Sie sind zu Beginn der Corona-Krise zur Vorsitzenden des Deutschen Ethikrats gewählt worden. Haben Sie damit gerechnet, dass uns diese Pandemie so lange beschäftigen wird?
Buyx: Wir haben uns im Ethikrat schon gedacht: Da kommt etwas uns zu. Natürlich haben wir ganz am Anfang nicht vorhergesehen, dass uns die Corona-Pandemie zwei Jahre später immer noch so intensiv beschäftigen würde. Aber dass es länger gehen wird und auch viele ethische Fragen entstehen werden, war absehbar.
Wie hat die Corona-Pandemie die Arbeit des Ethikrats verändert?
Buyx: Wir arbeiten überwiegend online, und wir müssen teils sehr viel schneller reagieren. Darauf sind wir eigentlich nicht ausgelegt. Das übliche Format sind ausführliche Stellungnahmen, auch mal 300 Seiten lang, zu einer bestimmten ethischen Fragestellung. Aber das ist in Pandemiezeiten ein nur eingeschränkt geeignetes Format. Wir arbeiten inzwischen auch sehr viel kurzfristiger und häufiger mit kürzeren Empfehlungen.
Sie selbst sind vor allem durch ihre Fernsehauftritte zu einer Bekanntheit geworden. Wie vertragen sich wenige Minute Sendezeit mit den komplexen Themenstellungen des Ethikrats?
Buyx: Es ist eine gesetzliche Aufgabe des Ethikrats, ethische Debatten in der Gesellschaft zu fördern. Ich betone das deshalb, weil manchmal gefragt wird, warum ich so oft im Fernsehen bin. Das gehört zur Rolle, wir wollen ja möglichst viele Menschen erreichen. Zugegeben ist es aber schwierig, über ethische Fragen in eineinhalb Minuten oder auch nur 25 Sekunden zu sprechen. Denn Ethik ist ja dadurch gekennzeichnet, dass sie teils keine einfachen Antworten gibt, sondern etwa Konflikte oder Abwägungsprozesse offenlegt. Aber wir bemühen uns, auch in diesen kurzen Wortbeiträgen, möglichst präzise und verständlich die Kernpunkte zu transportieren. Das funktioniert nicht immer, dessen bin ich mir bewusst.
Wurden Sie in dieser Pandemie – wie andere Wissenschaftler und Politiker – ebenfalls zur Zielscheibe von Unmut?
Buyx: Der Ethikrat wird im Großen und Ganzen wertgeschätzt für seine Arbeit. Es wird wahrgenommen, dass wir einen Beitrag leisten, die schwierigen ethischen Entscheidungen, die derzeit anstehen, besser zu verstehen. Aber wie viele andere wissenschaftlich beratende Gremien sind auch wir konfrontiert mit negativen Rückmeldungen, in denen uns mitunter sogar Hass entgegenschlägt. Ich frage mich schon, woher das kommt.
Eines der umstrittensten Themen ist derzeit die Impfpflicht. Spielt es für die Bewertung des Ethikrats eine Rolle, dass sich in Umfragen Zweidrittel der Bevölkerung für eine allgemeine Impfpflicht aussprechen?
Buyx: Die ethische Analyse geht nicht von Umfragen aus, aber gesellschaftliche Akzeptabilität ist ein Argument, das mitbedacht werden muss – vor allem bei der Analyse der Folgen einer Entscheidung. In dem Papier zur Impfpflicht, das wir vorgelegt haben, wird entsprechend die Tatsache, dass ein Großteil der Bevölkerung der Impfplicht inzwischen positiv gegenübersteht, erwähnt.
Die Debatte über die Impfpflicht wird in Deutschland seit vielen Monaten geführt, andere Länder haben sie bereits eingeführt. Ist die Zeit für einen Beschluss des Bundestages nicht reif?
Buyx: Wir haben unterstrichen, dass es nicht um eine Maßnahme für die aktuelle Welle geht. Zudem ist es aus ethischer Perspektive richtig, dass die Impfpflicht ausführlich, auch im Bundestag, diskutiert wird, weil sie ein gesellschaftlich kontroverses Thema ist. Für und Wider einer Impfpflicht müssen transparent auf den Tisch. Es ist nicht unsere Aufgabe zu sagen, wie lange das dauern darf.
Die unterschiedlichen Positionen der Abgeordneten sind bei der Orientierungsdebatte deutlich geworden: Ablehnung, Impflicht ab 18, Impfpflicht ab 50 Jahren. Wohin tendiert der Ethikrat?
Buyx: Genau diese drei Positionierungen finden Sie auch im Ethikrat. Vielleicht hatte unser Orientierungspapier zur Impfpflicht, das wir im Dezember vorgelegt haben, sogar einen Effekt auf die Abgeordneten im Bundestag. Jedenfalls erkenne ich in den Vorschlägen, die bislang vorgelegt wurden, durchaus Argumente wieder.
Stehen Sie eher auf der Ja- oder der Nein-Seite?
Buyx: Unsere Empfehlung ist mehrheitlich auf der Ja-Seite, aber eben ein qualifiziertes Ja. Wir haben darauf hingewiesen, dass flankierende Maßnahmen notwendig sind, damit eine Impfpflicht ethisch akzeptabel und verhältnismäßig ist. Es muss beispielsweise eine sehr gute Impfinfrastruktur geben und zielgruppenorientierte Kommunikation, wir haben auch personalisierte Einladungen vorgeschlagen. Da war und ist in Deutschland Luft nach oben. Für die Politik wäre es vermutlich einfacher gewesen, wir hätten ganz klar ja oder nein zur Impfpflicht gesagt. Aber so einfach geht das nicht. Es ist ein komplexes Thema, das auf eine komplexe Realität trifft.
Die Corona-Verordnungen dienten auch der Vermeidung der „Triage“. Das Bundesverfassungsgericht hat Ende letzten Jahres ein Urteil zur „Triage“ veröffentlicht und die Politik aufgefordert, eine gesetzliche Regelung dafür zu treffen. Was empfehlen Sie?
Buyx: Wir haben uns vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zweimal mit diesem Thema beschäftigt. In der Ad-hoc Empfehlung von Ende März 2020 haben wir die Kriterien unterstrichen, nach denen aus ethischer und verfassungsrechtlicher Perspektive nicht ausgewählt werden dürfte – beispielsweise Alter, Behinderungen oder Vorerkrankungen. Das ist sehr kompatibel mit dem, was Karlsruhe jetzt entschieden hat. Mit seinem Urteil und der Forderung nach einer gesetzlichen Regelung hat das Bundesverfassungsgericht einen klaren Pflock eingeschlagen. Ich bin selbst gespannt, wie der Gesetzgeber das angehen wird.
Aber Sie werden als Ethikrat nicht aktuell noch einmal Stellung beziehen?
Buyx: Das ist gegenwärtig nicht geplant, weil wir ja schon ganz prinzipielle Überlegungen vorgestellt haben. Zusätzlich hatten wir im März 2021 auch noch eine Veranstaltung zu dem Thema. Alle Materialien – die Sammlung verschiedener Positionen aus mehreren Perspektiven, rechtlich, ethisch, psychologisch, medizinisch, politisch – sind online noch verfügbar. Damit haben wir hoffentlich eine gute Plattform für die anstehenden Debatten geboten.
Es wird zuweilen von Experten und Wissenschaftlern kritisiert, dass die Politik ihre Empfehlungen nur sehr unzureichend umsetzt. Ist das auch Ihre Erfahrung?
Buyx: Ich weiß nicht, ob das so zutrifft, aber klar ist, dass Wissenschaft und Politik unterschiedlichen Logiken folgen. Außerdem beraten wir die Politik ja nur, teilweise werden unsere Empfehlungen umgesetzt, aber manche eben auch nicht. Wissenschaft sucht nach der besten Lösung, Ethik sucht nach der guten und richtigen Lösung, und gibt nicht immer eindeutige und einhellige Empfehlungen. Politik sollte – evidenz- und wissenschaftsbasiert – entscheiden, darf aber natürlich auch andere Aspekte in ihre Entscheidungen einfließen lassen, die gesellschaftlich relevant sind. Aber gerade in einer Pandemie ist es schon wünschenswert, dass die Empfehlungen von wissenschaftlichen Gremien Gehör finden.
Parlamente und Regierungen sind demokratisch legitimiert, Sie als Ethikrat nicht. Spielt das auch eine Rolle?
Buyx: Das ist nicht ganz richtig. Der Ethikrat ist auf gesetzlicher Grundlage eingerichtet und daher durch das Parlament sehr wohl demokratisch legitimiert. Letztlich entscheidet am Ende aber ohnehin immer die Politik – und trägt dann natürlich auch die Verantwortung. In unserer ersten Empfehlung zur Pandemie stand: „Die Corona-Krise ist die Stunde der demokratisch legitimierten Politik.“ Eine kluge Politik tut natürlich gut daran, auf qualitätsvolle Wissenschaftsberatung zu hören.
Ist es denn in den vergangenen zwei Jahren gut gelungen, die verschiedenen Blickwinkel auf die Pandemie zu berücksichtigen oder kann die kritische Aufarbeitung der Corona-Krise erst beginnen, wenn sie hinter uns liegt?
Buyx: Wir arbeiten gerade an einem Papier, das sich mit diesen Fragen beschäftigt, daher kann ich dazu hier inhaltlich nicht viel sagen. Aber ganz sicher sollte Aufarbeitung nicht erst beginnen, wenn alles vorbei ist.
Können Sie schon mal eine Zwischenbilanz ziehen?
Buyx: Eines steht fest: Das war für alle von uns eine Zeit enormer Belastungen und Verluste, auch großer Verunsicherung. Die gesamte Gesellschaft war und ist aufs Äußerste herausgefordert…
… und gespalten?
Buyx: Ich halte das für ein falsches Bild. Gespalten – da denkt man an einen Riss mitten durch die Gesellschaft. Das sehe ich nicht. Es gibt sicher verschiedene Gruppen, die sehr unterschiedliche Standpunkte einnnehmen, es gibt auch Beeinflussung durch Fake News und Desinformation und vielleicht auch manche Menschen, die temporär ganz aus der Diskussion ausgestiegen sind. Was uns alle aber eint, ist eine große Erschöpfung, das Bedürfnis, dass diese Pandemie ein Ende hat. Diese Pandemie ist uns allen gleichzeitig passiert, einzelne Gruppen sind teils natürlich noch einmal besonders stark betroffen. Aber alle haben eine Krise durchgemacht. Dadurch entstanden sind Bruchstellen und Verletzungen, der öffentliche Diskurs ist gerade ruppiger, gereizter.
Mit welchen Folgen?
Buyx: Wir sind seit zwei Jahren in einem Ausnahmezustand, deshalb dürfen wir alle ausgelaugt und müde sein, vielleicht auch trauernd. Da ist ein Weg vor uns, des Lernens, des Heilens. Aber das hat wenig mit der Vorstellung einer gespaltenen Gesellschaft zu tun.
Gibt es denn auch etwas, worüber Sie sich in den letzten beiden Jahren gefreut haben?
Buyx: Wir haben bei aller Belastung auch eine enorme Resilienz erlebt. Im Großen wie im Kleinen. Der Rechtsstaat beispielsweise funktioniert, unsere Versorgung auch, entgegen allen diffusen Ängsten zu Beginn der Pandemie. Und ich wünsche mir, dass wir bei allen Sorgen und Nöten auch einmal festhalten, was mir seit zwei Jahren im privaten wie im beruflichen Umfeld immer wieder begegnet: Ich sehe überall und andauernd Menschen zu Höchstleistungen auflaufen, weit über den Dienst nach Vorschrift hinaus – Eltern und Kinder, medizinisches und Pflegepersonal, Arbeitgeber und Arbeitnehmer in den unterschiedlichsten Branchen, Ehrenamtliche in Vereinen und so viele mehr. Das ist inspirierend.
Wie viel mehr mussten Sie im Ethikrat denn leisten in dieser Zeit?
Buyx: Es war schon deutlich mehr, teils bis an die Kapazitätsgrenzen, weil alle ja noch einen Beruf ausfüllen. Aber insgesamt sind wir verhältnismäßig privilegiert gewesen, wir haben nicht in auf der Intensivstation geschuftet, waren keinem Risiko ausgesetzt an der Kasse im Supermarkt. Ich mag da nicht meckern, das wäre unangemessen. Es war intensiv, so viel haben wir noch nie produziert, und das alles virtuell: Versuchen Sie mal, mit 24 Leuten einen gemeinsamen Text über hochkomplizierte ethische Fragen zu schreiben, die alle voneinander getrennt in ihrem Homeoffice sitzen. Aber da hatten es andere sehr viel schwerer.
Dieses Interview erschien als Erstveröffentlichung am 19.2.2022 in der Südwest Presse