Schon 1985 hat der New Yorker Medienforscher Neil Postman vor den Folgen des totalen Entertainments vor allem im Fernsehen gewarnt: „Wir amüsieren uns zu Tode.“ Fast vier Jahrzehnte später leben wir aber noch, und gerade die junge Generation fühlt sich doch offenkundig wohl in einer digitalen Medienwelt, die weit mehr für Zerstreuung und Ablenkung sorgt als das gute alte TV-Programm. Hat Postman also übertrieben?
Pörksen: Natürlich, denn er liebte die Zuspitzung, die erhellende Polemik im Dienste einer warnenden Aufklärung für möglichst breite Kreise. Aber eigentlich hoffte dieser liebenswürdige Totalpessimist, dass er nicht Recht behalten würde. Und doch sind seine Diagnosen in der Rückschau betrachtet prophetisch. Er hat die Fake-News-Schwemme vorausgesagt, die Schwächung des Journalismus und den Triumph der Desinformation. Und prognostiziert Wenn sich Politik an den Kategorien des Unterhaltungsbusiness orientiert, wird irgendwann der größte Medienclown zum Präsidenten. Kurios: 1985 schreibt er, man könne diesen Medienclown an seiner speziellen Frisur erkennen. Hier fehlt eigentlich nur noch ein Name. Donald Trump.
Zahllose Influencer und Creators tummeln sich auf den bekannten Plattformen, mit teilweise beachtlichen Klickzahlen. Sind das die neuen „Meinungsführer“ („opinion leaders“)?
Insbesondere für junge Menschen trifft das zu. Und eben diese Nähe zu einer attraktiven Zielgruppe macht Influencer für die Werbung so attraktiv. Die Kaufbotschaft, das ist das Wirkungsrezept, kommt hier als vermeintlich unabhängige, daher besonders vertrauenswürdige Empfehlung eines scheinbar mitfühlenden Freundes daher, den man in Wahrheit gar nicht kennt, dem man sich aber doch verbunden fühlt, weil er so nett erklärt, was man heute Abend bitte anziehen sollte. Allerdings: Die Influencer-Szene ist einigermaßen heterogen. Es gibt Sinnfluencer, die für ein nachhaltiges Leben werben, hoch spezialisierte Nischeninfluencer, die sich auf Finanztipps, die Restauration alter Gartenmöbel, spezielle Ernährungsformen oder auch auf das eigene Haustier konzentrieren. Und: Den wenigen sogenannten Mega-Influencern mit zahllosen Followern steht ein riesiges Marketingproletariat gegenüber, das weitgehend ohne Erfolg den Traum vom schnellen Geld träumt und sich mehr oder minder verzweifelt darum bemüht, die Zahl der Klicks, Likes und Shares, die zentrale Währung im Aufmerksamkeitsgeschäft, hochzutreiben.
Womit haben wir es da zu tun: Mit Journalismus oder Infotainment, Publishing oder PR, Statement oder Werbung?
Die journalistische, seriös ausrecherchierte, mit Quellen gespickte Präsentation kommt vor, ist aber selten – man denke nur an Rezos Video zum Versagen der Klimapolitik, ein Positivbeispiel der präzisen Analyse. Dominant ist jedoch in der Regel ein Mischprogramm aus Infotainment im Verbund mit handfesten kommerziellen Interessen sowie Kooperationen und den daraus resultierenden Produkten in Gestalt von Kleidern, einem Parfüm, einer Spezial-Pizza, irgendeinem Modegetränk.
Warum sich aus wissenschaftlicher Perspektive dann überhaupt damit befassen?
Hier sieht man die Gesetze von Öffentlichkeit wie unter einem Brennglas – die Mischung aus Totalkommerzialisierung, Selbstvermarktung, simulierter Nahbarkeit und untergründig wirksamer Plattformlogik. Und hier zeigt sich etwas, was man die Demokratisierung der Prominenz nennen könnte. Das bedeutet zum einen, dass die Barrieren im Kampf um Prominenz sinken und das Ringen um mediengerechte Selbstdarstellung breitere Kreise erreicht. Zum anderen heißt dies, dass die Mittel, jemanden medial zu feiern, unter den aktuellen Kommunikationsbedingungen allgemein zugänglich sind. Jeder kann heute, ein Smartphone in der Hand, ein Video liken, euphorische Kommentare posten, die Stars des Augenblicks und die persönlich-privaten Helden sehr direkt mit Zeichen der Anerkennung überhäufen. Noch einmal anders: Die klassische Filterinstanzen in Gestalt von Journalismus oder Showbusiness lassen sich umgehen. Und die Bühne steht heute jedem offen.
Ein Drittel der Mediennutzer verzichtet darauf, TV-Nachrichtensendungen anzuschauen, weil sie die Flut von negativen Meldungen über Kriege, Krisen und Katastrophen nicht ertragen. Sind da die schönen Botschaften über Reisen, Freizeit, Sport, Mode oder Gesundheit nicht sogar ein konstruktiver Beitrag gegen Angst und Pessimismus?
Sie haben Recht: Die Schrecken des Krieges und die ineinander verschlungen Krisen kommen unter den aktuellen Medienbedingungen ganz nah und rücken in einer neuartigen Wucht und Direktheit in den eigenen Lebenshorizont hinein. Aber die Schlussfolgerung, dass die Jubel-Botschaften und die geglätteten Traumbilder der Influencer hier den dringend nötigen Ausgleich schaffen, teile ich nicht. Mit gleichem Recht könnte man auch die Klatsch- und People-Magazine feiern, die mit frei Erfundenem eine Gegen- und Zauberwelt erschaffen. Das wäre Illusionstheater.
Was verspricht dann Abhilfe?
Eine Aufklärung anderer Art, qualifizierter Journalismus, der nicht nur sagt, was schlecht ist, sondern auch, was funktioniert. Eine solche Lösungsorientierung scheint mir in Krisenzeiten tatsächlich eine dringend benötigte Ermutigung. Dies alles nicht als Ersatz für harten investigativen Journalismus und unvermeidlich deprimierende Enthüllungen, sondern als Ergänzung, als Korrektiv – auf dem Weg zu einem geistig verträglicheren Mischprogramm.
Wie gefährlich wird es, wenn sich die modernen „Meinungsführer“ in den Dienst von Populisten, Verschwörungsideologen oder radikalen Parteien stellen?
Das ist gleich aus einem doppelten Grund brisant. Zum einen, weil die angebliche Vertrauens- und Glaubwürdigkeit der Influencer-Persönlichkeit wie ein geistiger Türöffner wirkt, Abwehrmechanismen auszuschalten vermag. Die Konsequenz besteht darin, dass die Überzeugungsarbeit – ganz gleich, ob es Ideologie oder um Beauty-Produkte geht – effektiver wird. Zum anderen sind Populisten besonders gut darin, die Anreize der Plattform-Algorithmen zu bedienen, sie für eigene Zwecke zu nutzen, wie verschiedene Studien belegen. Hier zeigt sich dann eine Art Hochrüstung im Empörungswettbewerb an der Schnittstelle von Ideologie und Technologie. Algorithmen liefern Wut- und Entrüstungsanreize, Populisten bedienen sie perfekt. Die Folge: eine allgemeine Überhitzung des Kommunikationsklimas.
Müssen demokratische Institutionen und politische Parteien ihrerseits verstärkt auf diese Multiplikatoren setzen, um ein junges Publikum zu erreichen?
Gewiss. Aber sie müssen, eben darin liegt ein kommunikatives Dilemma, auf eine unvermeidlich vorsichtigere, fragendere Art für die eigenen Positionen eintreten, letztlich orientiert an den Idealen von Aufklärung, Mündigkeit, Vernunft.
Zur Person
Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Im März 2024 erhält er den Erich Fromm-Preis für seine Konzepte zur Medienmündigkeit. Letzte Buchveröffentlichung: „Die Kunst des Miteinander-Redens“ (gemeinsam mit Friedemann Schulz von Thun).
Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht in Südwest Presse am 23.2.2024
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