Kann man heute noch eine Zauberoper aufführen? Kann man das, nachdem vor zwei Jahrzehnten Harry Potters Fantasy-Imperium flächendeckend alles auf Linie gebracht hat, was man über Magier mutmaßt? Von tiefsinnigem Kopfnicken verständnisvoller Greise bis zum kitschigen Schlüsselanhängergeschenk reichte die Spannweite der universellen Rezeption.
Diese Art von Fantasyretorte kommerzialisiert eine verkappte Mittelaltersehnsucht zum Leichtverdaulichen, indem sie dem Zeitalter der Spiritualität einfach seinen in der Moderne als widerspenstig und hinderlich verspürten Wesenskern herausoperiert, den christlichen Glauben. Auch wenn die Hogwards-Welt im Großbritannien der Gegenwart angesiedelt ist, ist das Bild der Magier im Prinzip traditionell gefaßt. Dabei wird verschwiegen, daß die Zauberei in den abrahamitischen Religionen seit Moses‘ Zeiten als gottwidriger Gesinnung entsprungen angesehen wird, die keine objektiv physikalische Wirkung hat, sondern nur eine Verschleierung der Wahrheit hervorbringt. Diese Vorstellung haben christliche Institutionen weiterentwickelt, um Ausgegrenzte zu verteufeln: Deshalb stehen die Magier unter Anklage, mit dem Beelzebub im Bunde zu sein, den man zum Beispiel in moderner Übertünchung unter der Maske Voldemorts allzu deutlich erkennen kann. Aber diesen Gedankenkreis berührt, wie wir sehen werden, unsere Zauberoper höchstens am Rande. Zwar ist auch Alcinas Hexerei nur Blendwerk, aber vom Bund mit dem Satan kann keine Rede sein.
Es bleiben aber auch Verdienste der Romanserie um Harry, Ron und Hermine: Der Buchhandel verdankt weltweit sein vielleicht letztes Floruit dieser Jugendbuchreihe und im Rahmen der Kulturgeschichte des Lesens haben diese Bände einer letzten knappen Generation jugendlicher Bücherverschlinger den vielleicht letzten prägenden Einblick in ein Großwerk mit standardisierter Rechtschreibung eröffnet.
Inzwischen sind aber die Rauch- und Nebelschwaden des rowlingschen Pseudokosmos aufgelöst und das meiste wieder in der Spielekiste des weltkulturellen Kinderzimmers verschwunden; zerlesene Bände archiveln im Bücherregal staubfangend vor sich hin. Nun ist Zeit, endlich wieder im literarisch-künstlerischen Multiplex von Orient und Okzident aus dem Vollen zu schöpfen, bei echten und hochkultürlichen Zaubergeschichten! In Georg Friedrich Händels Geburtsstadt Halle an der Saale hat man natürlich den richtigen Riecher, denn das dortige Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt hat dieses Jahr eine große Sonderausstellung über Magie aus archäologischer Perspektive veranstaltet. Eines der dortigen Ausstellungsstücke ist auch in unserer Bildauswahl enthalten, eine griechische Vasen in Erlangen.
Die Oper Bonn geht das Thema der Magie in der Spielzeit 2024/25 frontal an. Man setzt einerseits auf den Evergreen von Mozarts Zauberflöte in einer genauso immergrünen Erfolgsinszenierung aus eigenem Fundus, wo nun mancher vom Ensemble zu Recht aus der zweiten Reihe früherer Jahre in die erste Reihe der Solosänger aufgestiegen ist. Zuvor aber wird ein seltener gespieltes Großwerk von Händel gegeben, mit dem man an die erfolgreichen Bonner Inszenierungen zweier Opern des Hallensers, Serse und Agrippina, in den vergangenen Jahren anknüpft: Alcina, sprich „Altschina“. Die Besetzung bringt in den Rollen der Fata Morgana, von Bradamante und Oronte Sänger, die für die Bonner neu sind, ortsvertraut ist dagegen die übrige knappe Mehrheit der Solisten. Dem Berichterstatter fällt auf, daß Charlotte Quadt aus diesem Kreis schon mal den Duft von Alcinas Märchenpark geschnuppert hat, nämlich 2017 in Münster als Bradamante, diesmal zeigt sie sich im Gewand des Ruggiero.
Wir dürfen also Eintauchen in die schillernd-paradiesische Zauberlandschaft auf der Insel der Alcina, und nach den Vorankündigungen dürfen wir uns freuen, daß diese Glitzerwelt die Gestalt der Goldenen Zwanziger annehmen wird. Wir glauben auch nach den Verlautbarungen zu erahnen, daß die psychologische Spannung und schicksalhafte Gegnerschaft zwischen der selbstgewissen Strategie der Bradamante einerseits sowie der auf die Macht der großen Gefühle und des kleinen Budenzaubers setzenden Alcina auf Zuspitzung drängen wird. Wird dieses Kalkül dem Helden Ruggiero, so kraftvoll er manchmal auch trommelt, nur noch die Rolle als Spielball in den Händen der starken Frauen belassen?
Nach der Matinee am 27. Oktober um zehn Uhr morgens in der Bonner Oper wissen wir mehr. Jetzt studieren wir erstmal den zu erwartenden Inhalt und analysieren die wichtigsten Züge des Werkes, praktischerweise unter dem Blickwinkel der Herkunft. Man nennt das Motivgeschichte.
Händels Alcina hatte am 16. April 1735 am Londoner Covent Garden Premiere. Wer dabei war, konnte im besten Fall nach dem Blick auf den Besetzungszettel ungefähr folgendes maximale Vorwissen parat haben:
Die böse Hexe Alcina hat den Ritter Ruggiero mit ihren Liebeskünsten umgarnt und auf ihre Insel gebracht, in die Scheinwelt eines üppigen Lustgartens. Er ist nicht der erste; andere angelockte Männer hat die Zauberin – ähnlich wie weiland Circe – in Steine, Pflanzen und wilde Tiere verwandelt.
Ihr zur Seite eine Schwester, die böse Fee Morgana. Ruggiero hat das Glück, daß ihn seine treue Verlobte, die Ritterin (jawohl, Ritterin!) Bradamante auch diesmal raushaut, um ihn gradlinig auf den tugendsamen Pfad militärischer Tapferkeit und an ihre eigene grüne Seite zurückzukommandieren. Gewiß kommt Hilfe von der guten Fee Melissa, die sich in die Erscheinung von Ruggieros Lehrer aus Kindertagen Atlante verkleiden wird. Vielleicht ist dem Zuschauer auch noch geläufig, daß Ruggiero eigentlich ein islamischer Sarazene, Bradamante eine Christin ist, aber das vergißt man schnell wieder, weil es hier kein Thema ist. Alcinas Herrschaft stürzt am Ende zusammen: Es endet ihr Liebeszauber über Ruggiero und auch die Gewalt über all die verwandelten Opfer ihrer Verlockung und die ganze verzauberte Insel mit ihrem flüchtigen Hexenflitter. Die Freude der Befreiten wird am Ende stehen, die Magierin aber am Abgrund.
Das alles konnte der Gebildete theoretisch wissen, denn der Stoff hatte eine lange Tradition und viel Geschichte hinter sich. Tauchen wir ein!
Der Grundgedanke der Alcinafigur ist archetypisch: Es gibt ihre Gestalt schon so lange, wie Menschen Buchstaben nehmen, um Wissen, Geschichten und Gesänge aufzuschreiben und zu formen, also seit dem homerischen Griechentum. Die Figur selbst hieß freilich nicht von Anfang an ,Alcina‘.
Der homerische Odysseus trifft bei seinen Irrfahrten auf Gestalten fernab jener Normen, die der Dichter und seine Leser bejahen. Eines dieser Wesen ist Kirke (oder lateinisch Circe, wie sie folgend genannt sei, sprich „Zirze“, die einen „bezirzt“), Alcinas Ahnherrin. In ihr verdichtet sich etwas Befremdendes, mit dem die Männer dieser testosterongeprägten Heldenepoche hinsichtlich der Geschlechterrollen nicht klarkommen: Daß die Frauen nämlich mit einem – also ich meine: mit einem Mann – innen drin etwas machen können, was einem in seiner Allmachtsvorstellung gefährlich wird und wo man nicht gegen ankommt, obwohl sie doch schwächer sind.
Circe bezaubert, verzaubert, fesselt und schlägt in den Bann wie keine andere. Die Gefährten des Odysseus verwandelt sie vermöge Rauschtrank und Schlagen mit der Rute (nach einer noch heute verbreiteten Domina-Phantasie) in Schweine und pfercht sie ein. Odysseus bricht den Bann und läßt die nun Willige (nach einer noch heute verbreiteten Macho-Phantasie) an seiner kraftvollen Männlichkeit teilhaben. Daraus entsteht eine Lebensabschnittspartnerschaft, bis Odysseus nach einem bekannten Verhaltensklischee ein Jahr später doch Sehnsucht nach Haus, Herd und Familie bekommt, das Beziehungsabenteuer beendet und fortsegelt.
Circe ist somit die erste Frau von vielen in der Weltliteratur, die sich mit einem Fremden eingelassen hat (es ist stets ein Fremder!) und dann von ihm verlassen wird. Das nimmt das ältere Epos auf die leichte Schulter: Circe gibt den Abschied wie nach einem One-Night-Stand und spendet sogar noch gute Tipps für die Reise. Bei Odysseus‘ anderer Liebelei, derjenigen mit der Nymphe Kalypso, läuft es unterm Strich ganz ähnlich. Man denkt an Siegfrieds Abschied von Brünnhilde, die dem Gspusi frohgemut auch noch ihr Roß Grane mitgibt. Aber bei denen wurde vorher wenigstens ewige Treue geschworen, bei Homer nicht.
Spätere Poeten, etwa des jüngeren Epos und Dramas lassen das in der Regel nicht so stehen: Der von Äneas verlassenen Karthagerin Dido bleibt in der aussichtslosen Situation öffentlicher Entehrung nur der Selbstmord auf dem Scheiterhaufen, die von Jason im Stich gelassene Medea wird zur kindermordenen Furie mit anschließender eigener Himmelfahrt und – wie alle Opernfreunde wissen: Die von Pinkerton gedißte Cio-Cio-San ,Butterfly‘ folgt präzis dem vergilischen Muster von Dido aus der lateinischen Literatur, aber japanisch-stilecht mit dem Harakirimesser. Die Literatur der römischen Kaiserzeit dichtet sogar der Kalypso noch einen Selbstmord an, weil man sich die Trennung literarisch gar nicht anders vorstellen kann.
Händels Oper ,Alcina‘ schöpft ihren Stoff freilich nicht bei Homer oder einem anderen Dichter der Antike, sondern aus einem Heldenepos der italienischen Renaissance, nämlich von dem in Ferrara wirkenden Hofdichter Ludovico Ariosto. Ariosts Versepos „Orlando Furioso“ (Der rasende Roland) schildert in verschlungenen Handlungssträngen vielfältige Abenteuer der ritterlichen Paladine Karls des Großen, mit Kämpfen und Amouren und Mondfahrt und allem Schnickschnack. Dafür hat Ariost unter anderem die Figur der Alcina nach Circes Vorbild geschaffen.
Anders als Ritterepen zuvor wendet sich Ariosts Heldenlied vom literarischen Erzählduktus her nicht exklusiv an ein zuhörendes Hofpublikum, dem man – bildhaft gesprochen – als Sänger etwas vorträgt. Vielmehr schreibt der Ferrareser für ein allgemeiner verstandenes, aber natürlich auch hochgebildetes Publikum, das den Text liest. Natürlich ist das nicht unbedingt Populärliteratur. Bradamante und ihr Lover Ruggiero (wie gesagt, zwei Hauptfiguren unserer Oper) liefern nicht nur als Liebende in Bedrängnis eine gute Story, sondern bieten auch schöne Fürstenpanegyrik, denn sie sind bestimmt, die Stammeltern der Familie Este zu werden, also nicht zufällig des Fürstenhauses von Ferrara, für das Ariost arbeitet.
Ariost schreibt in Volkssprache, das heißt in zeitgenössischem Italienisch, und trotz allerhand Schwulst und viel sprachlicher Gelehrsamkeit werden packende und vor allem gut nacherzählbare Storys in handlichen Episoden geliefert, wo Zeitgenossen und Autoren kommender Jahrhunderte aus dem Vollen schöpfen konnten.
Unzählige Opern wurden nach Ariosts Epenvorlage geschaffen, angefangen mit der ,Befreiung Ruggieros von der Insel der Alcina‘ aus dem Morgengrauen der Operngeschichte (1625) in Florenz, der ersten von einer Frau (Francesca Caccini) geschriebenen Oper der Musikgeschichte, die auch noch von einer Frau beauftragtet ist (Großherzogin Maria Magdalena), und die genau unseren Stoff um Alcina herum zum ersten Mal in ein Musikdrama gießt. Und mit dem anderen weiblichen Genie der älteren Musikgeschichte, der blinden Maria Theresia Paradis aus der Mozartzeit und ihrem leider bis auf den Text verlorenen Singspiel „Rinaldo und Alcina“, war noch nicht Ende der Fahnenstange! Auch Händel selbst ließ seine Librettisten für mehrere Opern zum Ariost greifen. Die weite Verbreitung der Inhalte von Ariosts ,Orlando‘ erklärt, warum die Handlung mancher Libretti zu diesem Thema so verkrautet sein kann, wie sie will; die Zuhörer stiegen (jedenfalls in der Barockzeit) trotzdem durch (siehe oben).
Bis heute haben Ariosts Helden eine gewisse Rolle in der italienischen Populärkultur. Man kennt sie einfach, und zum Beispiel das volkstümliche und traditionsreiche sizilianische Marionettentheater legt immer neu die alten Rittergeschichten auf. Dem Bonner Opernpublikum ist das theoretisch gewärtig, aber vermutlich nicht bewußt, weil zu kompliziert dargeboten, hat doch David Pountney vor einem halben Jahrzehnt in Verdis „Sizilianischer Vesper“ die Zuschauertribüne on stage mit vielen als sizilianisch zu verstehenden Paaren bestückt, die riesige Pappmasken von Angelica und Orlando aus der Tradition der Pupi siciliani hochhielten. Das Puppenspielertum in Süditalien ist natürlich jünger als unsere Oper „Alcina“ und entstand erst im neunzehnten Jahrhundert.
In dem Sagenkreis, der von Ariost und anderen besungen wurde, tragen die Paladine Karls des Großen als (wenn man so will) fränkische Edelmänner des frühen Mittelalters zumeist germanisch lautende Namen, also etwa Orlando (Roland) oder Rinaldo (Reinhold). In unserer Oper sind das (bis auf den eher klassisch klingenden Oronte) die Helden Ruggiero (Roger), Astolfo (Astulf) und der von Ava Gsell dargebotene Oberto (Hubert) sowie der Tarnname Ricciardo (Richard). Die Mädels werden nie germanophon gerufen (sie gehören ja auch zur jüngeren Sagenschicht), sondern etwa klassisch-lateinisch, wie Angelica, die Geliebte Orlandos. Bradamantes Name scheint italienische Wurzeln zu haben, Morgana sicher keltische.
Ein Kuriosum bei Händel ist die wunderlich anmutende Bezeichnung „Melisso“ für den vertrauten Begleiter von Bradamante, gesungen in Bonn durch Pavel Kudinow, Spezialist für die tiefe Stimmlage. Der sehr seltene Name selbst ist eigentlich nur weiblich zu denken: von griech. μελίσσα oder μελίττα, die Biene. In der Tat ist nämlich eigentlich eine gewisse Fee Melissa im epischen Kreis Ariosts als gute Zauberin auf der Seite von Bradamante. (Die älteren unter uns kennen vielleicht noch aus der Feenwelt des Schwarzweißfernsehens die brave amerikanische Nebenbuhlerin der „Bezaubernden Jeanny“ mit dem Namen Melissa.) Der ariostschen Melissa jedenfalls hat Händel oder sein Librettist eine Geschlechtsumwandlung zum ,Melisso‘ zugemutet, möglicherweise ganz einfach deshalb, weil man noch einen Baß brauchte.
Den Namen ,Alcina‘ gibt es vor Ariost nicht, der Ferrareser hat ihn einfach neu erfunden. Das Wortgebilde knüpft an griechische Sagenfiguren wie Alkyone oder Alkinoos an, deren Name vom Wort ἄλκη (Kraft, Schutz) abgeleitet sind. Die Gestalt der Zauberin selbst hingegen, ihre Eigenart und Motivik, stammt motivisch klar von Homers Circe ab und schöpft damit direkt aus einer altgriechischen Quelle. Wie man unter anderem daran erkennt, schreibt Ariost ja keine mittelalterliche Heldendichtung, sondern ein Renaissance-Epos.
Ariost konnte seine prunkvolle Zauberin natürlich nicht einfach ,Circe‘ nennen, denn jeder Gebildete kannte diese Fee und wußte, daß sie mit der Zeit Karls des Großen nichts zu tun hat. Aber: Alcina erinnert als motivische Nachfahrin der homerischen Circe angenehm an Bekanntes und erleichtert dem Gebildeten die Orientierung.
Erstaunlicherweise scheint die händelsche Alcina sich gewissermaßen der Rolle bewußt, daß sie nämlich Nachfolgerin der homerischen Ahnherrin ist. Deshalb hat sie im Eingang zu ihren Gärten eine Statue der Circe aufgestellt, „die die Männer in wilde Tiere verwandelt“ (Regieanweisung zu Szene IV des zweiten Aktes).
Oder anders gesagt: Die Händeloper stellt besonders heraus, daß Alcina in den Fußstapfen der Circe wandelt und besonders „circenhaft“ ist, weil Engländer des achtzehnten Jahrhunderts sich darunter etwas Handgreifliches vorstellen konnten, selbst wenn sie nur ein Minimum an literarischer Bildung hatten. Hatte doch bereits 1634 der große John Milton die Popularität dieser Figur in Britannien verkündet: „Wer kennte denn nicht Circe, die Tochter des Sonnengottes, die mit der Zaubertrankschale?“
Nicht gleichzeitig, aber in der Generation nach unserer Oper war es in England sogar Mode, daß junge Frauen von Stand kostümiert an privaten Aufführungen teilnahmen und so auch in Pastell oder Öl porträtiert wurden. ,Portrait in character‘ hieß das. Und eine der beliebtesten Vermummungen war die Figur der Circe, in sehr gelöster Kleidung natürlich. Bei einer Skandalnudel wie Emma Lady Hamilton wundert es einen nicht, daß sie sich um 1782 so zeigte. Welcher Trafalgarsieger hätte ihr widerstehen können? Aber auch harmlose heiratsfähige Töchter englischer Landadliger präsentierten sich als unwiderstehlich liebreizende Geschöpfe im Habit der Circe. So weite Kreise hatte Circes Ruhm gezogen!
Circe war also die klarer umrissene Metapher für Schönheit und Verlockung, und ihr Teil war die Bildkunst, Alcina konnte ihr darin nie so recht den Rang ablaufen. Aber Alcina gehört etwas anderes: die Bühnenbretter. Zwar bemühten sich selbst bedeutende Komponisten um Musikdramen mit der dämonischen Circe, wie Gluck, Cimarosa oder Egk, sogar Goethe bastelte mit seinem Sohn am Libretto einer entsprechenden Farce. Aber als von Verlustangst um ihren Geliebten getriebene und trotz übernatürlicher Kräfte am Ende scheiternde Figur besitzt Alcina weit mehr die nötige emotionale Fallhöhe, um ein Drama heraufzubeschwören. Wir werden uns noch fragen müssen, welche Konsequenzen Regisseur Jens-Daniel Herzog in Bonn daraus zieht.
Der Name ,Alcina‘ ist übrigens bis heute selten, wenn auch nicht völlig ungeläufig, und sei es nur als Bezeichnung für eine 1946 gegründete Kosmetikmarke von der Dr.-Wolf-Gruppe, die einem beim googeln nach dem Namen der Zauberin immer dazwischenkommt. Diese Firma steht fürs Sponsoring von Arminia Bielefeld am Firmenstandort und in punkto Haarefärben stets an der Seite des deutschen Friseurhandwerks. Übrigens ist in den Augen des literarisch Gebildeten der Name ,Alcina‘ für Schminkkram etwas pikant, denn Alcinas Schönheit erwiest sich bei Ariost und Händel ja unterm Strich als ausgemachter Bluff.
Genau wie ihre geistige Vorgängerin Circe hat die Zauberin Alcina nämlich mehrere Gesichter, genau genommen drei, die sich zwangsläufig aus der literarischen Rolle ergeben. Das erinnert an Hecuba, die antike Göttin der Zauberei und Verwünschung, die als Herrin der Scheidewege (Dreiwege) drei freilich gleichartige Antlitze hat. Alcina lockt und verführt, demnach ist sie bestimmt so schön wie Monica Bellucci in allerbesten Tagen. Alcina ist aber auch grundtief böse, also denkt man sie sich doch wohl mit besserem Recht als eine häßliche alte Hexe von der Sorte, die gern Hänsels und Gretels verspeist. Zugleich verwandelt Alcina die Männer auch in Steine, und was ist toter als ein Stein? Sie ist demnach eine Todesdrohung in Person, und was stünde ihr eher zu Gesicht als der Knochenschädel?
Eine interessante neuere Inszenierung von ,Julia Kirchner e tesori della musica Basel‘ auf You tube bringt die händelsche Alcina als Marionettenstück in Lebensgröße zur Aufführung, und gestaltet die beschriebene Vielgesichtigkeit durch den Wechsel der entsprechenden Masken
Das knüpft an das erwähnte sizilianische Puppentheater an, wo die Magierin genau drei Gesichter am Kopf hat. Alcina hat ein schönes, ein häßliches und ein knöchernes Antlitz. Der Puppenspieler kann mit einer Bewegung des Stabes im senkrechten Führungsrohr der Stabmarionette das jeweils passende nach vorn drehen. So ein Halsumdrehen soll in der Oper Bonn mit unserem Sopran bitte unterbleiben! Wir wollen darauf hoffen, daß Marie Heeschen als Primadonna sauber geradeaus blickt und beim Modell ,Bellucci/Hamilton‘ bleibt!
Alcina als Gegnerin der tapferen Ritter und von Allmachtsphantasien erfüllte Beherrscherin einer dunklen Kunst ist in der Tradition von vornherein die Böse. Aber könnten sich bei der Londoner Premiere die empfindsameren unter den Lauschenden nicht vielleicht gefragt haben, ob diese Verdammung zwingend sein muß? Selbst wenn Alcina eigentlich den Weg zur Versöhnung verbaut hat, geht es doch für sie so bitter aus, daß es eine Qual ist. Rührt die Schwächung der magischen Kraft der vielleicht schon in die Jahre kommenden Zauberin nicht tragischerweise ausgerechnet daher, daß sie Ruggiero zu aufrichtig liebt? Muß sie in Wirklichkeit nur deshalb der Nebenbuhlerin Bradamante weichen, weil diese die Jüngere und Zielstrebigere ist. Darf Alcinas Liebe so unterliegen müssen? Am Ende einer Tragödie geht immer einer vor die Hunde – damit rechnet man –, aber sehen wir Zuschauer der liebenden Frau wirklich gern zugemutet, verlassen zu werden? Gebührt ihr nicht eigentlich unsere Sympathie?
Ob Händel so etwas empfunden hat oder nicht, ob er es vielleicht sogar in die Noten des Stückes hineingeschrieben hat? Darauf und auf die Deutung dieser Frage durch unseren Regisseur und seine Mannschaft und natürlich durch Solisten und Chor zusammen mit dem Beethoven-Orchester diesmal unter der Leitung der jetzigen Salzburgerin Dorothee Oberlinger werden wir aufmerksam und kritisch horchen
Bildquelle Titelbild: Händel – Alcina – Il Pastor Fido Terpsichore, Ballet Music – English Baroque Soloists, Gardiner Erato 75169, flickr, Piano Piano!, CC BY 2.0
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