Kaum ein wissenschaftliches Werk hat die sozial-ökonomischen Debatten des 20. Jahrhunderts dermaßen inspiriert wie „Das Kapital“; die sog. „Bibel der Arbeiterbewegung“. Aber keine Theorie wurde vom heute tonangebenden neoliberalen Mainstream der Wirtschaftswissenschaften auch so hartnäckig ignoriert wie die Marxsche „Kritik der politischen Ökonomie“, wie der Untertitel lautet. Diese Ignoranz hat die Analysekapazität der Disziplin erheblich reduziert. Durch ihre Fixierung auf das Marktgeschehen ist es ihr kaum möglich, Krisen vorauszusagen oder zumindest nachträglich angemessen zu erklären. Auf dem Markt werden ihr zufolge doch angeblich immer nur Äquivalente getauscht. Wie kommt es dann aber, dass die Geldmenge bzw. der Gesamtwert einer Wirtschaft wächst? Diese scheinbar triviale Frage gilt es zu beantworten.
Was wurde uns nach der letzten Finanzmarktkrise an Krisendeutungen nicht alles geboten: von raffgierigen Bankern war die Rede; von korrupten Südländern; von der Überschuldung dieser Länder usw. Und was waren die Schlussfolgerungen aus all dem? DieVerfechter einer strikten Haushaltsdisziplin befürworteten drakonische Sparprogramme, um die angehäuften Schuldenberge abzubauen. Dabei hält der aufgeblähte Finanzsektor die krisengeschüttelte Realwirtschaft in Wirklichkeit am Leben. Dies tut sie mit der wichtigsten Ware, die in der Finanzsphäre produziert wird: dem Kredit. Das von wuchernden Schuldenbergen gekennzeichnete Weltwirtschaftssystem läuft auf Pump: Der Finanzsektor schafft die kreditfinanzierte Nachfrage, die es einer äußerst produktiven Realwirtschaft ermöglicht, ihre Warenberge überhaupt noch abzusetzen. Die Absurdität der Systemkrise tritt voll zutage: Die Industrie produziert immer mehr Waren mit immer weniger Arbeitskräften in immer kürzerer Zeit und kann diese nur verkaufen, weil der Finanzsektor abartig hohe Schulden macht. Nach Marx stellt „der Kredit das innerste Geheimnis des Kapitalismus dar.“
Neoliberale Wirtschaft liefert keine Erklärung
Trotz aller Sparbemühungen, die manche Zumutungen für die Gesellschaften mit sich bringen, betrugen die globalen staatlichen Schulden 2014 rund 286 Prozent der tatsächlichen Weltwirtschaftsleistung, während es 2000 – also vor der Krise – erst 246 Prozent waren. Selbst das geschundene Griechenland, das man mit rabiaten Spardiktaten an den Rand des wirtschaftlichen Zusammenbruchs trieb, hat heute eine größere Verschuldung in Relation zum schwindsüchtigen Bruttoinlandsprodukt aufzuweisen, als vor dem Krisenausbruch. Zu all diesen Merkwürdigkeiten hat die herrschende neoliberale Wirtschaftstheorie kaum Erklärungen anzubieten. Sie versagt auch dort, wo es gilt, die Dynamik der Globalisierung, die zur wachsenden Kluft zwischen dem obszönen Reichtum Weniger und dem Elend großer Teile der Menschheit führt, zu erklären.
Mathias Greffrath, der soeben einen Sammelband zum Erscheinen des „Kapitals“ herausgegeben hat, schreibt in seinem Beitrag: „Unter dem Eindruck der multiplen Krise des globalisierten Kapitalismus, denken nicht nur Marxisten über das mögliche Ende der kapitalistischen Produktionsweise nach. Die Weltwirtschaft hat sich von den Exzessen der Finanzspekulation noch nicht erholt; die Ökonomen reden von einer ‚säkularen Stagnation’; die nächste technologische Revolution (die sog. Digitalisierung; Anm.J.F.) lässt eine gigantische neue Welle der Arbeitslosigkeit erwarten: Millionen von Menschen, die auf dem globalen Markt nicht nachgefragt werden, machen sich auf die Wanderschaft, und die Temperatur in der Atmosphäre steigt stetig. ‚Das kapitalistische System passt nicht mehr in diese Welt’ – längst sagen das daher nicht nur übrig gebliebene Linke.“
Nicht die Gier, sondern die Konkurrenz
Marx erhebt den Anspruch, „das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft“ entdeckt zu haben. Das setzt einen weitaus komplexeren Untersuchungsansatz voraus, als ihn die Mainstreamökonomie aufweist. Sein Ziel ist, die Dynamik der Kapitalakkumulation zu erklären. Zu diesem Zweck muss er die Entwicklung der Produktivkräfte, der Technologie, die Veränderung der Arbeitsbedingungen, die sozialen Auseinandersetzungen um den Lohn, den Kampf um die Länge des Arbeitstages und die Intensität der Arbeit und nicht zuletzt die Konkurrenz unter den Kapitalbesitzern in Augenschein nehmen. Nicht die Gier, sondern die Konkurrenz auf dem Markt zwingt den Kapitalisten, so rationell und billig wie möglich zu produzieren, was im Umkehrschluss bedeutet, die Arbeitskräfte so optimal wie möglich auszubeuten. Darin sieht Marx den Ursprung aller latent vorhandenen oder offen ausgetragenen Klassenkonflikte und eine der Triebfedern der kapitalistischen Entwicklung.
Nach Marx ist es die Arbeit, die die Gebrauchsdinge schafft und deren Wert bestimmt sich durch die zu ihrer Produktion notwendige Arbeitszeit. Aus dieser Einsicht hat die Arbeiterbewegung lange Zeit ihre Identität und ihr Selbstbewusstsein bezogen. Bei der Arbeitskraft, die der Kapitalist auf dem Markt wie eine gewöhnliche Ware kauft, handelt es sich um eine ganz besondere Ware. Sie verfügt nämlich über die wundersame Eigenschaft, mehr Wert zu produzieren als zu ihrer Reproduktion erforderlich ist. Der Kapitalist zahlt dem Arbeiter nur den Wert, der erforderlich ist, um seine Arbeitskraft zu erhalten, sie mit den normalen Lebenshaltungskosten für Nahrung, Wohnung, Gesundheit usw. zu versorgen.
Menschliche Arbeit hält den Prozess in Gang
Um diesen Wertanteil zu schaffen, benötigt der Arbeiter nur einen Teil des Arbeitstages; den Rest des Tages arbeitet er für den Kapitalisten. In dieser Zeit produziert er den sog. Mehrwert, der dadurch entsteht, dass der Käufer der Arbeitskraft, also der Kapitalist, die menschliche Arbeitskraft mit Maschinen und Rohstoffen kombiniert. Mit der fortschreitenden Entwicklung der Produktivkräfte nimmt der Anteil der in den Produktionsmitteln vergegenständlichten Arbeit gegenüber der lebendigen Arbeit stetig zu. In den Begriffen von Marx: Das konstante Kapital (Maschinen etc.) wächst, während das variable Kapital (die Arbeit) in Relation dazu abnimmt. Eine der Ursachen für den „tendenziellen Fall der Profitrate“, die Marx im 3. Band des „Kapitals“ analysiert.
Gleichwohl ist es die menschliche Arbeit, die den Prozess in Gang hält. Dazu heißt es im „Kapital“: „Eine Maschine, die nicht im Arbeitsprozess dient, ist nutzlos. Außerdem verfällt sie der zerstörenden Gewalt des natürlichen Stoffwechsels. Das Eisen verrostet, das Holz verfault. Die lebendige Arbeit muss diese Dinge ergreifen, sie von den Toten erwecken, sie aus nur möglichen in wirkliche und wirkende Gebrauchswerte verwandeln.“
Es stellt sich die Frage, ob man mit der auf der Werttheorie fußenden Kategorie des Mehrwerts auch gegenwärtige ökonomische Prozesse noch erklären kann. Nun: immerhin reagieren die Unternehmer auf schrumpfende Profite, immer noch in der gleichen Weise wie zu Beginn der kapitalistischen Entwicklung: durch die Verdichtung der Arbeit; Absenkung der Löhne; Verlängerung der Arbeitszeiten; Entlassungen und Schwächung der Gewerkschaften. Marx hat die gesamtgesellschaftlichen Tendenzen und Mechanismen der Kapitalakkumulation ausführlich dargestellt und kommt zu der Schlussfolgerung: „Geld“ oder „Kapital“ allein arbeiten nicht; sie „erwirtschaften“ auch keine Rendite. Ebenso ist es mit dem „Wissen“, dem angeblich neuen „Produktionsfaktor“.
Ungeheure Renditen von Amazon und Google
Wenn Marx beim Übergang vom Handwerk zur Maschinenproduktion davon spricht, dass damit „Muskelentwicklung, Schärfe des Blicks, Virtuosität der Hand“ in die Maschine wandern, so sind es heutzutage Arbeitsroutinen und der Erfahrungsschatz von Arbeitern, die in die Algorithmen der Informationstechnik fließen. Dazu heißt es bei Greffrath: „ In Generationen erarbeitetes Expertenwissen wird in Software verwandelt, als ‚geistiges Eigentum“ patentiert und erscheint so als Eigenschaft des Kapitals. So wie zu Beginn des neuzeitlichen Kapitalismus…“ Und er fährt fort: „Die ungeheuren Renditen von Microsoft, Amazon, Google und Facebook entstehen ja weniger dadurch, dass sie der Welt eine neue Dimension hinzufügen, als dass ihre Algorithmen das bestehende System von Produktion, Zirkulation und Kommunikation rationeller, schneller und billiger machen. ‚Business at the speed of thought’ – so formulierte Bill Gates den utopischen Fluchtpunkt der Kapitalverwertung: Die Produktionssoftware steigert die Produktivität, spricht den relativen Mehrwert der Arbeit.
Das Internet als Logistikwerkzeug beschleunigt den Umschlag der Waren, als universale Kommunikationsmaschine horcht es Kunden aus und stupst die Bedürfnisse an. Und wenn das alte Fabriksystem einerseits die Kooperationsdichte der Gesellschaft erhöhte, andrerseits die Entfremdung der Arbeiter auf die Spitze trieb, ermöglicht das Internet einerseits die universelle Kommunikation, andererseits neue Formen der Ausbeutung.“ Es isoliert die Individuen, die vor ihren Rechnern sitzen und dabei keine Arbeitszeitbegrenzung mehr kennen. Keine Gewerkschaft kann ihnen mehr helfen: Sie sind die freien Verkäufer ihrer Arbeitskraft und dabei fast ebenso schutzlos wie die Tagelöhner von damals.
Markt wird Ungleichheit und Armut nicht lösen
Zu allen Zeiten haben sich die sogenannten Eliten das von den Menschen geschaffene Mehrprodukt angeeignet; oft durch Gewalt, neuerdings über den Tausch oder durch Verträge. Im Kapitalismus nimmt das Mehrprodukt die Form des Mehrwerts an, setzt die grenzenlose Akkumulation von Kapital in Gang und lässt die Produktivkräfte explodieren. Die Arbeitszeit, die für die Produktion notwendiger Gebrauchswerte aufgewendet werden muss, schrumpft, während die Anhäufung von Kapital in den Händen weniger Reiche sich beschleunigt. Dieses Kapital sucht nach immer neuen Anlagemöglichkeiten und drängt immer häufiger in Bereiche der Grundversorgung wie Bildung, Gesundheit und Sicherheit, aber eben auch in die Finanzspekulation und in die Vermarktung der letzten Ressourcen an Rohstoffen. Der Markt wird das Problem der Ungleichheit und Armut nicht lösen; auch nicht die Zerstörung der Natur oder den globalen Klimawandel aufhalten. Ob die schwächelnde parlamentarische Demokratie zu deren Regulierung in der Lage ist – daran bestehen zunehmend Zweifel.
Was also hat uns Marx heute noch zu sagen? Nun – ganz allgemein gesprochen – lehrt Marx uns die Dinge anders zu sehen, als die neoliberale Ideologie und viele Medien es uns weismachen. Nach der Lektüre des „Kapitals“ denkt man vielleicht einmal darüber nach, wer die Arbeit „gibt“ und wer sie „nimmt“; unter welchen Bedingungen gearbeitet wird; wem der technologische Fortschritt zugute kommt; wie der Reichtum der Gesellschaft erwirtschaftet und verteilt wird. Aber auch Begriffe, die immer wieder unbedacht verwendet werden wie: der Mensch als „Faktor Arbeit“, als „Humankapital“, als „flexible Ressource“ werden einem nicht mehr so leicht über die Lippen kommen. Und man wird verstärkt darüber nachdenken, was es für das künftige Leben der Menschen und die naturlichen Ressourcen bedeutet, wenn die Ökonomisierung aller Bereiche unter dem Gesichtspunkt der Profitabilität weiter voranschreitet.
In einer Zeit, in der viele Menschen ahnen, dass es so wie bisher nicht weitergeht, wäre es vielleicht sinnvoll, einmal darüber nachzudenken, wie eine Gesellschaft organisiert werden könnte, in der sich „jeder nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen“ einbringen könnte. Auf die Frage nach dem Subjekt einer solchen Veränderung pflegte der leider viel zu früh verstorbene französische Soziologe Pierre Bourdieu zu antworten: „Na ja, das sind diejenigen, die es machen.“ Marx würde wohl sagen, es ist der „globale Gesamtarbeiter.“