Ministerpräsidentin Georgia Meloni ist mit Krisenmanagement beschäftigt, vermutlich mehr als ihr lieb ist. Ihre italienische Regierung treibt den sozial- und gesellschaftspolitischen Rollback an mehreren innenpolitischen Fronten voran, wofür sie eine deutliche Mehrheit in beiden Häusern des Parlaments hat. Sie muss sich aber auf verschärfte Problemlagen einstellen, z.B. in der Migration, an die sie bisher mit ungeeigneten Maßnahmen herangegangen ist. Hinzukommt die Notwendigkeit von Korrekturen von Maßnahmen der vorigen Regierung u.a. in der Justizreform, sowie das Aufholen von Versäumnissen in der Umsetzung des EU-finanzierten nationalen Plans für Aufbau und Resilienz (Piano Nazionale Ripresa e Resilienza, PNRR). Zwischendrin bringen immer wieder selbst-entlarvende Äußerungen von Kabinettsmitgliedern, Senatspräsident und Fraktionsführern der Regierungspartei Frateli di Italia (FdI) Aufregung in den politischen Betrieb.
In der Außen- und EU-Politik ist die Regierung schon von ihrer kritischen Linie aus Oppositionszeiten abgewichen, und hat u.a. vom Parlament für ein Jahr freie Hand für Waffenlieferungen an die Ukraine bekommen. So wird diese Außenpolitik nur von einem Teil der Opposition und der Zivilgesellschaft in Frage gestellt.
Die Stabilität der Regierung scheint trotz der Fehlschläge und Fehltritte ungefährdet, da sie in beiden Kammern über eine satte Mehrheit von fast 60% der Sitze verfügt.
Die Immigration über die Mittelmeerrouten nach Italien schwillt an und variiert die Wege und Mittel. Die Politik muss sich auf veränderte Sachverhalte einstellen, ergreift aber bisher aufgrund ihres veralteten eigenen Narrativs Maßnahmen, die ins Leere laufen. Im Jahr 2023 wird die Immigration übers Mittelmeer neue Rekorde verzeichnen. Ein neuer massiver Zuzug kommt aus dem ost -libyschen Tobruk, auf größeren Stahlschiffen mit einer Kapazität von 500 „Passagieren“. Sie wird von Asiaten aus Bangladesch, Afghanistan, Syrien und von anderswo genutzt, die sich teils schon in der Türkei befinden und denen diese Möglichkeit günstig angeboten wird. Diese Route ersetzt für manche die lange Überfahrt von der türkischen zur apulischen und kalabrischen Küste mit kleineren Fischerbooten wie das vor einigen Wochen vor Cutro gestrandete. Hinzukommen viele Ägypter. Dagegen ist die seit Jahren von Italien ausgerüstete Küstenwache der Tripolis-Regierung unwirksam, die ihrerseits schwere Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Flüchtenden von südlich der Sahara zulässt, die nach wie vor mit prekäre Schlauchbooten die Überfahrt riskieren. Viele dieser Flüchtenden haben ihre Route nach Tunesien verlegt, wo sie aber mittlerweile mit Billigung des Präsidenten und der Regierung schlecht behandelt werden. Angesichts der schweren Wirtschaftskrise wird indes ein weiterer Anstieg der schon bedeutenden Migration der Tunesier selbst Richtung Italien erwartet. Im Übrigen wird der Strom aus Algerien und Marokko ebenso anschwellen, jedoch vor allem Spanien und Frankreich betreffen.
Die Katastrophe vor Cutro hat die Unsinnigkeit der Behinderungen der NRO-Schiffe gezeigt und damit des Kampfes, den vor allem Matteo Salvini und seine Mitstreiter seit Wiedereintritt in die Regierung wieder führten. Sie hat darüber hinaus schwere Mängel in der Kommunikation mit Frontex und in der Koordination der Finanzpolizei, die Zollvergehen verfolgt, mit der Küstenwache aufgedeckt, die Rettungseinsätze fahren kann. Mittlerweile ist die Küstenwache massiv aktiviert und hat auch alle Boote voll zu tun mit der sehr großen Zahl von Menschen, die auf den großen Schiffen aus Tobruk in Seenot geraten.
Die Regierung verteidigt das neue sogenannte Cutro-Dekret, das neben der Verschärfung der Strafen für Schlepper, derer man habhaft zu werden glaubt, auch ein etwas erhöhtes Kontingent an jährlich aufgenommenen Flüchtenden vorsieht – nicht ganz so hoch, wie es die Wirtschaft wünscht – und die Einschränkung von Sonder-Aufenthaltsrechten für Härtefälle. Letzteres wird von der Opposition und Hilfsorganisationen, aber auch von den Bürgermeistern der Großstädte massiv kritisiert, aus asylrechtlicher Sicht, aber auch weil sie ein weiteres Abwandern in die Klandestinität befürchten.
Auch wenn die Maßnahmen der Regierung funktionieren, steht Italien 2023 also vor einem riesigen Flüchtlingsproblem, zu dessen Bewältigung es auch die Unterstützung Europas braucht. Der überparteiliche Präsident Matarella forderte vor ein paar Tagen in Warschau, dass eine neue Politik der Asyl-Migration in der europäischen Union erforderlich sei, die alte Regeln überwindet, die mittlerweile prähistorisch seien. Damit sind wohl die Dublin-Abkommen gemeint, die weder von Italien in Bezug auf Erstregistrierung noch von den EU-Partnern in Bezug auf die ebenso vereinbarte Verteilung eingehalten werden.
Bei anderen innenpolitisch wichtigen Vorhaben verheddert sich die Regierung und trifft auf Widerstand.
Der Justizminister will Justizreformen gegen die seiner Meinung nach zu politischen Magistrate (Staatsanwälte und Richter) durchsetzen, mit Unterstützung der Verteidiger-Vertretung. Er verfolgt diese Änderungen persönlich seit Jahren und ist in Melonis Partei eingetreten, um sie auf dem Gesetzeswege durchzubringen. Er bekommt neben dem massiven Gegenwind für seine Pläne aber immer neue Probleme, die aus der Justizreform der Regierung Draghi herrühren – und vor denen schon die Magistrate, an erster Stelle die Anti-Mafia-Staatsanwälte, gewarnt hatten. Er muss erst einmal einiges davon neugestalten, unter anderem die Regel, dass bestimmte strafbewehrte Delikte nicht verfolgt werden, wenn kein Privatkläger aufsteht.
Die Regierung schafft es außerdem mit den vorgesehenen Mechanismen und Personal nicht, die Mittel aus dem PNRR zeitig zu nutzen. Die Mittelabflüsse liegen weit hinter dem Plan. Hinzu kommt, dass es große Zweifel an der Zweckentsprechung einiger Groß-Projekte gibt, wie z.B. die Stadien in Venedig und Florenz, die als Stadterneuerung firmieren. Auch gegen das Wiederaufleben des Riesenprojekts der Brücke nach Sizilien im PNRR, das von Salvini als nationales Prestigeprojekt angepriesen wird, gibt es große Bedenken, mit Blick auf die Erdbebengefahr, aber auch mit Blick auf die mangelhafte Infrastruktur auf Sizilien. Die Regierung verweist auf Versäumnisse der Vorläuferregierungen, die es unmöglich machen, den Zeitplan einzuhalten, und bekommt gewisse Fristverlängerungen von der EU.
Eine Zukunftsstrategie der Nachhaltigkeit ist nicht erkennbar. Maßnahmen gegen die Folgen der mehrjährigen Dürre, für die auch Mittel des PNRR geeignet wären, sind erst in der Formulierung. In der Energiepolitik setzt die Regierung angesichts des Ausbleibens von Russengas hauptsächlich auf Bezug von fossilen Energieträgern aus anderen Regionen mithilfe der staatlich kontrollierten international tätigen Konzerne ENI und SNAM.
Die an ihrer Klientel orientierten wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen zugunsten des italienischen Mittelstands versucht die Regierung rasch durchzusetzen: Steuererleichterungen, Moratorium für nicht gezahlte Steuern und Gebühren u.a.m. Zum Nachteil der untersten Einkommensschichten, vorwiegend in Süditalien, wird das Bürgergeld künftig nur noch für sogenannte Nicht-Beschäftigbare gezahlt. Hingegen werden die als beschäftigbar eingestuften nur noch eine Zeitlang und weniger Hilfe bekommen. Als beschäftigbar gelten diejenigen, die keine familiären oder andere Hinderungsgründe haben um am Arbeitsmarkt teilzunehmen. Zumutbarkeitsgrenzen wurden stark abgesenkt. Auch hier kommt die Realität in die Quere. Um die Beschäftigbaren zu identifizieren und Job-Angebote bzw. Fortbildung zu machen, müssten die Jobcenter auch funktionieren, woran es aber besonders im Süden hapert.
Auch das Lieblingsprojekt der Lega, die „differenzierte Autonomie“, gegen die südliche Regionen Sturm laufen, wird vom Kabinett abgesegnet und weiterverfolgt. Auch hier müssen erst einmal Voraussetzungen geschaffen werden, speziell Mindest-Standards der öffentlichen Vorsorge festgelegt werden, die von der Zentralregierung finanziert werden müssen.
Gesellschaftspolitisch bleibt die Regierung antiliberal, was aber auf Nichtbefolgung stößt. Einige wichtige Bürgermeister, selbst einzelne aus den Regierungsparteien, setzen sich über die Vorgabe der Regierung hinweg, Babys aus gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, die von einer Leihmutter ausgetragen wurden, am Einwohnermeldeamt nicht zu registrieren.
Hinzukommen als Störgeräusche immer wieder Aussagen von Regierungsmitgliedern oder Parlamentariern der Regierungsparteien. Außer kuriosen Äußerungen gibt es selbst-entlarvende, die andeuten wes Geistes Kind derjenige ist.
Der Innenminister gab den Flüchtenden zu bedenken, dass sie sich in eigener Wahl auf diese gefährlichen Abenteuer mit Schleusern einließen. Ihm wurde überhebliche Ignoranz entgegengehalten, da es sich um Menschen handele, die schon mehrfach ihr Leben riskiert haben. Der Verteidigungsminister beschuldigte seinerseits Russland, die Migration über das Mittelmeer zu fördern.
Der Senatspräsident Ignazio La Russa (von Melonis Fratelli di Italia, FdI) meinte in einem Radiochat, dass es sich bei den von Partisanen in Rom 1944 angegriffenen Nazi-Unterstützern um eine süd-tiroler Musikertruppe gehandelt habe. So hätten die Partisanen leichtfertig gehandelt und gewissermaßen in Kauf genommen, dass die deutschen Besatzer daraufhin die 10-fache Anzahl der Getöteten in den Ardeatinischen Höhlen umgebracht haben. Meloni gab zum Jahrestag die Erklärung ab, dass die Geiseln umgebracht wurden, nur weil sie Italiener gewesen seien. Historiker wiesen jedoch darauf hin, dass die Südtiroler eine polizeiliche Hilfstruppe der Deutschen waren, und dass es sich bei den die Getöteten zwar um Italiener, aber zum großen Teil um jüdische Italiener und Regimegegner gehandelt hat.
Der Mussolini-Nostalgiker La Russa sprach dann ausgerechnet vor dem Jahrestag der Befreiung vom Faschismus am 25. April davon, dass in der Verfassung vom Antifaschismus nicht die Rede sei. Auf die vielseitige fassungslose Reaktion hin, da die Italiener doch die Verfassung insgesamt als Überwindung des Faschismus ansehen, ruderte er etwas zurück. Die Lega grenzte sich von ihm ab und deren führende Köpfe erklärten gezielt, dass sie den 25. April feiern werden.
Der Agrarminister Francesco Lollobrigida (FdI), Ehemann von Melonis Schwester, verstieg sich in einer Rede vor regierungsnahen Gewerkschaften zum Gebrauch des Begriffs „ethnischer Bevölkerungsaustausch“ durch die Immigration, den es zu vermeiden gälte. Kommentatoren wiesen darauf hin, dass dieses Narrativ schon von den Nationalsozialisten gebraucht wurde. Und auch hier ging die Lega auf Distanz, obwohl der Anführer Salvini die Partei mehr nationalistisch als separatistisch auszurichten anstrebt. Meloni versuchte einen Spin, in dem sie in einer Rede auf der Mailänder Möbelmesse sagte, dass sie es vorzöge, wenn statt der Immigranten mehr Frauen Arbeitsplätze einnähmen.
Mehr Staub aufgewirbelt als die Äußerung Lollobrigidas selbst hat allerdings eine krasse Karikatur von Natangelo, die Melonis Schwester im Bett im Vor-Gespräch mit einem Schwarzen darstellt. Diese Satire wurde im Parlament hochgespielt und sogar von PD-Abgeordneten verurteilt. So wurde das Nazistische des ursprünglichen Statements mit der Diskussion über „was Satire darf“ zugedeckt. Nur einige Karikaturisten und andere sprangen Natangelo zur Seite, der mittlerweile mit der Zeichnung eines Bettgesprächs von Lollobrigida mit seiner Frau noch nachgelegt hat.
Angesichts der Fehltritte und Mängeln in der Amtsführung lässt die Qualität des Regierungspersonals offensichtlich zu wünschen übrig, was sich besonders in Druck-Situationen zeigt. Dabei steht für Regierung und Fraktionsführung in den Parlamenten Personal von drei größeren und einer kleinen Partei zur Verfügung. Zu manchem schweigt Meloni, um nicht noch mehr Aufsehen zu erregen, bei anderem setzt sie etwas entgegen oder daneben, um die Sache abzuschwächen. Manchmal ruft sie allerdings sogar Minister zu Zurückhaltung auf, wenn besonders Eifrige den Fehler machen, sich auch noch mit Medien anzulegen.
Bei den Parteien finden gerade wichtige personelle Weichenstellungen statt, die allerdings die Stabilität der Regierung nicht gefährden.
Berlusconi ist schwer krank. Zu einer chronischen Leukämie kamen akute Krankheitsbilder. Er wird von seinem Leibarzt im Mailänder St. Raphael-Krankenhaus behandelt und ist nach wochenlangem Kampf von der Intensivstation zurück. Die Besuche in dieser Zeit deuten darauf hin, dass er noch seinen politischen Nachlass zu regeln sucht. Die Geschäfte hat er zumeist schon früher unter den Kindern und Bruder verteilt. Wenn er sie nicht mehr mit seinen Mitteln unterstützt, wird die Partei Forza Italia schwächer werden. Es werden voraussichtlich Auseinandersetzungen über die Linie und Führung ausbrechen und Schlüsselpersonen werden sich neu orientieren. Es ist aber wenig wahrscheinlich, dass die Reste in die Opposition gehen, da sie davon wenig Vorteile haben.
Die neue PD-Vorsitzende Elly Schlein hat eine kleine Euphorie-Welle bei deren potenziellen Wählern ausgelöst, die endlich ein klareres Profil der PD erwarten. In Umfragen liegt PD seither wieder vor der Fünfsterne-Bewegung, mit der Schlein anders als Vorgänger Enrico Letta wieder Bündnisse eingeht.
Das sich als liberal positionierende Zweckbündnis von Carlo Calenda und Matteo Renzi mit der Bezeichnung Terzo Polo ist am Egoismus zerbrochen. Renzi hält an seiner gut dotierten Verbindung zu Moḥammad bin Salmān Āl Saʿūd fest und hat die Leitung der Zeitung „il Riformista“ des Unternehmers Alfredo Romeo übernommen, was Calenda nicht von seinem Partner hinnehmen will. Dem Bündnis hatten sich auch Ehemalige von Berlusconi angeschlossen. Statt einer 7 bis 8%-Partei, die in Umfragen mit Lega und FI gleichauf lag, gibt es somit wieder zwei Parteien, Azione und Italia Viva, die etwa gleichauf mit den Linksgrünen und der Europapartei liegen, die alle Schwierigkeiten mit der 3% Prozent Hürde haben werden. Es spricht also nichts dafür, dass die Mehrheit der Regierung kippt. Auch wenn die Regierungsparteien in der Summe in den Umfragen leicht verlieren, wobei Meloni und ihre FdI klar vorn bleiben, die 60% der Sitze sind davon nicht betroffen. Sie könnte noch ein Abbröckeln ertragen.