Mir geht es wahrscheinlich so wie vielen „Gelockdownten“. Wir halten uns an Maskenpflicht, Hygieneempfehlungen, Kontakteinschränkungen und Ausgangssperre. Aber das Thema Pandemie geht uns gewaltig auf die Nerven. Ich bin mittlerweile so weit, dass jedes Nachrichten-„Spezial“ oder –„Extra“ im Fernsehen für mich ein echter Ausschaltimpuls ist. Die neuesten Beschlüsse von Bundesregierung und Landesregierungen kenne ich dank Internet ohnehin schon, da habe ich keine Lust auf Sendungen, die mir das noch einmal erzählen und das je nach vermuteter Bedeutung garniert mit den Statements diverser Politiker und mindestens fünf Meinungen von zwei Experten gestreckt auf 15 oder mehr Minuten.
Ich gestehe: Auch wenn das Thema Pandemie und Corona in den Nachrichtenredaktionen noch immer Hochkonjunktur hat, ich beschränke mich auf die „News to use“ -also auf das, was für mich und meinen Alltag wichtig ist. Den Streit darüber ob und wann Frisöre, Läden und Wirtschaften wieder aufmachen und die Kinder wieder in die Schule dürfen, erspare ich mir inzwischen. An meiner Abstinenz ändern auch die krawalligen Schlagzeilen der Zeitung mit den ganz großen Buchstaben nichts, die jeden Tag „Schuldige“ für den erzwungenen Verzicht auf Urlaub im sonnigen Süden oder dem schleppenden Massen(?)impfen an den Pranger ihrer Seite Eins stellen. Den Apachen sagte man nach, sie konnten auch tote Pferde reiten. – in deutschen Redaktionstuben haben sie würdige Nachfolger gefunden.
Ich frage mich: Was ist eigentlich aus dem guten alten Brexit geworden, der uns im vergangenen Jahr so manches Nachrichten-„Spezial“ und „Extra“ einbrachte? Es gibt ihn auch im Schatten der medialen Aufmerksamkeit noch. Die Menschen in Großbritannien begreifen langsam „what Brexit realy means“ – was Brexit bedeutet. London hat in den vergangenen Wochen den größten Einwohnerschwund „seit dem Zweiten Weltkrieg“ erlebt. Von den knapp neun Millionen Bewohnern haben 700.000 der Metropole den Rücken gekehrt. Die meisten von ihnen sind Arbeitnehmer, die in ihre Heimatländer zurückgekehrt sind. Landesweit haben nach ernstzunehmenden Schätzungen 1,5 Millionen nicht britische Arbeitnehmer die Insel verlassen. Das hat vor allem mit der Corona-Situation zu tun. Wenn man sich mit Leuten aus der Londoner City unterhält, gewinnt man den Eindruck, dass dies erst der Anfang ist. Einige Bosse der Finanzwelt befürchten am Ende einen Verlust von 232.000 Jobs nur in dieser für die britische Volkswirtschaft so wichtigen Branche. Xavier Rolet, der Vorstandschef der Londoner Börse warnt vor dem Verlust des so genannten „Clearing“. Wenn nach dem Brexit kein auf Euro lautendes Abwicklungsgeschäft mehr in Britannia stattfinden darf, ginge mehr als jeder zehnte Job in der Finanzbranche dadurch verloren.
Im Vertrag über den Ausstieg Großbritanniens aus der EU wurde der Bereich „Börsen- und Bankgeschäfte“ nicht behandelt. In Frankfurt, Paris und Mailand ist die Freude darüber groß. Bedeutet es doch, dass an der London Stock Exchange ein Großteil der europäischen Aktien nicht mehr gehandelt werden dürfen. Die Schweizer Banker können davon ein Lied in Moll singen. Die drei größten Handelsplattformen Londons, „Cboe Europe“, „Aquis“ und „Turquoise“ haben bereits das Weite gesucht und in Europa gefunden. Die Gefahr ist groß, dass die „Brexiteers“ um Premierminister Boris Johnson jetzt das einreißen, was die „eiserne Lady“ Maggie Thatcher in der 80-er Jahren aufgebaut hatte.
Auch in Nordirland nehmen die Spannungen nach dem Austritt aus der EU spürbar zu. Der Verkehr britischer Waren leidet unter bürokratischen Hürden und Kontrollen in den Häfen Nordirlands. Zwar wird Nordirland gemäß dem Austrittsabkommen wie ein Teil der EU behandelt. Lieferungen über die irische See von und nach der britischen Insel gestalten sich wegen der eingerichteten Kontrollen aber einigermaßen aufwendig. Wenn Ende April und Ende Juni weitere „Gnadenfristen“ der EU ablaufen, drohen weitere Kontrollen. Für britische Lebensmittel, die in nordirische Supermärkte geliefert werden, müssen dann Gesundheitszertifikate vorgelegt werden. Das ist Wasser auf die Mühlen der nordirischen Unionisten. Sie hatten zum Sturz der britischen Premierministerin Theresa May beigetragen. Der Grund: May wollte eine regulatorische Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland vermeiden. Angesichts der aktuellen Situation fühlen sich die Unionisten von Johnson verraten. Gewalt droht! Die EU hat vor wenigen Tagen die Kontrolle britischer Waren in den Häfen ausgesetzt, als an Mauern gesprayte Morddrohungen gegen EU-Kontrolleuren auftauchten. Britische Zeitungen berichten, dass die Polizei Personen beobachtete, die sich die Auto-Kennzeichen der EU-Kontrolleure notierten. Die Sorge wächst, dass die Spirale der Gewalt in Nordirland wieder in Gang gesetzt wird. Das erkennt auch Boris Johnson, der die EU jetzt vor die Wahl stellt, entweder die „Gnadenfristen“ bis 2023 zu verlängern oder er sei gezwungen, einseitig die völkerrechtliche Vereinbarung aufzukündigen und eine harte Grenze zwischen Nordirland/Ulster und der Republik Irland einzurichten. Das Thema „What Brexit realy means“ hat bald wieder gute Chancen auf einen der vorderen Plätze in der Themen-Hitliste.
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