen noch in die Stadt fahren muss. Wer wenig Geld hat und Wert aufs Ankommen legt, dem bietet sich als Alternative der Fernbus. Dann gibt es natürlich noch Mitfahrzentralen und, klar, private PKWs, mit denen man trotz Stau auch von A nach B kommen kann. Schließlich gibt es mancherorts noch Züge anderer Unternehmen, meist mit schönem Namen und anderen Farben als das Rot der Bahn, die den Betrieb nicht eingestellt haben. Da kann man nur neidisch werden, wenn am eigenen Wohnort nur die Deutsche Bahn das Sagen hat und sonst niemand.
Der Streik der GdL ist ärgerlich für die Pendler, teuer für viele Betriebe, selbst den kleinen Bahnhofskiosk, dessen Kunden ausbleiben, aber bedrohlich ist der Streik für das Unternehmen Deutsche Bahn. Ob man das in der Konzernzentrale in Berlin weiß? Eher nicht, scheint es. Vielleicht ahnt man dort, wie groß der Imageschaden ist. Vielleicht gibt es im Palast der Deutschen Bahn am Potsdamer Platz in Berlin auch jemand, der versucht, den Schaden in Zahlen zu messen. Aber offensichtlich hat man das Gefühl, auf der sicheren Seite zu sein: „Die Deutsche Bahn: Too big to fail.“ Wir kennen das von den Banken, auch dort vertraute man darauf, dass der Steuerzahler es im Fall einer Pleite schon richten würde. Das Bahnmanagement denkt offensichtlich ähnlich, ermutigt dadurch, dass der Bund (unsere Regierung in Berlin) ja immer noch Eigner der Bahn ist. Die Herren über die Trasse wollen sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, schon gar nicht durch eine kleine aufmüpfige Gewerkschaft wie die GdL.
Die wird den Zorn der öffentlichen Meinung schon zu spüren bekommen, denkt man offensichtlich in den oberen Etagen des Konzerns. Denn in jeder Nachrichtensendung dürfen Fahrgäste ihren Frust in ein Mikrophon ablassen und dazu bös in die Kamera schauen. Man sieht, wie Spott und Häme über den Chef der kleinen, lästigen GdL ausgegossen werden. Vor allem, wenn er sich aufs Grundgesetz beruft und das in der Verfassung verbürgte Recht auf Bildung einer Vereinigung zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen für nicht verhandelbar erklärt. Auch wenn man im Arbeitsgericht schon den Kürzeren gezogen hat – die Bahn will offensichtlich auf die Forderungen der Gewerkschaft der Lokführer nicht eingehen.
Seien wir ausgewogen: Auch die Deutsche Bahn hat’s schwer. Denn sie verhandelt gleichzeitig mit zwei Gewerkschaften. Einer, die sie mag, mit der man schon längst zu Potte gekommen wäre. Und eine kleine Gewerkschaft, die mehr rausholen will. Nicht nur für die Lokführer, für die sie ursprünglich gegründet wurde, sondern inzwischen auch für andere Berufsgruppen der Bahn. Das macht die Sache kompliziert: die Konkurrenz zweier Gewerkschaften. Und es treibt die Preise in die Höhe. Aber machbar wäre das schon. Doch warum sollte man den Aufwand betreiben, wenn die Politik mit einem neuen Gesetz winkt, dass der kleineren Gewerkschaft den Hahn abdreht? Also warten wir noch ein bisschen, scheint man im Vorstand der Bahn zu denken. Dann ist das Gesetz da und wir sind das Rumpelstilzchen von der GdL los, so die Überlegung.
Doch so einfach wird es nicht kommen. Denn man muss sich die Frage stellen, warum eine Gewerkschaft Konkurrenz bekommt. Irgendwas hat in der Einheitsbahngewerkschaft nicht gestimmt, sonst wären die Unzufriedenen nicht abgehauen und hätten ihren eigenen Laden aufgemacht. Solange die Zahl überschaubar war, und die Gruppe abgegrenzt wie bei den Lokführern, war das aus der Sicht des Unternehmens noch erträglich. Aber jetzt benutzt die kleine Gruppe der Lokführer, ohne die nichts geht, ihre Schlagkraft, um auch für Zugbegleiter auch mehr rauszuholen. Das würde den Zugbegleitern nutzen, aber auch der kleinen Gewerkschaft der Lokführer. Die hat natürlich auch ein lästiges organisatorisches Eigeninteresse: sie will mitgliederstärker werden. Zweifellos: der Streik ist auch ein Machtkampf zwischen zwei Gewerkschaften. Das fordert das Unternehmen Bahn.
Den Streik auszusitzen auf Kosten der Fahrgäste, nur weil man glaubt, man sei „too big to fail“, der Staat werde einem schon den Rettungsring zuwerfen – das ist die falsche Strategie. Deswegen ist es an der Zeit, das Management der Bahn ins Gebet zu nehmen. Wer soll das tun? Alle, die Nahverkehrszüge bei der Bahn bestellen, die jetzt nicht mehr verkehren. Sie könnten dem Bahnmanagement klar machen, dass man künftig woanders bestellt. Wer im Aufsichtsrat der Bahn sitzt, ist jetzt ebenfalls gefragt. Am besten, indem man als Mitglied dieses Gremiums mal den Ersatzfahrplan der Bahn in Anspruch nimmt, möglichst nicht in der Ersten Klasse. Der Fahrgastverband „Pro Bahn“ sollte sich ebenfalls zu Wort melden. Denn „für die Bahn“ als wichtiges, umweltfreundliches und zuverlässiges Verkehrsmittel einzutreten, wird angesichts einer gescheiterten Managementstrategie zur Lösung eines Tarifkonflikts immer schwieriger.
Die Bahn hat in den letzten Jahren viele Kunden verloren. Das habe ich über die Jahre als treuer Kunde der Bahn erleben können. Die Fernzüge sind nicht mehr so voll, wie sie es einmal waren. Man muss sich nur noch selten in den Zug quetschen, um überhaupt noch mitzukommen. Das Reservieren einer Platzkarte kann man sich viel häufiger schenken als früher. Was gut ist, denn bei dem Preis für die Reservierung hat die Bahn in den letzten Jahren kräftig zugelangt. Und so freut man sich als Fahrtgast über das große Platzangebot – solange es die Zugverbindung noch gibt. Denn bald schon könnte die Deutsche Bahn gezwungen sein, den Gürtel enger zu schnallen: Wenn man an der Preisschraube nicht mehr drehen kann, das Personal gut verdienen will, die Fahrgäste ausbleiben, kann man den Betrieb eigentlich nur noch zurückfahren.
Keine guten Aussichten für die Bahn. „Too big to fail“ – eine Illusion.
Bildquelle: Wolfgang Tönnesmann