Welch unsinnige Frage? Ob ich Westdeutscher bin? Daran habe ich nie gedacht, ich habe mich immer als Deutscher gefühlt oder ein wenig als Westfale und Mensch aus dem Ruhrgebiet, wenn man es mehr regional sehen möchte. Wer über die Grenzen blickt, sieht sich als Europäer. Ich tue es. Und wenn ich mich umhöre in meinem Bekannten- und Freundeskreis, höre ich fast immer die Meinung heraus, dass sie sich als Deutsche fühlen und nicht als Westdeutsche. Wir sind aber keine Nationalisten, auch wenn wir laut über einen Sieg der deutschen Fußballer jubeln. Warum ich das sage? Nach einer Umfrage sehen sich 40 Prozent der Ostdeutschen als Ostdeutsche, nur 14 Prozent der Westdeutschen sehen sich als Westdeutsche. Was dieser Unterschied zu bedeuten hat? Ich weiß es nicht, vermute, dass es etwas mit dem Selbstbewusstsein zu tun haben könnte, das den Menschen aus dem Rheinland und dem Ruhrgebiet und aus Bayern usw. anhaftet, es hat nichts mit Arroganz zu tun oder einer Art von Überheblichkeit. Vielleicht drückt es auch nur aus, dass wir im Westen nach 1945 es besser hatten, freier leben, in alle Welt reisen und überhaupt offener reden und diskutieren konnten. Meinungsverbote gab es hier nicht, Pressefreiheit wurde und wird groß geschrieben. Damit will ich nichts gegen die Menschen jenseits der Elbe gesagt haben, schon gar nicht ihnen die Lebensleistung absprechen. Wir hatten die besseren Startchancen nach dem Krieg. Mit dem Marshallplan. Und noch eins: Wir mögen mehr Geld haben, mehr Eigenheime und Eigentumswohnungen, bessere Menschen sind wir damit noch lange nicht. Hört uns zu! Diese und ähnliche Fragen kamen bei mir auf, als ich mir gestern Abend in der ARD den Dokumentationsfilm von Jessy Wellmer anschaute: „Hört uns zu! Wir Ostdeutsche und der Westen“. Jessy Wellmer, das Gesicht der ARD. Man darf sagen, dass sie zu den Star-Journalisten des Fernsehens zählt, ohne dass ich sie damit mit irgendwelchen Allüren behängen möchte. Die Frau aus Güstrow hat eine natürliche Ausstrahlung, sie kommt rüber, ernst und besonnen, dann lächelnd, wenn es der Augenblick erfordert, selbstbewusst, verständlich redet sie. Ich habe sie bei der Sportschau gesehen und in politischen Sendungen. Einfach gut, gekonnt. Der Doku-Film gestern hätte länger ausfallen können, manches wirkte zu kurz abgeschnitten, weil man möglichst viel in den 45-Minuten-Streifen packen wollte. Warum man unbedingt im Anschluss „hart, aber fair“ bringen musste, hat sich mir nicht erschlossen. Darauf hätte man verzichten können, zumal die Zusammensetzung der Gäste-Liste auf dem Podium mindestens gewöhnungsbedürftig war. Wir kennen das Thema, der Osten fühlt sich abgehängt, die Bürgerinnen und Bürger drüben sehen sich als Menschen zweiter Klasse, sie werden schlechter bezahlt, bekommen eine niedrigere Rente als ihre Alters-Kollegen im Westen. Warum das 34 Jahre nach dem Fall der Mauer immer noch so ist, verstehe ich nicht, es ist auch ungerecht. Dass sie deshalb hin und wieder wütend sind auf die in Berlin oder überhaupt auf die drüben, also bei uns hier im Westen, ist nachvollziehbar. Der Facharbeiter beklagte diesen Tatbestand in der Sendung und begründete: Würde er die Schraube jetzt nur halbfest ziehen, könne er die Unterschiede verstehen, aber auch er ziehe die Schraube nun mal nach allen Regeln der Handwerkskunst fest. Es war kein Streifen der üblichen Jammerei, wenngleich das Wellmer-Team eine Menge an Meinung auftrieb, um die bestehenden Unterschiede zu dokumentieren. Man weiß es ja längst: Deutschland einig Vaterland, das mag ein Traum gewesen sein, damals 1989, als die Mauer nach 28 Jahren endlich fiel und die sowjetische Besatzungsmacht ihre Truppen und Panzer nach Hause holte. Dass diese lange Besatzungs-Zeit, 1945 bis 1989, nicht ohne Folgen bleiben würde, ahnte man, wie diese Folgen aussehen würden, wusste man nicht. Schul- und Studienzeit waren anders als bei uns, die Erziehung wohl auch, weil der Staat sich viel stärker einmischte, weil man eine Insel war, auch eine Art Gefängnis, aus dem man nur unter höchster Gefahr fliehen konnte. All das, das Stasi-System und anderes hat die Menschen beeinflusst, ich verzichte auf den Begriff: prägen. Einmarsch des Kapitalismus Dazu kam nach dem Mauerfall der „Einmarsch“ des Kapitalismus, die schnelle Mark, der Markt, der Zusammenbruch der Wirtschaft, der Verlust der Arbeit für viele, das Ende mancher Hoffnungen auf bessere Zeiten. Ob das die Klagelust und den Frust herbeigeführt hat- auch heute noch im Jahr 2023? Oder ist es das, was sie im Osten auch an uns kritisierten: die Besser-Wessis, wir zeigen und sagen Euch im Osten mal kurz und knapp, wie ihr gelebt habt und wie ihr es besser machen könntet? Wenn man den Fußball-Trainer Steffen Baumgart, heute tätig beim 1. FC Köln, früher Stürmer bei Hansa Rostock, in der Doku reden hörte, klang das so: „Ja, absolut“ empfinde er so etwas wie Ost-Stolz. Baumgart hat es ja geschafft, er hat es zu etwas gebracht, Trainer in der Bundesliga, beliebt, gefragt, erfolgreich, auch wenn die Kölner im Moment Richtung Tabellenende schauen. Aber Baumgart fügte recht schnell hinzu, damit man ihn nicht missverstehen würde, dass er nichts zurückhaben wolle, „gar nichts“. Und er habe eine schöne Kindheit gehabt. Wellmer, mindestens so erfolgreich wie der einstige Kicker und heutige Trainer, gab ihm eine kleine Steilvorlage: Solcher Stolz heiße dann wohl auch, sich nicht schämen zu müssen, wenn man aus der früheren DDR stamme? „Genau darum geht´s „, betonte Baumgart und er wolle nicht, „dass der Westen mir erklärt, wie ich früher gelebt habe“. Ich kenne diese Art des Gesprächs, wir, meine Frau und ich haben in unseren Berliner Jahren mit Menschen aus dem früheren Ostberlin-Hauptstadt der DDR-gelegentlich darüber gesprochen. Zunächst hielten sich die Ossis zurück, beäugten uns mit Misstrauen, dann betonten sie irgendwann, dass sie doch auch was geleistet hätten in ihrem Leben. Wir haben das nie bestritten. Und doch lagen solche Gedanken oft in der Luft, ihr im Westen, wir im Osten. Und dass sie es waren, die mit Kerzen die bewaffnete Volksarmee in die Knie gezwungen und die Mauer zum Einsturz gebracht hatten. Stimmt. Und es ist zu bedauern, dass sie keine größere Rolle in der Politik gespielt haben im vereinten Deutschland. Dass mit Angela Merkel eine aus ihren Reihen Kanzlerin wurde, die mit den Mächtigen der Welt an einem Tisch saß und denen die Meinung sagte, hat ihnen schon imponiert. Zumal die Kanzlerin ihre Bescheidenheit nie abgelegt hat. Ich habe vor Wochen das Buch von Dirk Oschmann gelesen „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“. Mir hat der Stil des Germanisten aus Jena gefallen. Geradeaus hat er die Kritik gegen den Westen formuliert, ohne Wenn und Aber uns unsere Fehler und Versäumnisse um die Ohren gehauen. Ein Diplomat ist Oschmann nicht, will er auch nicht sein. Er will, dass wir ihm zuhören. Ja, das Buch ist eine Art Wutbibel, so etwas wie eine Abrechnung. Aber warum nicht? Jessy Wellmer hat offensichtlich nicht so viel Spaß mit der Schrift von Oschmann gehabt, sie hätte es lieber anders gesehen, nicht „zurückgiften“, nicht „wie du mir, so ich dir“. Exakt das wollte und will Oschmann, ich habe verstanden, warum er so und nicht vermittelnder geschrieben hat. Wellmer warf ihm vor, eine Art Frontenbildung zwischen Ost und West zu betreiben, die einem demokratischen Miteinander entgegenstehe. Oschmann ließ sich nicht umstimmen oder erweichen. Sein Buch hat sich 100000mal verkauft. Ein Schlager. An anderer Stelle war Jessy Wellmer in Chemnitz, einst Karl-Marx-Stadt. Als ich kurz nach der Wende dort war, graute es mir beim Anblick dieser Stadt, die fast unmenschlich wirkte. Vieles hat sich geändert dort. Wellmer lässt Nina Kummer reden, die Sängerin der Band „Blond“, gegründet in Chemnitz 2011. Sie will erstmal in Chemnitz bleiben, weil dort noch vieles im Argen liege und: „Ich will hier ja nicht wegziehen und irgendwelchen Arschlöchern das Feld überlassen“. Gemeint den Nazis. Gewinner und Verlierer Die erwähnten Krisen im Land, Corona, Inflation, der Krieg, Migration sind ja nicht auf den Osten allein gemünzt, die treffen alle, wenn auch ungleich. Aber es mag sein, dass die Menschen im Osten diese Krisen anders empfinden, tiefer, weil man sich früher schon gekränkt fühlte als Ossi, zurückgesetzt gegenüber denen im Westen. Die alte Geschichte. Blühende Landschaften? Ja und Nein. Gewinner und Verlierer? Baumgart und Wellmer sind gewiss Gewinner, was man ihnen nicht vorhalten darf. Aber das Verlierer-Image haben viele, zu viele im Osten, die aber vergessen, dass es auf der anderen Seite von Deutschland nicht nur Gewinner gibt, sondern Obdachlose, Tafeln, das Problem, die Geflüchteten unterzubringen, sie zu versorgen, sie menschlich zu behandeln, am Ende zu integrieren. Und auch hier im Westen finden sich Vorurteile, dass man es denen aus fernen Ländern nur so reinstecke, während sie dafür bezahlen müssten. Der Westen bestimmt, der Osten sieht sich als Geschwür. Die im Osten müssten im Leben ein Jahr länger arbeiten als die aus dem Westen. Jammern auf hohem Niveau? Die da oben und die da unten? Was wir brauchen ist mehr Miteinander, ist der Respekt des einen vor der Leistung des anderen, ist das Narrativ unseres Lebens, das wir uns gegenseitig erzählen müssen, um uns wieder zu verstehen. Und was die immer stärker werdende AfD betrifft- in Umfragen liegt sie in Sachsen, Thüringen und Brandenburg klar vorn- hörte ich noch das Zitat: „Das wäre das Letzte, wenn diese Halbnazis an die Macht kämen.“ Am Schluß ein Wort von Steffen Baumgart: „Ich hoffe, dass wir was anpacken.“ Damit wir in der Debatte West-Ost-Ost-West vorankommen, wie Jessy Wellmer es ausdrückte: der Osten sei „Heimat, Hoffnung, aber auch eine Aufgabe- wir sollten sie annehmen.“
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