Als man ihn nominierte vor fünf Jahren, war Joachim Gauck eine Art Lückenbüßer. Er sprang ein, als Christian Wulff zurücktrat und Angela Merkel ein Problem bekam: Wer jetzt? Dabei hatte Gauck bei Wulffs Kandidatur gegen den CDU-Ministerpräsidenten kandidiert und im dritten Wahlgang verloren- weil Merkel unbedingt Wulff durchsetzen wollte. Aber dann, zwei Jahre danach, drohte der angeblich so mächtigen Kanzlerin und CDU-Chefin eine peinliche Niederlage, weil Gauck erneut von der SPD und den Grünen vorgeschlagen wurde. Sie sprang quasi im letzten Moment auf den Zug, der sonst ohne sie gefahren werde. Heute, gegen Ende der Amtszeit des Pfarrers und einstigen Leiters der Stasi-Unterlagen-, kurz Gauck-Behörde, muss man feststellen: Joachim Gauck erwies sich als Glücksfall für die Bundesrepublik. Aus Altersgründen verzichtete er auf eine zweite Amtszeit, um die ihn führende Politiker der Großen Koalition, namentlich Angela Merkel und Sigmar Gabriel gebeten hatten. Der Mann aus Rostock wird am 24. Januar 77 Jahre alt und wäre am Ende einer zweiten Präsidentschaft 82.
Zu Beginn seiner Jahre im Schloss Bellevue begleiteten ihn manche Zweifel. Packt der das, der evangelische Pfarrer aus dem Osten, der kein eigentlicher Bürgerrechtler war, wie er selber eingeräumt hat, der aber die deutsche Einheit herbeisehnte? Die DDR, das SED-System, ohne die Bürgerrechte wie Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Wahlfreiheit, das war nicht seine Welt, die man ohne höhere Genehmigung nicht verlassen durfte. Gauck hat das Stasi-System am eigenen Leib erlebt, die Art der Überwachung kritischer Bürgerinnen und Bürger nahm vielen die Luft zum Atmen und die Lust zum Leben. Die Nachfolger der SED, die PDS und heute die Linke haben nicht alle mit dem alten System so abgeschlossen, wie das nötig gewesen wäre. Man merkt es bis heute, wenn Politiker der Linken sich zu Gauck äußern. Sie tun es fast immer negativ. Wobei man davon ausgehen kann, dass die fehlende Sympathie-um es vorsichtig zu formulieren- auf beiden Seiten vorhanden ist.
Verzicht auf weitere Amtszeit – wie viele vor ihm
Fünf Jahre Bundespräsident Joachim Gauck. Am Ende kann er seinen Verzicht auf eine weitere Amtszeit sogar mit den Präsidentenjahren der Vorgänger begründen. Lediglich Theodor Heuss, der FDP-Politiker, Heinrich Lübke, der vorherige CDU-Landwirtschaftsminister und Richard von Weizsäcker(CDU), der einstige Regierende Berliner Bürgermeister, amtierten zehn Jahre als Staatsoberhaupt, all die anderen nur deren fünf. Gustav Heinemann, Walter Scheel, Karl Carstens, der vor wenigen Tagen verstorbene Roman Herzog, Johannes Rau. Raus Nachfolger, Horst Köhler, warf während der zweiten Amtszeit die Brocken hin, weil er in den wenigen politischen Fragen, zu denen er sich äußerte, offensichtlich die gewünschte Unterstützung seitens der Kanzlerin vermisste. Dann kam Christian Wulff, der Ausgang ist bekannt.
Die großen Themen, die heute die Welt beschäftigen, gab es damals nicht. Wer dachte schon an die Bedrohung Europas an der Ostflanke, wer hatte den Ukraine-Konflikt auf dem Schirm, wer die Annexion der Krim durch Russland und die damit einhergehenden Folgen? Das kriselnde Europa sucht nach Lösungen. Der Brexit passierte erst vor Jahresfrist, auch in anderen EU-Staaten machen sich zunehmende nationalistische Tendenzen breit, zum Beispiel in Frankreich, den Niederlanden, in Polen, Ungarn, die Deutschland nicht kalt lassen, zumal mit der rechtspopulistischen AfD eine Partei im Rennen ist, die den Einzug in einige Länderparlamente schon geschafft hat und von der man annehmen darf, dass sie sowohl den Einzug in den NRW-Landtag im Mai wie im September den Sprung in den Bundestag schafft und ein Jahr später im bayerischen Landtag sitzt. Und dann kam noch die Flüchtlingskrise hinzu, Hunderttausende von Menschen aus Afrika und Asien, aus Syrien und Afghanistan und anderen Ländern flohen vor Bürgerkriegen und Hunger, getrieben von bitterer Not, nach Deutschland. Das Thema ist nicht erledigt, wenngleich die Zahl der Flüchtlinge erheblich zurückging.
Unsicherheiten in einem reichen Land
Unsicherheiten haben sich in Deutschland breit gemacht, in einem der reichsten Länder der Welt sorgen sich Eltern der Mittelschicht darum, dass ihre Kinder nicht nur nicht den Aufstieg schaffen, den sie selber einst hingelegt haben, sondern sogar abstürzen könnten. Menschen fühlen sich abgehängt, ausgegrenzt.
Der Terror hat Deutschland erreicht, der Terror des sogenannten islamischen Staates, der zuvor Länder wie Frankreich und Belgien in Angst und Schrecken versetzt hatte, der im Irak fast täglich Bomben explodieren lässt, der in Syrien längst nicht erledigt ist und anderswo im Mittleren Osten, der aber spätestens seit dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt bei uns ein Thema ist, das nicht länger verdrängt werden kann. Drei von vier Menschen fühlen sich weiterhin sicher in Deutschland, so eine Umfrage, aber die Leute wollen, dass die Politik handelt, damit man sich noch sicherer fühlt im Lande. Wenn das so einfach ginge!
Er kuschte nicht vor Erdogan
Der gebürtige Rostocker war ein Neuling in der Politik, ein Quereinsteiger, kein typischer Parteimann. Er musste die Abläufe erst lernen, sich erklären lassen, wie der politische Apparat läuft, wie welche Politiker ticken und was seines Amtes war. Wer ihm zuletzt zugehört hat, gerade bei der Einweihung der Elbphilharmonie, oder wer den Fernseh-Beitrag in der ARD zu Gauck verfolgte und dabei Szenen während der Feier am Tag der Deutschen Einheit sah oder den Ausschnitt aus seiner Türkei-Reise, erlebte einen souveränen Bundespräsidenten, der es versteht, sein Wort zu wählen und dessen Worte Gewicht haben. Ein wahrer Repräsentant der Republik, und nicht nur ein protokollarischer. Er ist ein politischer Präsident geworden. Er hat nicht vor dem türkischen Präsidenten Erdogan gekuscht, sondern gesagt, was gesagt werden muss in einem Land, wo die zunehmende Machtfülle Erdogangs die Freiheitsrechts vieler Bürger eingeschränkt hat. Gauck hat in Ankara nicht gekniffen. Und dass Erdogan ihm später vorwarf, Gauck hätte sich in die inneren Angelegenheiten der Türkei eingemischt, das wird dem deutschen Staatsoberhaupt eher zur Ehre gereichen. Er weiß, was die Opposition in einem Land von wichtigen Gästen erwarten, die das Land bereisen, er weiß das noch aus den unseligen DDR-Zeiten.
Bundespräsident Gauck, begleitet von seiner langjährigen Lebensgefährtin Daniela Schadt, einer Journalistin, seiner wohl wichtigsten Beraterin, hat sich eingemischt in die politische Debatte in Deutschland. Er hat gefordert, der Westen müsse sich verteidigen können, gemeint gegenüber Russland. Die Bundesrepublik müsse mehr für die Sicherheit tun. Dass ihn die Linke durch Sara Wagenknecht kritisiert, dass ihn Rechtsradikale als Kriegstreiber beschimpfen, empfindet er zwar nicht als lustig, aber er weicht deshalb nicht zurück, sondern betont sogar wie nach den Pöbeleien von Demonstranten gegenüber ihm und Merkel am Tag der Einheit: Man müsse stehen, gegenhalten. Das wäre ja noch schöner, hat er gemeint, wenn man vor denen in die Knie ginge. Ja, es waren Schreihälse darunter, wie die Fernsehbilder zeigten, Pöbler, gegen die er sich an anderer Stelle verbal zur Wehr gesetzt hat. Ob es klug war, von einem helleren und einem Dunkel-Deutschland zu reden, sei dahingestellt. Aber verstanden habe ich Gaucks Reaktion. Wie kommen Menschen dazu, den Präsidenten und/oder die Kanzler als Volksverräter zu beschimpfen, Begriffe, die wir aus der Nazi-Zeit kennen?! Und jeder Demonstrant, der diese abfälligen Äußerungen noch gut findet, muss sich fragen lassen, wo er selber steht. Zweifellos dürfen auch der Bundespräsident und die Kanzlerin kritisiert werden, aber das, was da passiert ist, hat mit Kritik nichts zu tun. Das waren Versuche, Gauck, Merkel und Co. niederzubrüllen.
Ein Mittler zwischen Gruppen und Religionen
Er ist zu einem Mittler zwischen den vielen Gruppen in Deutschland geworden, all den Deutschen und den Flüchtlingen, zwischen Christen, Juden und Muslimen. Er hört zu und geht auf die Leute zu, spricht mit ihnen. Dabei ist er keiner der ewigen Jasager, kein Opportunist, er ist, wenn nötig, auch ein unbequemer Präsident, den man ernstnehmen muss. Er war das erste deutsche Staatsoberhaupt, das sich mit den Kriegsgegnern von einst an einem wirklich heiklen Platz traf, um sich mit den Menschen dort zu versöhnen: In Oradour-sur-Glane war es am 10. Juli 1944 zu einem Massaker gekommen. Die Waffen-SS trieb die Bewohner des Ortes in eine Kirche, zündete sie an, die Menschen verbrannten, anderen wurden abgeknallt. Nur sechs Bürger überlebten. Tief bewegt hat Gauck ihnen die Hand geschüttelt, viele Jahrzehnte nach dem Verbrechen von Nazi-Deutschland an Frankreich eine Geste, eine Bitte um Vergebung.
Der menschliche Bundespräsident, von Kritikern auch leichtfertig als Prediger hingestellt, was ihm und seinen Anliegen nicht gerecht wird. Er ist auf der Auslandsreise im fernen Peru, als ihn gleich nach dem Aufwachen in aller Früh die Nachricht erreicht, dass der Co-Pilot einer Germanwings-Maschine den Flieger mit allen Passagieren gegen einen Berg in den französischen Alpen geflogen hat- ein Selbstmord, mit dem der junge Mann im Cockpit viele andere mit in den Tod reißt, darunter 16 Schülerinnen und Schüler und zwei Lehrer aus einer Schule im westfälischen Haltern. Eine Nachricht, die Gauck erschüttert. Er bricht die Reise ab, reist nach Haltern, um mit den Hinterbliebenen zu trauern, um ihnen zu zeigen, wie ihn dieses Unglück mitnimmt.
Der Völkermord der Türken an den Armeniern
Konflikte scheut Joachim Gauck gewiss nicht. Den Massenmord an den Armeniern durch die Türken, begangen während des ersten Weltkrieges 1915/16, nennt er beim Namen: Völkermord, wissend, dass das Erdogan und Co. nicht passt. Er liegt da auf einer Linie mit dem Bundestag, der einen entsprechenden Beschluss fasst- Bundestagspräsident Norbert Lammert zieht kurze Zeit später nach: Es war Völkermord. Lammert demonstriert das Selbstverständnis des Parlaments, seine Unabhängigkeit in dieser Frage, die Regierung Merkel, sicherlich inhaltlich auf dieser Linie von Gauck und Lammert, hält sich bedeckt. Das Schicksal der Armenier, deren Ausrottung steht beispielhaft für einen Völkermord. Schätzungen zufolge kamen zwischen 300000 und 1,5 Millionen Armenier ums Leben.
Derselbe Gauck reißt im Sommer 2014 jubelnd die Arme hoch, als Mario Götze kurz vor Schluss des Endspiels um die Fußballweltmeisterschaft in Brasilien das Siegtor für die deutsche Mannschaft gegen Argentinien erzielt, ein Zaubertor, das in die Annalen eingeht. Neben Gauck die jubelnde Kanzlerin Angela Merkel. Ein Tag der Freude für die Deutschen.
Zwischen Hilfe und Angst
Das Land ist zerrissen zwischen Willkommen und Abschotten, zwischen Hilfe und Angst. Gauck macht da keinen Unterschied. Wir wollen helfen! Betont er. Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind endlich. Es wäre falsch, das so zu interpretieren, als wollte er damit der Kanzlerin in den Rücken fallen. Sie hat damals, als es nicht anders ging, die Grenzen geöffnet und Zigtausende von Flüchtlingen ins Land gelassen. Dass das nicht so weitergeht, weiß Angela Merkel auch, sie hat es später mit anderen Worten gesagt, dass das in dieser Größenordnung einmalig war. Da braucht es den Begriff der Obergrenze nicht, zumal die Zuwanderung drastisch zurückgeht, weil es ein Abkommen mit der Türkei gibt, das umstritten ist, aber hilfreich, weil andere Länder die Grenzen dicht gemacht haben. Das offene Europa schottet sich ab.
Den Verdruss bei einem Teil der Gesellschaft spürt der Mann, er würde dem gern eine Kultur der Freude entgegensetzen. So ähnlich kann man ihn verstehen bei seinen wohl gewählten Worten anlässlich der Einweihungs-Feier der Elbphilharmonie, wo er die Bedenken gegen den Bau mitanklingen lässt, die es ja gab. Ein Bau, dessen Bauzeit zu lange dauerte, dessen Kosten in den Himmel schossen, der fast gescheitert wäre, wenn die Politik, in diesem Fall vor allem Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz nicht die Kraft zur Durchsetzung des Gebäudes gehabt hätte- auch, um eine Ruine zu verhindern. Heute überstrahlt die Philharmonie alles andere in der Hansestadt wie ein Leuchtfeuer steht sie da. Ein neues Wahrzeichen nicht nur für Hamburg. Gauck bringt das zum Ausdruck.
Schade, dass er geht
Sein Besuch bei der Bahnhofs-Mission zeigt den anderen Gauck, der geerdet ist und auch in den Problemvierteln nicht fremdelt. Ausgerechnet da, bei den Obdachlosen fällt ein Wort des Bedauerns, dass er nicht weitermacht. „Ich bin in einem Alter…“ mehr muss er nicht sagen, um den Verzicht auf eine weitere Amtszeit zu begründen. Aber was will einer wie Gauck denn mehr? Schade, dass es bald vorbei ist.
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