Koalitionsverträge sind von begrenzter Verbindlichkeit. Etwas konkreter als die Wahlversprechen der koalierenden Parteien beschreiben sie die Schnittmenge dessen, was den Vertragspartnern als realistisch, machbar, wünschenswert erscheint. Auf die Umsetzung ist kein Verlass, und zwar nicht nur dort, wo ein Finanzierungsvorbehalt ausdrücklich erwähnt wird.
Nach dem „Mehr Fortschritt wagen“ der Ampelkoalition, geht es Union und SPD nun um „Verantwortung für Deutschland“. Auf 146 Seiten haben sie ihre Kompromissbereitschaft dokumentiert und dabei bedacht, dass jeder etwas für sich Populäres zum Vorzeigen bekommt. In einem solchen, dem Kuhhandel ähnlichen Verfahren bleibt die Vernunft schnell mal auf der Strecke.
Um es an einem Beispiel konkret zu machen: Die Senkung der Mehrwertsteuer auf Speisen in der Gastronomie ist ein teures und unsinniges Geschenk an die Fastfood-Konzerne. Vor allem sie – und nicht etwa der Italiener um die Ecke oder das Bistro im Viertel, geschweige denn die Verbraucherinnen und Verbraucher – würden den dicksten Batzen von den jährlich vier Milliarden Euro bekommen, die dem Staat laut einer Berechnung des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) bei der Senkung der Mehrwertsteuer auf sieben Prozent entgehen.
Fraglich ist, ob die Steuersenkung sich überhaupt auf der Speisekarte niederschlagen wird. Außerdem können sich viele gar keinen Restaurantbesuch leisten. Die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch hält es für sinnvoller, über eine niedrigere Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse alle zu entlasten und damit zugleich klima- und gesundheitspolitische Ziele zu unterstützen. Ursprünglich war das auch eine Forderung der SPD.
Das staatliche Thünen-Institut, also die geballte wissenschaftliche Expertise an dem Bundesforschungsinstitut, stellt fest, dass eine Anpassung der Mehrwertsteuern „der Gesundheit, der Umwelt und der Ökonomie zugutekommen“ würde. Die Wissenschaftler schlagen eine Steuerbefreiung für Obst und Gemüse bei gleichzeitig höheren Steuern auf Fleisch und Milch vor. So könnten ihren Berechnungen zufolge die Steuereinnahmen um jährlich sieben Milliarden Euro steigen, zehn Millionen Tonnen CO₂-Emissionen eingespart werden, es gäbe 20.000 vermeidbare ernährungsbedingte Todesfälle pro Jahr weniger und es wären Einsparungen von sechs Milliarden Euro bei Umwelt- und Gesundheitskosten möglich.
Die Erkenntnis der Forschenden, dass sich eine entsprechende Reform der Mehrwertsteuer „positiv auf ernährungsbedingte Krankheiten, Umwelt, Konsum und Steuereinnahmen auswirken“ würde, lag schon während der Koalitionsverhandlungen vor, wurde aber geflissentlich ignoriert. Idealerweise soll der Kompromiss in der Demokratie die besten Lösungen hervorbringen; doch das setzt voraus, dass die Vernunft über parteitaktische Erwägungen und Lobby-Interessen siegt.
In der Kritik an der Koalitionsvereinbarung zur Mehrwertsteuersenkung für die Gastronomie weist foodwatch-Geschäftsführer Dr. Chris Methmann auf die engen Verflechtungen zwischen der CDU und dem begünstigten Wirtschaftszweig hin: „Die Verbindungen zwischen der Union und der Gastro-Lobby sind offensichtlich: Parteispenden, Wahlkampfhilfe und Sponsoring von McDonald’s. Kaum ist die Wahl vorbei, plant die CDU eine milliardenschwere Steuererleichterung für die Branche.“
Eine weitere Niederlage der Vernunft zeichnet sich mit der angekündigten Abschaffung der Bonpflicht ab. Seit der Einführung vor fünf Jahren als Maßnahme gegen milliardenschweren Steuerbetrug hat die CSU dagegen gestänkert. Jetzt zeigt ihre populistische Kampagne Früchte. Die Deutsche Steuer-Gewerkschaft kritisiert das Vorhaben der Rolle rückwärts. Ihr Bundesvorsitzender Florian Köbler spricht von einem „falschen Signal an die vielen Millionen Gewerbetreibenden“.
Sie könnten dem Ende der Bonpflicht die Botschaft entnehmen, dass die neue Bundesregierung es billige, wenn Einnahmen vorbei an der Steuer kassiert werden, kritisierte Köbler. Im vorigen Jahr beim MDR bezifferte er den „Gesamtbetrug“ vor der Bonpflicht auf jährlich 70 Milliarden Euro und bescheinigte der Neuregelung spürbare Wirksamkeit gegen Steuerhinterziehung.
Allerdings sei der Betrug immer noch „gigantisch“, und die Belegausgabepflicht sei ein wichtiges Instrument zu seiner Bekämpfung. Das von den Kritikern vielfach angeführte Argument des hohen Papierverbrauchs lässt Köbler nicht gelten. Der Bon könne der Kundschaft ebenso gut digital ausgestellt werden. Papier sei nicht vorgeschrieben.
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