Viele Unterstellungen, keine Beweise: Die Polemik gegen den Kanzler ist durchsichtig – und brandgefährlich.
Auch wenn Schimpfwörter inzwischen wie selbstverständlich durchs öffentliche Leben segeln – in einer bürgerlichen Gesellschaft ist der Vorwurf der Lüge einer der schwerwiegendsten. Umso irritierender ist die Lässigkeit, mit der manche Medien und Politiker in diesen Tagen den Bundeskanzler direkt oder indirekt einen Lügner nennen.
Worum geht es? Die Hamburger Finanzverwaltung hat 2016 darauf verzichtet, von der Warburg-Bank Steuergeld zurückzufordern, das diese mit miesen Tricks ergaunert hat. Heute kennt jeder die Masche, die als „Cum-Ex-Skandal“ bekannt wurde, damals war die rechtliche Einschätzung noch diffus. Vielleicht war die Hamburger Finanzbehörde einfach feige, vielleicht war sie vorsichtig, weil sie millionenschwere Regressforderungen fürchtete. Entscheidend ist die Frage, ob sie ihre Entscheidung unbedrängt von politischer Einflussnahme getroffen hat.
Mehr als 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Behörde und andere Beteiligte sind öffentlich und nichtöffentlich genau danach gefragt worden. Niemand hat von politischem Druck durch den damaligen Bürgermeister Scholz berichtet. Es gibt bislang auch keinen einzigen Beweis dafür, dass Olaf Scholz sich von den Besitzern der Warburg-Bank für deren Zwecke einspannen ließ. Stattdessen gibt es süffige Anekdoten, eine Menge Spekulationen und vage Verdächtigungen. Jeder, der derzeit so massive Vorwürfe erhebt, sollte sich fragen, ob er selbst auf einer solchen Basis diffamiert werden wollte.
Das Ergebnis sieht man in den USA
Es ist eine der glücklichsten Entwicklungen in unserem Land, dass eine unabhängige Justiz ohne Ansehen der Person ermittelt, wenn der Verdacht von Straftaten im Raum steht. Die Hamburger Generalstaatsanwaltschaft hat in dieser Woche erklärt, dass es keine Grundlage für ein Verfahren gegen Scholz gebe, sie sieht noch nicht einmal einen Anfangsverdacht. Alles Lügner, Vertuscher, Verschwörer?
In den USA ist zu besichtigen, wohin es führt, wenn Fakten verbogen, die Justiz verunglimpft und politische Gegner persönlich diffamiert werden, um einen Vorteil zu erringen. Das gesamte politische System ist dort in einer tiefen Glaubwürdigkeitskrise, zum Nutzen aggressiver Populisten.
Natürlich soll und muss der Cum-Ex-Skandal umfassend aufgeklärt werden. Aber die Justiz hat sich an Fakten zu halten und urteilt nicht nach Sympathie oder politischen Präferenzen. Diesen Skandal zu missbrauchen, um den amtierenden Kanzler ohne belastbare Beweise zu beschädigen, ist nicht nur schäbig, sondern brandgefährlich.
Vielleicht sollten CDU-Chef Merz und andere statt der Bild-Zeitung zur Abwechslung die Fachzeitschrift Wild und Hund lesen. Dort wird plastisch das Phänomen des Jagdfiebers beschrieben – und seine gefährlichste Nebenwirkung: der Tunnelblick.
Dieser Beitrag wurde am 19.8. in der Neuen Westfälischen erstveröffentlicht