Reden wir kurz über ein Erbe aus den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts: Große, sogenannte „Jahrhundertreformen“ ergriffen die ganze Gesellschaft; sie setzten gesellschaftlich- politische Prozesse mit großer Breite in Gang – so vor allem die westdeutsche Bildungsreform.
Sie begann bereits in den sechziger Jahren. Ausgangspunkt war die Tatsache, dass das moderne Industrieland Westdeutschland nur fünf Prozent eines Jahrganges auf weiterführende Schulen (Gymnasien) brachte.
Das zweite Beispiel ist die Friedens-und Ostpolitik der Regierungen Brandt/Scheel. Auch die setzte bereits in den sechziger Jahren ein, wurde in den siebziger Jahren zur Volksbewegung, weil die Bevölkerung Westdeutschlands den von Adenauer forcierten Zustand der Abschottung einfach als überholt, antiquiert begriff.
Solch Prozesse der damaligen Zeit haben das Denken breiter Schichten geprägt. Das Wort „Jahrhundertreform“ ist allerdings heute sehr viel seltener zu lesen und zu hören. Aber irgendwo schwirrt es noch in manchen Köpfen herum.
Den „Glauben“ an die Jahrhundertreform habe ich 2001 verloren. Damals schob der amtierende Sozialminister der Republik, Walter Riester, eine Rentenreform an.
Die Arbeitslosigkeit stieg von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus. Die Basis der Finanzierung der gesetzlichen Renten wurde schmaler. Klar wurde: Es müsste mehr und mehr Geld aus dem Bundeshaushalt an die damaligen Rentenkassen überwiesen werden. Die Beitragssätze stiegen dennoch, was wiederum in Unternehmen die Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit steigen ließ. Zugleich sollte die Rente ihre Funktion der Lebensstandard- Sicherung im Alter nicht aufgeben, aber ein Recht auf Teilzeit ebenso verkraften können wie wachsende Rechtsansprüche etwa auf das Müttergeld. Die Regierung Kohl hatte zudem einen beträchtlichen Teil der sozialen Einheits-Ausgaben den Beitragszahlenden in die Rentenversicherung „um den Hals gehängt“, weil die Steuern nicht merklich steigen sollten.
Riester entschloss sich dazu, die Ausgaben der Rentenversicherung langfristig stärker zu begrenzen und geringere Rentenzuwächse durch ein Zulagen- gestütztes Privatsystem zu ergänzen. Ein freiwilliges System, also kein obligatorisches wie es die Schweiz aufweist. Es war der Versuch, für ein komplexes Problem eine komplexe Lösung zu finden. Bis heute ist die Reform umstritten.
Das hat sich bis heute immer wieder wiederholt: Ob Reform der Gesundheitsausgaben, Reform der Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen, der Organisation des Systems der öffentlich-rechtlichen Kassen; des Verhältnisses von ambulanten zu stationären Kosten, der Ausgaben für Arznei und der Pflege: alles war umkämpft. Der Weg zwischen Begründung hier und dem Ziel, die praktische Vernunft im Alltag zu erreichen, der wurde länger und länger. Für mich verwandelte sich Engagement in der Sache in Verbissenheit, als ich sah, dass ein sympathisch wirkender blonder, bärtiger Arzt auf dem Protestmarsch durch Berlin ein Schild hochhielt auf dem stand: Ulla nach Guantanamo. Ein Tiefstand. Heute ruft man: „Close em up!“
Was auch immer auf den Weg gebracht wird, ist umkämpft. Die praktische Vernunft ist auf dem Rückzug. Von den Zugvögeln weiß ich, dass sie wiederkehren; mit der praktischen Vernunft, der mit Einsicht in Notwendiges, mit dem Vertrauen auf Erfahrung sieht es anders aus. Weggezogen. Es überwintern hier individuelle Ideologien absonderlichster Art. Der eine Ärztepräsident polemisiert gegen das Inzidenz-Verfahren, der andere bezweifelt die Wirksamkeit eines Mund-Nasenschutzes. Und viele sagen sich: Wenn die schon zweifeln… Wir müssen höllisch aufpassen, dass bei uns nicht noch mehr ins Rutschen kommt.
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