In den letzten Jahrzehnten – Folge von Massenarbeitslosigkeit und expandierendem Niedriglohnsektor – haben sich in vielen deutschen Städten Armutszonen ausgebreitet, Altbaugebiete am Rand der City ebenso wie Hochhausviertel an der Peripherie. Langjährige staatliche Unterstützungsprogramme wie „Soziale Stadt“ haben nur bescheidene Verbesserungen gebracht.
Heute leben in dieser verrufenen und zugleich ziemlich unbekannten Welt vielleicht sieben Millionen Menschen, ein großer Teil von ihnen ausländischer Herkunft. Die Medien entwerfen oft ein verzerrtes Bild von den armen Stadtteilen, Kriminalität und die Integrationsdefizite eines Teils der Migrant*innen werden übertrieben dargestellt. Das Anziehende – die vielen Beispiele von Eigeninitiative und Solidarität, das farbige Leben in manchen Straßen, das Angebot an exotischen Geschäften oder Lokalen – wird ausgeblendet.
Den Alltag in diesen Vierteln bestimmen unterschiedlichste ethnische und religiöse Einflüsse – syrischer Rap und ghanaische Folklore, alevitische Feste und evangelikale Riten. Strategien der „Alltagsbewältigung“ – Konzentration auf Familienleben und Freundschaften, Sport, soziales Engagement – machen Armut manchmal erträglicher. Wie sind die Perspektiven der Armutszonen ? Viele Arme leben angesichts von stetem Stress in Apathie. Politischer Protest war und ist in Deutschlands vergessenen Stadtteilen selten. Möglich scheinen aber spontane, ziellose Gewaltausbrüche wie schon vielfach in Frankreich, den Niederlanden, England oder Schweden.
In den letzten 20 Jahren habe ich in den „aufgegebenen“ Vierteln von Duisburg, Düsseldorf, Berlin, Frankfurt/Main, Völklingen, Leipzig und Mannheim zahlreiche Interviews mit Menschen aus armen Bevölkerungsgruppen aufgezeichnet, vor allem für Radio-Features (darunter eine „Lange Nacht“ im Deutschlandradio). Manche habe ich mehrfach getroffen. Ich habe ihre oft farbig und prägnant erzählten Berichte gekürzt, aber sprachlich nicht „bearbeitet“.
Die Stimmung reicht von „Ich schaue in die Augen der anderen – und die sagen, ich bin kein Mensch !“ bis zu „Man darf sich nie aufgeben !“.
I. „ICH SCHAUE IN DIE AUGEN DER ANDEREN – UND DIE SAGEN, ICH BIN KEIN MENSCH.“
Auf der Flucht vor Armut
Radka L. aus Düsseldorf kam wie viele andere bulgarische Roma mit ihrer Familie nach Deutschland – eine junge Frau, intelligent, gutaussehend, zugleich sichtbar gestresst, fast verbittert. Sie fand Arbeit als Reinigungskraft in einem großen Hotel, zu schlechten Bedingungen.
RADKA L.
Ich hab mit diesem Hotel für acht Monate einen Vertrag. Für vier Stunden pro Tag. In diesen vier Stunden muss ich zwölf bis vierzehn Zimmer reinigen. Das ist unmöglich. Das ist geht nicht in dieser kurzen Zeit.
Die beschimpfen mich jeden Tag. In dem Vertrag steht, dass ich zwei Tage in der Woche frei habe. Ich bekomme aber diese zwei Tage nicht.
2 Euro 70 pro Zimmer ist die Bezahlung. 8 Minuten – inklusive Badezimmer. Ich kann nur kotzen. Ich kann so nicht arbeiten. Das ist unter meiner Würde.
Es ist eine Katastrophe. Es gibt aber keine andere Möglichkeit für mich.
Ich komme aus Bulgarien, bin verheiratet, habe drei Kinder. In Bulgarien gibt es keine Arbeit, deswegen bin ich hier, damit ich meine Kinder ernähren kann. Weil ich Bulgarin bin und weil ich aussehe wie eine Romni, gibt es hier keine andere Arbeit für mich.
Wir haben eine lebensgroße Angst. So viele Ängste habe ich in meinem Leben nie gehabt. Weil ich für mein tägliches Brot kämpfe.
Es ist mir sehr traurig. Ich bin kein Mensch hier. Ich schaue in die Augen der anderen
– und die sagen, ich bin kein Mensch.
Geschichten aus Deutschlands Armutszonen:
Teil II: „MAN DARF SICH NIE AUFGEBEN !“ Langzeitarbeitslose in Duisburg-Hochfeld
Teil III: „JEDER VON UNS LEISTET 300 ARBEITSSTUNDEN IM MONAT. MUSS SEIN“ Selbständige in den Armutszonen
Teil IV: „MEINE KINDER – DIE SIND DAS BESTE IN MEINEM LEBEN, DIE GEBEN MIR DIE KRAFT WEITERZUGEHEN“
Alleinerziehende im „sozialen Brennpunkt“